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Israel: Die politischen Aspekte einer Militäroperation

Israels Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant halten Sicherheitstreffen in Jerusalem ab
Israels Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant halten Sicherheitstreffen in Jerusalem ab (© Imago Images / UPI Photo)

Auch wenn Israels jüdische Gesellschaft das militärische Vorgehen gegen den Palästinensischen Islamischen Dschihad im Gazastreifen durchwegs guthieß, gibt es Bedenken, dass sich politische Erwägungen in die Entscheidungsprozesse eingeschlichen haben könnten.

Während Israels Premier Benjamin Netanjahu in den Wochen vor der vom 9. bis 13. Mai durchgeführten Militäroperation »Schild und Pfeil« auf denkbar schlechte Umfrageergebnisse blicken musste, schnitt er im Nachgang vor allem im Bereich Sicherheit deutlich besser ab. Und auch seine Likud-Partei ist wieder leicht im Aufwind, was die Frage aufkommen lässt, ob nicht bei den getroffenen militärischen Entscheidungen auch politische Erwägungen mitspielten.

Feuer ins Öl dieser Vermutung goss Israels Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir (Otzmah Yehudit), und zwar nicht nur hinsichtlich der Durchsetzung von radikalen Maßnahmen, die er als Reaktion auf Terroraktionen grundsätzlich stets einfordert, sondern auch, weil er Netanjahu bereits mehrfach unter Zugzwang gesetzt hatte

Nachdem der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) im Vorfeld der Militäroperation rund hundert Raketen gegen Israel abgefeuert hatte, rief Minister Ben-Gvir den Boykott von Knesset-Abstimmungen durch seine sechs Abgeordneten aus. Als Grund führte er die »schwache Reaktion« auf das Raketenfeuer an und plädierte lautstark für die Liquidation der dafür verantwortlichen Terroristen. Den Eindruck, dass Ben-Gvir in die wenig später ausgeführten tödlichen Angriffe auf drei PIJ-Kämpfer involviert war, bestärkte er dann selbst, insofern er Israels erster Politiker war, der die nächtlichen Einsätze in den höchsten Tönen lobte und meinte: »Das wurde auch Zeit!« Kurz darauf führte Ben-Gvir aus: »Diese Operation fand statt, nachdem ich über gezielte Hinrichtungen sprach. Wir [Otzmah Yehudit] sind an der Operation beteiligt.«

Meister der alternativen Fakten

Schon seit Monaten bescheinigen Israels Medien dem Minister für nationale Sicherheit, nicht im Amt angekommen zu sein. So drischt er weiterhin Wahlkampfparolen, richtet in seinem Ressort Schaden an und wird nur bei der Aussicht auf mehr Macht aktiv. Da er keine Erfahrung in Uniform hat – wegen seiner radikalen Gesinnung lehnte die Armee es ab, ihn zum Wehrdienst einzuziehen –, stöhnen Sicherheitsexperten über seine profunden Unkenntnisse in Angelegenheiten, die in sein Ressort fallen.

Während Ben-Gvir seinen Anteil an der Militäroperation behauptete, sickerte durch, dass Premier Netanjahu in Wahrheit die Liquidationen vor Ben-Gvir geheim gehalten hatte, weil er durch dessen populistische Plappereien den Überraschungseffekt gefährdet sah. Ben-Gvirs Behauptung, er habe die Liquidationen ins Rollen gebracht, darf man getrost als »alternatives Faktum« bezeichnen, das er in die Welt setzte, um Pluspunkte bei seiner Wählerbasis zu sammeln.

Doch selbst Wähler seiner Partei gehen bei so viel Großspurigkeit ohne handfeste Ergebnisse auf Abstand. Bei seinem Besuch in der raketengeplagten und als Likud-Hochburg geltenden Stadt Sderot, in der Ben-Gvirs Parteibei der letzten Wahl 25 Prozent der Stimmen einheimsen konnte, hatte er bereits Anfang Mai nichts als blanken Grollder Einwohner für seine miserable Amtserfüllung geerntet.

Kaltgestellt 

Mehr noch: Als Ben-Gvir die Rückkehr zu Liquidationen forderte, war die Entscheidung darüber längst gefallen, und als er seinen Abstimmungsboykott ausrief, liefen die Vorbereitungen dafür schon auf Hochtouren. Ben-Gvir, der noch nicht einmal ahnte, dass die Entscheidung ohne sein Wissen getroffen worden war, musste zudem eine harsche Abmahnung des Likud einstecken: »Der Premierminister ist derjenige, der entscheidet, wer ein relevanter Teilnehmer an den [sicherheitspolitischen] Diskussionen ist.« Wenn inakzeptabel sei, wie Netanjahu die Regierung führt, so hieß es, müsse Ben-Gvir ja nicht an Bord der Regierungskoalition bleiben.

Der militante Politiker wurde also nicht nur bei Fragen ausgegrenzt, welche die militärische Operationen jenseits der israelischen Landesgrenzen angehen, die schließlich auch nicht in sein Ressort fallen. Als Minister für nationale Sicherheit wurde er zudem in Sachen Jerusalem-Tag auf Distanz gehalten. Dass die professionellen Ränge in den Sicherheitskräften und nicht der Minister in allen Arrangements rund um den Tag den Ton vorgaben, deutet darauf hin, dass etliche Entscheidungsträger Ben-Gvirs nassforsche Pirouetten nicht mehr sang- und klanglos hinnehmen.

Ben-Gvir ist allerdings weiterhin auf Krawall gebürstet. So rief er erneut einen Boykott aus, um die nicht ausgeschütteten Gelder des Negev- und Galiläa-Ministeriums einzufordern, das seiner Partei untersteht. Damit sicherte er sich die Unterstützung vieler Leiter der Regional- und Stadtverwaltungen dieser wirtschaftlich geschwächten Regionen, die eigentlich großteils eingeschworene Likudniks sind.

Politische Unausgewogenheit

Sowohl Planung als auch Vorgehensweise der Militäroperation wurden nicht nur geheim gehalten, die ausschlaggebenden Entscheidungen fielen auch nur in kleinstem Kreis. Neben Premier Netanjahu waren die Likud-Minister Yoav Galant (Verteidigung), Ron Dermer (Strategische Angelegenheiten) und Yariv Levin (Justizwesen) sowie Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten, Finanzen und Teilzuständigkeiten im Verteidigungsministerium) involviert. 

Genauso wie bei der Militäroperation im Sommer 2022 bestätigte Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, dass das Sicherheitskabinett nicht einberufen werden müsse. Doch die Israelis nahmen wachsam wahr, dass dieses Mal ein ideologisch sich von früheren unterscheidendes und vor allem parteipolitisch sehr einheitliches Forum die kritischen Initialentscheidungen traf.

Das halten nicht wenige Israelis für genauso bedenklich wie die Tatsache, dass das nachfolgend in die Beratungen einbezogene Sicherheitskabinett parteipolitisch ähnlich konform konzipiert ist, obschon hier Generalstab und Inlandsgeheimdienst Shabak professionelle Aspekte einbringen. Die Bedenken wuchsen, als sich Rechtsaußen-Ideologe Smotrich darüber ausließ, dass Israel keine Wahl habe und den Gazastreifen wieder würde besetzen müssen. Obwohl er anfügte, dies sei zurzeit nicht relevant, horchten viele im Land skeptisch auf.

Juristische Rückendeckung

Andererseits stelle es eine Beruhigung dar, dass mit Baharav-Miara eine Generalstaatsanwältin die juristischen Grenzen in Bezug auf die gezielten Liquidationen abstecke, die zum einen als professionell integer gilt und zum anderen eine von der Politik und den Politikern unabhängige juristische Instanz repräsentiert. Nicht nur sie saß im »Bor«, dem Sicherheitsbunker des Verteidigungsministeriums, um die geplanten Liquidationen vorab juristisch zu evaluieren. Selbst wenn sie grünes Licht gab, wurde jede ihrer Entscheidungen nochmals von der militärischen Justiz überprüft.

Damit das genauso bleibt, wurden in Israel auch während der laufenden Kampfhandlungen die Demonstrationen gegen die geplanten Veränderungen im Justizwesen fortgesetzt, was in Situationen, in denen die Waffen sprechen, für Israel eigentlich hochgradig ungewöhnlich ist. Obwohl die Protestorganisatoren Versammlungen wegen möglicher Raketenangriffe absagten, fanden sich Tausende Israelis wie üblich zu Protesten in mehreren Städten ein. Die Militäroperation war für sie ein weiterer und zudem handfester Beweis, wie wichtig eine unabhängige Justiz ist.

Der Tag danach

Vor der Militäroperation lag Benny Gantz (National Unity) mit 41 Prozent Unterstützung vor Netanjahu, der in den Umfragen nur auf 31 Prozent kam. Nach der Feuerpause hatte Netanjahu seinen Rivalen mit 38 zu 37 Prozent wieder eingeholt. Auch der Likud machte Mandate gut, doch die Parteien der Regierungskoalition kommen dennoch nach wie vor nur auf etwas über 50 Mandate anstatt der auf die bei den Wahlen errungenen 64 Sitze.

Dass Netanjahu die Militäroperation recht gelegen kam, um Pluspunkte als »Mr. Security« zu sammeln, glaubt rund ein Drittel der befragten Israelis, fast 50 Prozent kaufen ihm nicht ab, das Abschreckungsgleichgewicht zugunsten Israels verändert zu haben.

Auch der erste Knesset-Sitzungstag nach der Feuerpause zeigte, dass Netanjahus Vorteile schneller schwanden, als sie verbucht waren, wobei er es nicht nur mit Ben-Gvirs erneutem Boykott zu tun hatte. Obwohl die beiden ultraorthodoxen Koalitionspartner aus den Koalitionsverträgen eine in Israels Geschichte präzedenzlose Summe von 3,7 Milliarden Euro für ihr Klientel herausholten, forderten sie überdies auch noch retroaktive Zahlungen ein, und einer der ultraorthodoxen Partner drohte darüber hinaus, es Ben-Gvir gleichzutun und im Parlament nicht mehr an der Seite des Likud zu stehen.

Die angedrohten Boykotte konnte Netanjahu in letzter Minute noch aus der Welt schaffen. Das musste er auch, steht doch der Stichtag zur Verabschiedung des Staatshaushaltes an, deren Scheitern automatisch zur Ausrufung von Neuwahlen führen würde. Netanjahu löste das Problem auf die übliche Weise, was heißt: es wird Geld fließen. Damit dürfte er zwar diese Runde an der parlamentarischen Front überleben, doch Experten sagen einen aus den Geldflüssen resultierenden weiteren schweren Schaden für Israels Wirtschaft voraus – ganz abgesehen davon, dass vielen Israelis diese Vorgänge mittlerweile wie ein »Ausverkauf ihres Israels« vorkommt.

Nicht weniger als zwei Drittel aller israelischen Bürger sind diesbezüglich aufgebracht, womit sich die Proteste auf den Straßen zukünftig nicht mehr ausschließlich um die Ablehnung der Justizreform drehen und vielleicht sogar noch mehr Menschen anziehen könnten als bisher. Die Operation »Schild und Pfeil« mag dem Palästinensischen Islamischen Dschihad schwer zugesetzt haben, doch wegen des fehlenden Weitblicks könnten Premier Netanjahus wenige in Sachen Sicherheit eingeheimste Pluspunkte schnell wieder verbraucht sein.

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