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Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen (Teil 1)

Der Autor Tuvia Tenenbom lebte ein Jahr im streng orthodoxen Viertel Mea Schearim in Jerusalem
Der Autor Tuvia Tenenbom lebte ein Jahr im streng orthodoxen Viertel Mea Schearim in Jerusalem (Foto: Isi Tenenbom)

Stefan Frank sprach mit Tuvia Tenenbom über den (Anti-)Zionismus der streng orthodoxen Juden in Israel und deren Reaktionen auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober.

Mea Schearim ist ein Jerusalemer Viertel, das fast ausschließlich von streng orthodoxen Juden, den Haredim – den (Gott) »Fürchtenden« – bewohnt wird. Hier ist der aus einer Haredi-Familie stammende Schriftsteller und Dramaturg Tuvia Tenenbom aufgewachsen und war Schüler einer Jeschiwa, wo ihm eine Zukunft als einer der ganz großen Rabbis prophezeit wurde.

Als junger Mann wanderte Tenenbom nach New York aus. Gemeinsam mit seiner Frau Isi verbrachte er nun wieder ein Jahr in Mea Schearim. In seinem aktuellen Buch Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen , das gerade auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste steht, erzählt er von den Menschen, die er dort kennengelernt hat. Stefan Frank sprach mit Tuvia Tenenbom.

Mena-Watch (MW): Wie hat die Haredi-Gemeinschaft auf die Massaker, Gräueltaten und Entführungen vom 7. Oktober reagiert?

Tuvia Tenenbom (TT): Zu dieser Zeit waren wir in Mea Shearim, weil wir dort die Sukkot-Feiertage verbrachten. Am frühen Morgen von Simchat Tora hörten wir die Sirenen und alle gingen hinaus. Wir sahen die Raketen und den Iron Dome. Ich ging in mein Zimmer und sah nach, was passiert war. Ich habe die Videos gesehen, die ganze Geschichte. Ich schaltete Al-Jazeera Arabic und den Hamas-Kanal ein. Ich ging hinaus und erklärte ihnen, was ich gesehen hatte.

Die erste Reaktion war: Sie, also die Hamas, tut uns das an, was die Nazis unseren Großeltern und Eltern angetan haben. In Warschau, in Rumänien, in all diesen Orten in Europa. Das war also die erste Reaktion. Und dann sagten sie: »Wir sind alle Jidden«, »wir sind alle Juden«. Es spielt keine Rolle, ob die Menschen, die entführt oder getötet wurden, religiös waren oder nicht, ob Zionisten oder nicht. Wir sind alle Juden.

Als der Feiertag vorbei war und Haredim wieder elektronische Geräte benutzen durften, gingen sie mit Lautsprechern auf die Straße: »Avinu shebashamayim rachem oleini«, »Vater unser im Himmel, sei uns gnädig!« Und sie riefen die Menschen in die Synagogen und beteten für die getöteten, verletzten und entführten Menschen. Es herrschte Einheit. Das war sehr interessant zu sehen. Sie umarmten alle und fühlten den Schmerz von allen. Sie sehen alle als ihre Brüder und Schwestern an. »Wir sind alle Juden.«

MW: Für jemanden, der wenig oder gar nichts über das Haredi-Judentum weiß: Welche Grundlagen sind es, die jeder kennen sollte?

TT: In Gott spricht Jiddisch können Sie die Geschichten dieser Menschen lesen. Es ist eine sehr einladende Gemeinschaft, sehr warmherzig, sehr geeint. Sie nehmen sogar Leute wie uns auf, meine Frau Isi und mich. Ich bin nicht religiös. Das wussten sie. Früher war ich es, aber jetzt bin ich es nicht mehr. Trotzdem haben sie uns aufgenommen. Sie haben mich aufgenommen. Sie luden uns zu den Freitags-Abendessen ein, zu den Schabbatmorgen-Mittagessen. Sie kamen zu Besuch. Wir besuchten sie. Es war erstaunlich. Du gehst auf die Straße und jeder grüßt dich: »Wie geht’s, Rabbi Tuvia?« – so nannten sie mich –, »Was machst du, Rabbi Tuvia? Wir sind froh, dass du hier bist. Danke, dass du bei uns bist.«

Es ist also ganz anders als das, was die Leute über diese Gemeinschaft denken. Ein deutscher Tourist erzählte mir, dass er, bevor er nach Israel kam, in einem deutschen Reiseführer gelesen habe: »Wenn Sie in die Nähe von Mea Shearim kommen, gehen Sie nicht hinein. Das sind aggressive, gewalttätige Leute.« Als jemand, der über ein Jahr lang dort war, kann ich Ihnen sagen: Sie waren erstaunlich gastfreundlich. Erstaunlich nett. Nicht nur zueinander, sondern auch zu uns.

MW: Sie sprechen die meiste Zeit Jiddisch?

TT: Ihr Jiddisch ist ganz anders als das Jiddisch aus dem Radio oder dem Theater. Das ist galizisches Jiddisch. Ihr Jiddisch ist eine so lustige Sprache. So voller Humor. Alles ist ein Witz. Mehr als ein Jahr lang habe ich die meiste Zeit über gelacht, von morgens bis abends.

MW: Wie unterscheidet sich das von dem Leben, das Sie kannten?

TT: Ich lebe zum Teil in Manhattan, in der Upper East Side, und zum Teil in Hamburg, und in beiden Fällen bin ich von einer liberalen Gesellschaft umgeben – »progressiv«. Du darfst nichts sagen, womit sie nicht einverstanden sind. Man muss sagen, was sie sagen. Man darf eine Person nicht anfassen, wenn man nicht darum gebeten wird. Man darf eine Frau nicht vom Kinn abwärts ansehen, sonst gilt man als potenzieller Vergewaltiger. Du darfst einer Frau nicht sagen, dass sie heute schön aussieht. Du darfst gar nichts tun. Man muss ihre Denkweise teilen, und das ist diktatorisch.

Aber dann kommt man nach Mea Shearim, wo angeblich mehr verboten ist, aber in Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Ich fühlte mich frei. Ich kam aus der liberalen, fortschrittlichen Welt in die – laut Medien – restriktivste Gesellschaft und fühlte mich frei. Wie ein Fisch im Wasser. Es war eine erstaunliche Erfahrung.

MW: Gab es keine einzige Situation, in der Sie versehentlich eine Grenze überschritten, eine Regel gebrochen haben und jemand Sie zurechtgewiesen hat? Zum Beispiel Rauchen am Schabbat oder das Tragen einer Tasche am Schabbat?

TT): Zunächst einmal ist es erlaubt, am Schabbat eine Tasche zu tragen. Es gibt einige Einschränkungen am Schabbat, zum Beispiel das Rauchen, also habe ich nicht auf der Straße geraucht, sondern drinnen.

Eines Tages vergaß ich jedoch, mein iPhone zu Hause zu lassen, und das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt: Es war Jom Kippur. Ich ging auf der Straße und hatte mein iPhone in meiner Hemdtasche, für jeden gut sichtbar. Die Person, die mich begleitete, flüsterte: »Tuvia, du hast dein Telefon bei dir.« Die Leute sahen mich an, aber niemand sagte etwas. Die Leute dort kannten mich. Sie überraschten mich: Sie hatten meine Bücher gelesen und konnten Passagen Wort für Wort zitieren. Sie wussten also, wer ich bin, dass ich nicht religiös bin und auch nicht-koscheres Essen esse. Trotzdem haben sie mich willkommen geheißen.

MW: War es für Sie einfacher, Zugang zu ihnen zu finden, weil Sie Jude sind und Jiddisch sprechen?

TT: Natürlich war es ein großer Vorteil, Jiddisch zu sprechen. Irgendwann habe ich sie gefragt: Wie kommt es, dass ihr mich so herzlich willkommen heißt? Und sie sagten: Wenn du mit uns Jiddisch sprichst, dann sprichst nicht du mit uns, sondern dein Opa mit unseren Großeltern. Aber es ist überall dasselbe. Wenn Sie wissen wollen, was die Palästinenser denken, sprechen Sie besser Arabisch, nicht Englisch. Wenn du Arabisch sprichst, heißen sie dich viel mehr willkommen und sagen dir die Wahrheit. Wenn du in Wien bist und Hochdeutsch mit Hamburger Akzent sprichst, werden die Leute wahrscheinlich nicht so schnell mit dir Kontakt aufnehmen. Wenn du hingegen mit Wiener Akzent sprichst, werden sie dich als einen Bruder ansehen.

Ich habe einen Rebbe aus einer der antizionistischsten Gruppen in Mea Shearim gefragt, was er tun würde, käme ein säkularer Jude, ein Zionist, in seine shul, seine Synagoge. Er sagte: »Wenn er kommt, um mich zu bekämpfen, was kann ich dann tun? Aber wenn er mich nicht bekämpfen will, was macht das für einen Unterschied? Wir sind doch alle Juden.« Und was passiert an anderen Orten? Wenn Sie zum Beispiel mit einer israelischen Flagge in die Upper East Side in Manhattan gehen, werden die meisten Leute wahrscheinlich nicht mit Ihnen reden. Man wird als Feind angesehen, selbst in der liberalsten und fortschrittlichsten Gegend. Wenn Sie eine israelische Flagge tragen, verlieren Sie Ihre Freunde, falls Sie welche hatten.

Wenn du nach Mea Shearim kommst und die Leute als dumm bezeichnest, werden sie dich natürlich nicht herzlich begrüßen. Sie sind nicht blöd. Aber sie sind nicht aggressiv, nicht gewalttätig. Zumindest nicht im Allgemeinen. Es gibt vielleicht genauso viele gewalttätige Menschen wie dort, wo Sie leben. Nebenbei bemerkt: Überall in Mea Shearim werden Sie arabische Arbeiter sehen, mehr als an anderen Orten.

MW: Was ist mit dem Zeigen der israelischen Flagge in Mea Shearim? Ginge ich mit einem »I Love Israel«-T-Shirt dorthin, wäre das ein Problem?

TT: Nach dem 7. Oktober habe ich dort Leute mit der israelischen Flagge gesehen. Einige haben sie an ihren Autos angebracht, und das war in Ordnung. Ich habe keine Schwierigkeiten beobachtet.

MW: Gelegentlich wird berichtet, dass die palästinensische Flagge in Mea Shearim weithin gezeigt wird …

TT: Nein, nein, nein. Es gibt eine Straße in Mea Shearim, einen kleinen Abschnitt einer Straße, wo man diese Flaggen sieht. Dort gibt es eine Synagoge, in der Idioten eine palästinensische Flagge hissen. Im Grunde sind es drei Häuser. Zu sagen, dass es dort »weit verbreitet« ist, ist eine Lüge. Wenn jemand eine palästinensische Flagge auf die Straße malt, kommt normalerweise in der nächsten Woche jemand aus der Gemeinschaft und übermalt sie.

MW: Was hat es mit dem ganzen Antizionismus unter den Haredim auf sich? Beschränkt er sich auf die Splittergruppe der Neturei Karta?

TT: Es ist kompliziert. Viele von denen, die sich als Antizionisten bezeichnen, sind dieselben, die sagen, dass Israel die West Bank, oder Judäa und Samaria, wie sie es nennen, niemals verlassen soll. Wenn man kein Zionist ist, warum sollte man dann wollen, dass Israel die West Bank behält (lacht)? So ist Jiddisch: Wenn man auf Jiddisch etwas sagt, ist es nicht immer ernst gemeint. Der Antizionismus ist ein Überbleibsel aus den Anfängen des Zionismus. Der Erfinder des modernen Hebräisch, Eliezer Ben-Yehuda, wollte die Haredi-Juden ärgern, also nahm er seinen kleinen Hund, legte ihm einen kleinen Tallit, einen kleinen Gebetsschal, und einen kleinen Tefilim auf den Kopf und ging im Haredi-Viertel spazieren.

Der »Kampf« zwischen Zionisten und Haredim ist ein Überbleibsel der großen Kämpfe vor siebzig oder achtzig Jahren. Das ist nicht real. Man sieht das gut in Kriegszeiten. Viele Haredim hören mit allem auf, was sie tun. Sie kochen, machen Gefilte Fisch und Challah und was weiß ich noch alles und fahren den ganzen Weg in den Süden oder Norden, um den Soldaten Essen zu bringen. Ich nenne diese Leute nicht Antizionisten, auch wenn sie sich selbst als Antizionisten bezeichnen.

Ich habe einmal einen der größten antizionistischen Rebbes geneckt und gesagt: »Du nennst dich selbst Antizionist, aber in Wirklichkeit bist du der größte Zionist, den ich je irgendwo auf der Welt getroffen habe.« Und der Rebbe sagte zu mir: »Weißt du was, du hast Recht« (lacht).

MW: Ist es nicht ein Widerspruch in sich, als Jude im Staat Israel zu leben und sich als Antizionist zu bezeichnen?

TT: Ja, natürlich.

MW: Sie haben Haredi-Juden in Williamsburg und in England getroffen. Sind sie anders als jene in Mea Shearim?

Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen (Teil 1)

TT: Die Haredim in Israel sind ganz anders als die Haredim in New York, London oder Antwerpen. Letztere sind eher Geschäftsleute. In Israel sind sie viel spiritueller, viel stärker gläubig, naiver, man könnte sagen: unschuldiger als ihre Brüder im Ausland. Sie können Williamsburg nicht mit Mea Shearim vergleichen. Die Haredim sehen vielleicht gleich aus. Sie halten vielleicht denselben Schabbat. Aber der Mann aus Williamsburg wird am Schabbat über Geschäfte und Football reden, während der Mann aus Mea Shearim nicht einmal weiß, wie diese Dinge aussehen (lacht).

Das ist ein riesiger Unterschied, weshalb Gott spricht Jiddisch nur über die Haredim in Israel berichtet. Sie sind tatsächlich lustiger, haben einen größeren Sinn für Humor und mehr Freude an der Einhaltung der Mitzvoth, der Gebote, als ich es in den USA oder in Europa je erlebt habe.

Teil 2 des Interviews finden Sie hier.

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