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Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen (Teil 2)

Der Autor Tuvia Tenenbom lebte ein Jahr im streng orthodoxen Viertel Mea Schearim in Jerusalem
Der Autor Tuvia Tenenbom lebte ein Jahr im streng orthodoxen Viertel Mea Schearim in Jerusalem (Foto: Isi Tenenbom)

Stefan Frank sprach mit Tuvia Tenenbom über die Vorurteile, die gegenüber streng orthodoxen Juden herrschen und darüber, dass Konvertiten, wie so oft, die Hundertzwanzigprozentigen sind.

Mea Schearim ist ein Jerusalemer Viertel, das fast ausschließlich von streng orthodoxen Juden, den Haredim – den (Gott) »Fürchtenden« – bewohnt wird. Hier ist der aus einer Haredi-Familie stammende Schriftsteller und Dramaturg Tuvia Tenenbom aufgewachsen und war Schüler einer Jeschiwa, wo ihm eine Zukunft als einer der ganz großen Rabbis prophezeit wurde.

Als junger Mann wanderte Tenenbom nach New York aus. Gemeinsam mit seiner Frau Isi verbrachte er nun wieder ein Jahr in Mea Schearim. In seinem aktuellen Buch Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen , das gerade auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste steht, erzählt er von den Menschen, die er dort kennengelernt hat. Stefan Frank sprach mit Tuvia Tenenbom.

Mena-Watch (MW): Es gibt die Meinung, dass Haredim in Israel nicht arbeiten, nur von Sozialhilfe leben und die Tora studieren. Ist da etwas dran?

Tuvia Tenenbom (TT): Wenn jemand in den USA sagt, dass die Menschen in Harlem Sozialfälle sind, die nur Geld nehmen anstatt zu arbeiten, würde er als Rassist betrachtet werden, selbst wenn es eine Statistik gäbe, die diese Behauptung untermauern würde, was ich nicht weiß. Aber in Israel kann man eine ganze Gemeinschaft beschuldigen und es ist in Ordnung.

Ja, einige Männer sind so beschäftigt – ich würde nicht sagen, dass sie studieren –, dass sie von einer religiösen Verpflichtung zur anderen eilen, vom Rebbe zum tish, zur shul, zu einer Bar Mitzvah, zu einer Beschneidung, zu einer Beerdigung, all diese Dinge. Sie sind sehr beschäftigt damit. Dennoch kann ich Ihnen sagen, dass die Zahl derer, die nur herumsitzen und gar nichts tun, ziemlich klein ist. Achtzig Prozent der Haredi-Frauen sind erwerbstätig, etwa fünfzig Prozent der Männer. Während es bei den Männern also weniger sind als der Durchschnitt der Bevölkerung, sind es bei den Frauen mehr als der Durchschnitt. Das gleicht sich in etwa aus.

MW: Haben Haredi-Juden Austausch mit, sagen wir, normalen Juden?

TT:Meistens leben sie in ihren eigenen Vierteln wie in Mea Shearim. In dieser Hinsicht sind sie ein wenig zurückgezogen. Aber viele von ihnen arbeiten und benutzen zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel, wo sie sich unter die anderen mischen, und das ist nur ein Beispiel. In Jerusalem, das eine internationale Stadt ist, kann man sehen, dass die Haredim viel offener gegenüber säkularen Menschen sind als in Bnei Brak, das eine Stadt für sich ist. Weltliche Menschen und Nichtjuden kommen nach Jerusalem, nicht nach Bnei Brak. In Bnei Brak gibt es keine Touristen, daher haben die Leute dort viel weniger Verbindungen zur weltlichen Gesellschaft.

MW: Gibt es Freizeitaktivitäten, denen Haredim nachgehen?

TT: Sie haben ihre eigene Unterhaltung. Sie gehen zum Beispiel zu einem tish. Statt Spielern zuzusehen, wie sie sich gegenseitig den Ball zuspielen und versuchen, ihn zu fangen, sehen sie dem Rabbiner beim Essen von Gefilte Fisch zu. Es sieht genauso aus. Eine Menge Zuschauer steht auf den Tribünen und schreit: Oy, oy, oy, oy, oy! Es gibt keinen Ball in der Mitte, nur einen Rebbe. Wie man sieht, haben sie ihr Vergnügen, obwohl sie sich nicht für Fußball interessieren. Ein Rebbe hat es mir neulich erklärt, er sagte: »Einmal habe ich ein Fußballspiel gesehen. Menschen und ein Ball. Die Leute kämpften um den Ball und verletzten sich dabei manchmal gegenseitig. Sie brachten sich fast gegenseitig um. Aber wenn einer von ihnen den Ball hat, was macht er dann damit? Er wirft ihn weg. Das macht keinen Sinn. Du hast so hart um ihn gekämpft, warum wirfst du ihn weg?« Es ist also anders, aber sie haben ihre eigenen Unterhaltungen. Und nebenbei bemerkt: Wenn du säkular bist und zuschauen willst, bist du jederzeit willkommen.

MW: Der Rabbi isst und die anderen schauen zu?

TT: Es gibt ein riesiges Tablett mit Hunderten von Gefilte-Fisch-Scheiben. Der Rebbe nimmt eine davon und steckt sie in seinen Mund. In dem Moment, in dem er die Scheibe vom Tablett nimmt, wird das ganze Tablett heilig und Tausende von Menschen wollen ein kleines Stück davon abbekommen. »Jetzt bin ich mit dem Rebbe verbunden«, denken sie, sobald sie einen Bissen von dem heiligen Fisch bekommen. Wenn man jemanden sieht, der eine Berühmtheit ist, möchte man diese Berühmtheit berühren. Für den Chassiden ist die Berühmtheit der Rebbe.

MW: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass für einige Haredi-Juden der Rebbe offenbar heiliger und wichtiger ist als Gott. David Ben-Gurion hat, glaube ich, einmal gesagt, die Haredim würden nie in der Bibel lesen. Ist das ein modernes Heidentum?

TT: Ich würde es nicht als Heidentum bezeichnen, sondern als einen menschlichen Fehler. Ich habe sie dafür kritisiert, was sie mit ihren Rebbes machen. Aber für sie ist der Rebbe das Bindeglied zu Gott. Jesus, der natürlich ein Jude war, sagte: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« Die Rebbes, auch Juden, sagen ähnliche Dinge. Das ist vielleicht in der jüdischen Kultur verankert. Meiner Meinung nach ist es völlig falsch, an den Rebbe zu glauben. Aber es ist eine menschliche Schwäche, und ich verstehe sie – dass sie sich an jemanden halten, der einen führt.

Haredi-Juden sind nicht die einzigen mit dieser Schwäche. Es gibt Hunderttausende von chassidischen Menschen, die dem Rebbe folgen, aber gleichzeitig gibt es Hunderttausende, die dieser Idiotin namens Greta Thunberg folgen. Sie ist ihr Gott. Sie ist ihre größte Expertin. Sie ist ihre größte Wissensquelle, obwohl sie nichts über Wissenschaft weiß, keinen Abschluss in Klimawandel und keinen Abschluss in irgendeinem relevanten Bereich hat. Und doch wird sie verehrt. Eines Tages war sie in London, und es waren Hunderttausende von Menschen da. Man konnte nirgendwo laufen, weil GRETA kam. GRETA. Alle wollten GRETA sehen. Hunderttausende von Menschen wollten etwas von GRETA abbekommen. Es ist dasselbe mit den Chassidim und ihrem Rebbe. Wenigstens weiß der Rebbe etwas. Sind die Chassidim normaler als andere Menschen? Nein. Wir sind alle ein bisschen meschugge.

MW: Gibt es eine Möglichkeit, aus dem Haredi-Judentum auszusteigen, wenn man seine Meinung ändert und denkt, das ist nicht mehr mein Ding?

TT: Ich bin das perfekte Beispiel.

MW: Bedeutet das, sich von seiner Familie zu trennen?

TT: Ich habe nicht mit meiner Familie gebrochen. Ich habe die ganze Zeit über Kontakt zu ihr gehabt.

MW: Wie sieht es mit der Situation der Haredi-Frauen aus? Viele Leute glauben, dass sie alle depressiv sind.

TT: Es gibt keine öffentliche Vermischung von Männern und Frauen. Männer und Frauen beten jeweils unter sich. Fast alle sind verheiratet, und in den Familien mischen sie sich natürlich. Was die Depression betrifft: Ich persönlich habe die Frauen dort nicht als depressiver erlebt als die in New York oder Hamburg. Um ehrlich zu sein, habe ich das Gegenteil erlebt. Die Haredim sind ein viel glücklicheres Volk.

MW: Die Haredi-Gemeinschaft hat einen großen Teil ihrer Mitglieder im Holocaust verloren. Ist die Art und Weise, wie sie mit diesem Verlust, der Trauer und dem Schmerz umgeht, anders als die der zionistischen Gesellschaft?

TT: Ja, es ist anders, weil sie gläubig sind und glauben, dass eines Tages der Messias kommen wird. Und wenn der Messias nach Jerusalem kommt, wird er die Toten wieder auferstehen lassen. Für sie ist das also ein Unterschied. Sie glauben, dass sie eines Tages ihren Opa und ihre Oma auf der Straße wiedersehen werden.

MW: Welche sind die häufigsten Fragen, die Ihnen die Menschen bei Ihren Lesungen in Deutschland und Österreich stellen?

TT: Im Grunde sind es dieselben Fragen, die Sie stellen. Und sie kommen aus derselben Quelle: sehr schlechte Presse. Aber die Realität ist anders. Die Medien erzählen eine sehr einseitige Geschichte gegen die Gemeinschaft. Wenn Journalisten nach Mea Shearim oder an einen anderen Ort der Haredim kommen, bleiben sie dort nicht länger als zwei Stunden. Sie leben nicht dort, kennen die Gemeinschaft nicht. Das ist Antisemitismus: Sie kennen die Leute nicht, sind aber trotzdem gegen sie. Es ist dasselbe wie mit den Hunderttausenden von Menschen, die in London oder New York in diesen Tagen From the river to the sea, Palestine will be free! schreien. Sie haben keine Ahnung, über welchen Fluss sie brüllen, sie wissen nicht, welches Meer. Sie haben keine Ahnung. Genauso sind die Leute hier gegen Haredi-Juden, ohne etwas über sie zu wissen.

MW: Gibt es Mischehen zwischen sephardischen und aschkenasischen Haredim?

TT: Sehr wenige.

MW: Warum ist das so?

TT: Ich vermute, weil sie stammesgebunden sind. Sie folgen auch verschiedenen Rabbinern. Dann gibt es noch die jiddische Sprache und die Bräuche, die sich voneinander unterscheiden. In den sogenannten freien Gesellschaften Europas kommen Rechte und Linke im Allgemeinen nicht miteinander aus, geschweige denn, dass sie heiraten. Ähnlicher Fall hier …

MW: Steht das nicht im Widerspruch zu dem, was Sie vorhin sagten, dass alle Juden eine große Familie sind?

TT: Wir sind alle Juden, aber wir müssen nicht im selben Bett liegen.

MW: Was war Ihre größte Überraschung, als Sie anfingen, in der Haredi-Gemeinschaft zu leben? Hatten Sie auch irgendwelche falschen Vorstellungen oder Vorurteile?

TT: Ich hatte dieselben Vorurteile wie alle anderen auch. Ich dachte, sie wären aggressiv oder sogar gewalttätig. Wissen Sie, ich war ein sehr junger Mann, als ich die Haredi-Welt verließ. Und als junger Mann wusste ich nicht viel über sie. Und von da an wurde ich von denselben Medien gefüttert wie Sie und alle anderen. Als ich dann mit ihnen zusammenlebte, war ich erstaunt, dass sie überhaupt nicht so aggressiv waren, wie ich es erwartet hatte.

MW: Ich weiß mit Sicherheit, dass einige von ihnen Müllcontainer in Brand gesetzt haben. Das steht in Ihrem Buch.

TT: Ja, und wie ich in dem Buch auch geschrieben habe, bin ich lange genug dabei gewesen, um zu erfahren, dass diejenigen, die solche Dinge tun, meist Menschen sind, die neu zur Religion gekommen sind. Viele von denen waren früher kriminell, bevor sie sich der Religion zuwandten. Offensichtlich behalten sie ihre alten Einstellungen bei, das heißt Gewalt. Sie sind diejenigen, die die meiste Gewalt ausüben, nicht die normalen Bewohner des Viertels. Ich habe einige Zeit gebraucht, um das zu erkennen.

MW: Die gewalttätigen Menschen sind also nicht in Haredi-Familien aufgewachsen?

TT: Nein. Fast alle von ihnen sind Neueinsteiger in die Religion.

MW: Das überrascht mich. Ich dachte, wenn man zu einer Religion konvertiert, versucht man, sich anzupassen, sich an die Regeln und Bräuche zu halten und kein Aufsehen zu erregen.

TT: Denken Sie an Konvertiten zum Christentum, die viel christlicher sind und stärker an Jesus glauben als diejenigen, die in den Glauben hineingeboren wurden. Wenn Ihr Vater ein Atheist ist und Sie Christ werden, werden Sie extremer. Das ist ganz normal.

MW: Und doch höre ich nicht viel von christlichen Konvertiten, die sich mit der Polizei prügeln oder Autos abfackeln, wie es einige Haredi-»Neuankömmlinge« tun. Warum tun sie das überhaupt?

TT: Noch einmal: Sie waren vorher Kriminelle. Sie verließen die kriminelle Welt und wurden religiös, aber das kriminelle Verhalten ist immer noch in ihnen. Die christlichen Konvertiten hingegen leben normalerweise nicht in geschlossenen Vierteln. Wäre das der Fall, wären sie vielleicht auch gewalttätig. Studieren Sie die christliche Geschichte.

MW: Rechtfertigen jene Leute ihr Verhalten mit der Religion?

TT: Sie rechtfertigen sich für nichts. Sie wollen nicht einmal mit dir reden. Ich habe versucht, mit ihnen auf Jiddisch zu sprechen, aber ich musste feststellen, dass sie nicht einmal Jiddisch verstehen. Oft habe ich gesehen, wie andere Haredim aus der Gemeinde sie bekämpften und ihnen sagten, sie sollten verschwinden, indem sie sagten: »Ihr gehört nicht hierher.« Sie kommen aus anderen Vierteln in die Nachbarschaft und verursachen Probleme.

MW: Sind sie das, was in Hamburg die Punks oder die »Autonomen« sind?

Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen (Teil 2)

TT: So kann man sie auch nennen. Das Verhalten meiner Nachbarn, die in diesem Viertel aufgewachsen sind, war genau das Gegenteil. Freitagnachmittag kamen sie und fragten: »Willst du Gefilte Fisch?« Und so weiter. Das sind nicht die Leute, die mit Steinen werfen würden.

MW: War die Zeit in Mea Shearim eine lebensverändernde Erfahrung für Sie?

TT: Ich entdeckte, dass ich zwar nicht das glaube, was sie glauben und theologisch nicht das denke, was sie denken, aber dass ich geistig und spirituell immer noch Haredi bin. Ich fühlte mich dort sehr zu Hause, wie bei meinen Brüdern und Schwestern. Es war sehr seltsam, es war sehr gut, ich fühlte mich, als gehörten sie zu meiner Familie. Und sie sind Teil meiner Familie.

Teil 1 des Interviews finden Sie hier.

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