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»Wir waren blind gegenüber der Hamas«

Terroristen der Qassam-Brigaden der Hamas. (© imago images/ABACAPRESS)
Terroristen der Qassam-Brigaden der Hamas. (© imago images/ABACAPRESS)

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober überraschte Armee und Geheimdienste. An Warnungen im Vorfeld mangelte es nicht.

Im Dezember 2021 erklärte das israelische Militär den Ausbau einer Hightech-Sperranlage für abgeschlossen. Diese sollte die israelischen Anwohner des Gazastreifens vor der Bedrohung durch Terroristen aus dem Küstengebiet schützen. Die weit in die Erde reichende »Eiserne Wand« war mit Kameras, hochentwickelten Sensoren und ferngesteuerten Waffen ausgestattet.

Trotzdem gelang es der Hamas, den Hightech-Zaun zu durchbrechen. Im Morgengrauen des 7. Oktobers zerstörte sie mithilfe von Drohnen einige Mobilfunkstationen und Überwachungstürme des israelischen Militärs entlang der Grenze. Ohne Funksignale waren die Soldaten in ihren Kontrollräumen hinter den Frontlinien blind. Sie wussten nicht, dass der Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel durchbrochen worden war.

Die Bildschirme, auf denen zu sehen gewesen wäre, wie die Hamas-Angreifer die Barrikaden niederwalzten, blieben schwarz. Das verhinderte eine koordinierte Reaktion der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Niemand im Grenzgebiet konnte das ganze Ausmaß des Angriffs erfassen. Was in den folgenden Stunden passierte, ist bekannt.

Was lief falsch?

Ende November berichtete die New York Times, israelische Offizielle hätten vom Schlachtplan der Hamas für den Terroranschlag bereits mehr als ein Jahr vor der Tat gewusst. Zwar enthielt das ihnen zugespielte Dokument kein konkretes Datum, aber es beschrieb einen methodischen Angriff, der darauf abzielte, die Befestigungen um den Gazastreifen zu überwinden, israelische Orte einzunehmen und wichtige Militärstützpunkte, darunter ein Divisionshauptquartier, zu stürmen.

Der Plan beschrieb also exakt jene Vorgehensweise, welche die Hamas am 7. Oktober umsetzte. Die Verantwortlichen nahmen ihn zur Kenntnis, hielten den Plan aber für zu kompliziert, um von der Hamas ausgeführt zu werden.

Kobi Michael vom Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv ist einer jener, die in den vergangenen Jahren immer wieder vor einem Angriff der Hamas auf Israel gewarnt hatten. Das Problem seien nicht mangelnde Informationen, so Michael im Gespräch mit Mena-Watch: »Informationen sind immer vorhanden, das Problem liegt vielmehr in der Interpretation der vorliegenden Daten.«

Diese sei stark von Konzepten beeinflusst, also von Annahmen und Vorstellungen, die man von einer Sache hat. Das sei soweit völlig normal und ermögliche uns, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Die Herausforderung bestehe darin, diese Grundvorstellungen ständig zu hinterfragen, um keinen Fehlinterpretationen zu erliegen. »Verlieben wir uns in unsere eigenen Konzepte, werden wir blind«, so der Wissenschaftler.

Die Verantwortlichen in Regierung, Militär und den Sicherheitsdiensten seien in eben jene Falle getappt: »Sie waren blind gegenüber der Hamas und ihren Absichten sowie ihren Fähigkeiten, eine Operation dieser Größenordnung umzusetzen.« Die Entscheidungsträger seien davon ausgegangen, die Hamas habe sich zu einer verantwortungsbewussten, souveränen Macht entwickelt, die einen Prozess der Institutionalisierung durchlaufe und sich tatsächlich um die Leute im Gazastreifen kümmere. Ein folgenschwerer Irrtum.

Hamas hielt Israel zum Narren

Das von der New York Times zitierte Dokument war nicht der einzige Hinweis darauf, dass die Hamas etwas Großes plante. Monate vor dem Angriff kursierten Videos in den sozialen Medien, die Terroristen bei Angriffen auf Attrappen israelischer Einrichtungen zeigten.

Kobi Michael geht davon aus, dass die Hamas ihre Kämpfer auch außerhalb des Gazastreifens trainierte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit im Libanon, möglicherweise auch im Iran und in Malaysia, so der Analyst. Klar ist für ihn außerdem, dass der Iran in die Planung des Anschlags verwickelt war: »Vielleicht war Teheran nicht über den Zeitpunkt des Angriffs informiert, aber ich gehe davon aus, dass der Iran Ausbildung, Waffen und technologisches wie geheimdienstliches Knowhow bereitstellte.«

Dennoch gingen die Verantwortlichen in Israel davon aus, dass die Hamas keinen Krieg wolle. Und tatsächlich deutete vieles darauf hin: Im vergangenen Jahr hielt sie sich im Kampf gegen Israel zurück und überließ dem Palästinensischen Islamischen Dschihad die Bühne. Im September beendete die Hamas-Führung unter Vermittlung Qatars auch eine Phase der Unruhen entlang der Grenze und vermittelte damit den Eindruck, keine Eskalation anzustreben.

»Ich habe vor den Vorbereitungen der Hamas gewarnt und gesagt, dass wir ihre militärischen Kapazitäten ausschalten müssen«, so Michael, der davon überzeugt war, dass die Hamas Israel zum Narren hielt. Die Hamas habe eine doppelte Strategie angewandt: Während sie sich im Gazastreifen ruhig verhielt, baute sie dort und im Westjordanland ihre militärischen Kapazitäten immer weiter aus. Mit verheerenden Konsequenzen: 1.200 Menschen starben beim Terrorangriff auf den Süden Israels, weitere 240 wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt.

Gefragt, wie er den Einsatz der israelischen Armee am 7. Oktober bewertet, resümiert der Experte: »Die IDF waren nicht in der erforderlichen Menge und Qualität vorhanden.« Es brauchte zwölf bis vierundzwanzig Stunden, bis sie den Zustand des Schocks und der Verwirrung abschütteln und ihre Einsatzbereitschaft zurückgewinnen konnten: »Jetzt müssen die Fehler eingehend untersucht und die Lehren daraus gezogen werden.«

 Zu sehr Verlass auf Technik

Auch Brigadier General a.D. Amir Avivi vom Israelischen Verteidigungs- und Sicherheitsforum (IDSF) hatte die Regierung gewarnt. Bereits vor zwei Jahren legte er Politikern und Sicherheitsdiensten eine Analyse vor, die von einem drohenden Krieg ausging. Er schloss das aus den internationalen und regionalen Verschiebungen wie dem Rückzug der USA aus dem Nahen Osten, der russisch-iranischen Front, die sich im Zuge des Ukrainekriegs auftat, und der Aufrüstung des Irans.

Avivi stellte der Regierung zwei Möglichkeiten in Aussicht: »Entweder ein Szenario wie im Sechstagekrieg, als Israel seine Gegner zuerst angriff. Oder ein Szenario wie im Jom-Kippur-Krieg, in dem Israel überrascht wurde. Leider entschied sich Israel für das Jom-Kippur-Szenario«, so Avivi im Gespräch mit Mena-Watch.  Und tatsächlich wird das Hamas-Massaker von offizieller Seite als das schlimmste Versagen des israelischen Geheimdienstes seit jenem Überraschungsangriff angesehen, der zum arabisch-israelischen Krieg von 1973 führte.

Gefragt nach den Gründen für dieses Versagen, sagt Avivi: »Wir verlassen uns zu sehr auf die Technik.« Weil aber die Hamas-Führung wisse, dass Israel über die fortschrittlichere Technologie verfügt, würde sie wie vor hundert Jahren operieren und etwa bei ihrer Kommunikation auf Smartphones und E-Mails verzichten. »Wenn sie aber diese Technologien nicht nutzen, sind wir blind«, so Avivi.

Wolle man wissen, was die Führung der Hamas plant und wann sie dies umsetzen will, gelinge dies nur, wenn Spione mit an ihren Besprechungstischen sitzen, ist der Analyst überzeugt. Leider habe Israel einen großen Teil dieser Art von Informationsbeschaffung aufgegeben: »Das war ein großer Fehler.«

Avivi glaubt, dass die einzig wirkungsvolle Sicherheit für Israel darin bestehe, gar keine Terrorarmee auf der anderen Seite der Grenze zuzulassen – was auf Präventivschläge hinausläuft, wie der General im Ruhestand es der Regierung in seinem Papier von vor zwei Jahren vorschlug.

Droht Krieg mit der Hisbollah?

Für Avivi gibt es gute Gründe, die einen Krieg mit der Hisbollah ausschließen, aber auch solche, die für einen Krieg sprechen. Dagegen spricht, dass der Iran eine intakte Hisbollah braucht, um sich zu verteidigen. Würde nicht nur die Hamas, sondern auch die Hisbollah zerschlagen werden, hätte Teheran keine Verbündeten gegen Israel mehr, so der Analyst.

Weiters wisse die Hisbollah, dass der Zeitpunkt, Israel anzugreifen, ein schlechter ist: Die israelische Armee befindet sich in voller Kriegsbereitschaft, und im östlichen Mittelmeer liegen US-Kriegsschiffe zu ihrer Unterstützung bereit. Nicht zuletzt werde im Libanon großer Druck auf die Hisbollah ausgeübt, das Land nicht in einen Krieg zu verwickeln.

Trotzdem könnten sich die Terrorgruppe und das iranische Regime für einen Angriff auf Israel entscheiden. Denn beide stellen sich natürlich die Frage, wie Israel weiter vorgehen wird, ist der Krieg in Gaza einmal beendet. Sollten sie zu der Überzeugung gelangen, Israel würde sich nach der Hamas der Hisbollah zuwenden, könnten sie beschließen, nicht zu lange zu warten, sondern besser gleich anzugreifen.

Aber auch Israel sei unter Zugzwang, so Avivi. Wegen des Beschusses durch die Hisbollah musste Israel zehntausende Bürger aus dem Norden des Landes evakuieren. Die einzige Möglichkeit, deren Sicherheit dauerhaft zu gewährleisten sei es, die Hisbollah aus dem Grenzgebiet zurückzudrängen. Daher habe die Regierung die internationale Gemeinschaft aufgefordert, die UN-Resolution 1701 umzusetzen, die besagt, dass sich die Hisbollah aus dem Gebiet südlich des Flusses Litani zurückziehen müsse.

Dass dies geschieht, hält Avivi für nicht sehr realistisch, aber: »Es ist das einzige Szenario, das einen Krieg im Norden verhindern kann.«

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