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Überlebende des Massakers: Flüchtlinge im eigenen Land

Auch die Überlebenden von Nir Oz sind zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. (© imago images/Nir Keidar)
Auch die Überlebenden von Nir Oz sind zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. (© imago images/Nir Keidar)

Nach dem 7. Oktober ist fast eine Viertelmillion Israelis zu Flüchtlingen geworden. Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt.

Amelie Botbol

Rund 240.000 Israelis sind nach dem brutalen Angriff der Hamas auf ihre Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens am 7. Oktober und den anhaltenden Raketenangriffen der Hisbollah aus dem Libanon auf der Flucht. Die Hamas-Terroristen ermordeten rund 1.200 Menschen, die Überlebenden mussten ihre zerstörten Städte evakuieren und sind in anderen Teilen des Landes in Notunterkünften untergebracht. Sie wissen nicht, wann sie in ihre Häuser zurückkehren können.

»Was Sderot betrifft, so werden wir, sobald der israelische Premierminister, der Generalstabschef und der Verteidigungsminister uns mitteilen, dass es sicher ist, nach Sderot zurückzukehren und dass keine Gefahr für die Bewohner besteht, eine Entscheidung treffen«, erklärte Alon Davidi, Bürgermeister von Sderot, gegenüber Jewish News Syndicate (JNS). Die meisten der 30.000 Einwohner von Sderot wurden nach Eilat, in die Region des Toten Meeres, nach Netanya, Tel Aviv und Jerusalem umgesiedelt.

»Für uns ist klar, dass wir erst wieder zurückziehen werden, wenn die Hamas vollständig vernichtet ist. Ich vermisse meine Heimat. Ich weiß nicht, was nötig wäre, damit ich dorthin zurückkehren kann. Die Armee wird unser Vertrauen zurückgewinnen müssen«, sagte Adele Raemer (69), eine pensionierte Lehrerin aus dem Kibbutz Nirim, einer Gemeinde sechseinhalb Kilometer östlich von Khan Yunis, der zweitgrößten Stadt im Gazastreifen. »Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land. Alles ist auf Eis gelegt. Ich weiß nicht, wann ich wieder in mein Haus heimkehren kann«, klagte die Rentnerin.

Raemer erzählte, wie ihr Schwiegersohn einen Terroristen erschoss, der in sein Haus stürmte, während sich ihre Enkelkinder Yuval (2), Raz (7) und Ziv (8) unter einer Decke versteckten. Die Kinder wurden kurzzeitig nach Eilat evakuiert, aber sie waren psychisch so beeinträchtigt, dass sie das Hotel nicht verlassen wollten. »Sie hatten Angst, dass Terroristen mit einem Lastwagen vorfahren würden. Bei jedem Geräusch rannten sie zu uns. Meine Tochter Lilach hat sie in den Kibbuz Ruhama gebracht. Dort sind sie zwar nicht unter ihren Freunden, aber wenigstens ist es ruhig. Sie fühlen sich sicher.«

Von Nirim nach Eilat

Uriel Laban, ein Capoeira-Lehrer, wurde mit seiner Frau Aimee und seinem neugeborenen Sohn Kai von Nirim nach Eilat evakuiert. Sie wurden von den Hamas-Angreifern fast bei lebendigem Leib verbrannt.

»Wir waren in unserem Haus, als die Hamas-Terroristen hereinkamen. Wir wollten sie nicht in den Schutzraum lassen, also setzten sie das Haus in Brand. Wir blieben fast sechs Stunden lang dort und versuchten, den Rauch inmitten der Schüsse heimlich loszuwerden. Kai war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Tage alt«, sagte Laban gegenüber JNS.

Obwohl Laban und seine Frau planen, nach Nirim zurückzukehren, ist er nicht bereit, die Sicherheit seiner Familie aufs Spiel zu setzen: »Wir werden zurückkehren, sobald das Land für angemessene Sicherheit sorgt. Wir werden versuchen, alles wieder aufzubauen. Ich möchte glauben, dass ich mich wieder sicher fühlen werde, wenn ich dort bin. Die Rückkehr in die Gemeinschaft ist der beste Weg, um sich davon zu erholen.«

Nir Oz

Im nahe gelegenen Kibbuz Nir Oz mussten 290 der vierhundert Bewohner evakuiert werden. Andere wurden entweder ermordet oder am 7. Oktober von der Hamas entführt. Einige der achtzig entführten Bewohner wurden im Rahmen des einwöchigen Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas, den die Hamas später verletzte, freigelassen.

»Die meisten von uns sind in einem Hotel in Eilat untergebracht. Für die Grundschüler wurde eine provisorische Schule in Zelten eingerichtet, und die Teenager sind in einer Oberschule in Eilat untergebracht«, erklärte die Sprecherin von Nir Oz, Irit Lahav, gegenüber JNS. »Wir haben weder die Voraussetzungen (Computer, Schreibtische usw.) noch die geistigen Fähigkeiten, um zu arbeiten. Wir sind damit beschäftigt, unser Leben wieder in den Griff zu bekommen, nachdem man uns alles gestohlen hat. Wir machen uns Sorgen um die 31 Menschen, die noch in Gaza festgehalten werden.«

Laut Lahav sei die Hälfte der Häuser in Nir Oz sei zerstört worden. »Es wird drei Jahre dauern, bis wir nach Nir Oz zurückkehren können. Bis Ende Dezember werden wir hoffentlich für acht Monate in Wohnungen in Kiryat Gat umziehen. Danach werden wir zwei Jahre in provisorischen Häusern leben, bis wir nach Nir Oz zurückkehren können.«

Tochter als wahre Heldin

In Kfar Aza, einem anderen Kibbuz an der Grenze zum Gazastreifen, wurde am 7. Oktober fast jedes Haus entweder verbrannt oder von Kugeln durchlöchert. Der Angriff kostete 57 der 750 Bewohner das Leben; achtzehn wurden entführt.

»Als Elternteil hat die Sicherheit meines Kindes für mich oberste Priorität und ich werde nur zurückkehren, wenn ich das Gefühl habe, dass der Kibbuz eine ausreichend sichere Umgebung für meine Tochter ist«, so der 38-jährige Medienberater Avidor Schwartzman. Er wurde gemeinsam mit seiner Frau Keren Flash und ihrer einjährigen Tochter Sa‘ar aus Kfar Aza in den Kibbuz Shefayim in Zentralisrael evakuiert.

Die Schwartzmans versteckten sich einundzwanzig Stunden lang im Schutzraum, als Hamas-Terroristen auf sein Dach marschierten und sein Haus mit Kugeln beschossen. »Meine Tochter ist hier die wahre Heldin. Sie hat nicht den geringsten Laut von sich gegeben, sonst wären wir alle tot gewesen. Es war, als wüsste sie, was vor sich geht«, berichtete er. Schwartzmans Schwiegereltern wurden von Hamas-Terroristen getötet: »Um 17 Uhr wurden wir benachrichtigt, dass Hamas-Terroristen versuchten, in das Haus von Kerens Eltern einzubrechen. Wir schrieben ihnen verzweifelt eine SMS, aber unsere Nachrichten blieben unbeantwortet. Fünf Tage später erhielten wir die Nachricht, dass sie beide getötet worden waren.«

»Kfar Aza ist einer der schönsten Orte, die ich je gesehen habe. Alles war genau so, wie es sein sollte. An manchen Tagen wollen wir Pioniere sein, die den Kibbuz wieder aufbauen; an anderen Tagen wollen wir alles verlassen und irgendwo anders in Israel ein neues Leben beginnen«, fügte Schwartzman hinzu. Nach ihm sei es noch viel zu früh, um über eine Rückkehr nachzudenken, da die Gemeinschaft noch immer die Ereignisse vom 7. Oktober verarbeite und täglich neue Informationen von den Medien und der Armee bekannt gegeben würden.

»Es werden Geschichten von brutalen Gräueln und unaussprechlichen Dingen aufgedeckt und das wirkt sich offensichtlich auf die Stimmung der vertriebenen Bewohner von Kfar Aza aus«, so Schwartzman.

(Die Reportage ist auf Englisch vom Jewish News Syndicate veröffentlicht worden. Übersetzung von Florian Markl.)

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