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Antisemitismus: Theoretisch wusste ich es, und dennoch hat es mich schockiert (Teil 2)

Antisemitische Demonstration an der Columbia University in New York

Der Kanadier Charles Ascher Small ist Gründer und Direktor des Institute for the Study of Global Antisemitism and Policy (ISGAP) und einer der profiliertesten Antisemitismusforscher weltweit. Stefan Frank sprach mit ihm über den Antisemitismus an nordamerikanischen Universitäten und den Einfluss der Muslimbruderschaft.

Mena Watch (MW): Wenn es einen Zusammenhang zwischen ausländischer Finanzierung und antisemitischen Ereignissen an US-Universitäten gibt, bedeutet das dann zwangsläufig, dass das Geld den Antisemitismus verursacht?

Charles Small (CS): Das Geld hat definitiv Einfluss auf den Antisemitismus oder normalisiert ihn, wenn man Geld von einem Regime nimmt, das zur Ermordung jüdischer Menschen und zur Zerstörung des Staates Israel aufruft, zusätzlich zur Ermordung von Homosexuellen, zur Zerstörung der Demokratie und zu Angriffen auf gemäßigte Muslime. Letztere sind das Hauptopfer. Wir wissen, dass es unsere Gesellschaft beeinflusst, wenn man Geld von diesen Regimen nimmt. Das muss aufhören.

MW: Glauben Sie, das Geld aus Katar könnte der Grund dafür sein, dass die Präsidenten der Universitäten Harvard, MIT und Penn so zögerlich waren zu antworten, als sie von einem Ausschuss des Repräsentantenhauses gefragt wurden, ob die Aufrufe zum Völkermord an den Juden gegen ihre Regeln zur Belästigung verstoßen?

CS: Erstens: Ich denke, es gibt definitiv einen Zusammenhang. Es besteht ein eigennütziges Interesse daran, dass das Geld weiter fließt. Zweitens: Sie können hier den Einsatz von Soft Power sehen. Wir haben heute eine Situation erreicht, in der drei Präsidenten von Spitzenuniversitäten des Landes, die Leiter der renommiertesten Universitäten, drei Fachleute auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, nicht in der Lage sind, die Aufstachelung zum Völkermord an jüdischen Menschen zu verurteilen. Dies zeigt, wie Soft Power und nicht nur Antisemitismus, sondern auch antidemokratische, antihumane Ideologie in die besten Institutionen, in denen wohlmeinende Menschen arbeiten, eingesickert ist.

MW: Was den vermuteten Zusammenhang zwischen ausländischen Geldern und antisemitischen Vorfällen betrifft, möchte ich eine andere Theorie diskutieren. Nehmen wir erstens an, dass Akteure wie der Emir von Katar aus Gründen des Stolzes und ihres Egos ihr Geld für Universitäten mit allgemeinem Bekanntheitsgrad wie Harvard ausgeben wollen, als eine Art Lamborghini unter den Universitäten. 

Zweitens können es sich nur wohlhabende Universitäten wie Harvard oder Columbia mit ihren riesigen Vermögen leisten, Unsummen für Studiengänge auszugeben, die keinerlei realen Nutzen haben, wie etwa Post-Colonial Studies. Ich vermute, dass Antisemiten von Universitäten angezogen werden, die solche Kurse anbieten, und das sind aus den oben genannten Gründen zufällig die reichen und berühmten Universitäten, für die der Emir sein Geld ausgeben will. Und vergessen wir nicht, dass Antisemiten extrovertierte Menschen sind, die in städtischen, küstennahen Gegenden leben wollen und nicht in Idaho oder im ländlichen Texas. Wäre das nicht eine plausible alternative Erklärung?

CS: Was mich am meisten beunruhigt: Es ist fast wie ein Krebsgeschwür. Es begann die Nahost-Studiengänge an westlichen Universitäten zu durchdringen, breitet sich aber mittlerweile in den Sozial- und Geisteswissenschaften aus. Ideen sind wichtig, sie gelangen von den Eliteuniversitäten in die Hochschulbildung und von der Hochschulbildung in die öffentliche Politik und den öffentlichen Diskurs. Und Ideen können die Gesellschaft wirklich beeinflussen. Viele Intellektuelle im Westen sind nicht besorgt darüber, dass die mit Katar befreundeten Taliban in Afghanistan Frauen den Zugang zur Bildung verwehren. Das intellektuelle Umfeld in den Klassenzimmern, ganz zu schweigen von den Universitäten, unterstützt in erheblichem Maße die Muslimbruderschaft und die Hamas. 

Das ist nicht nur für Juden sehr beunruhigend. Wir wissen, dass Antisemitismus mit dem jüdischen Volk beginnt, aber niemals mit dem jüdischen Volk endet. Dies ist eine Bedrohung für den menschlichen Anstand und eine Bedrohung für die grundlegenden Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und Gleichheit in einem Rechtssystem. Wenn Intellektuelle nicht in der Lage sind, zwischen einer reaktionären sozialen Bewegung zu unterscheiden, die dem, was eine liberale Bildung ausmacht, diametral entgegengesetzt ist – und wir reden hier von unseren zukünftigen Führungskräften –, dann ist das sehr gefährlich für die Demokratie. Dies ist nicht nur eine Bedrohung für Juden, das jüdische Volk und Israel, sondern für die grundlegenden Elemente unserer demokratischen Gesellschaften.

Wir Juden haben viel, worauf wir stolz sein können

MW: Würden jüdische Gymnasiasten Sie fragen, wohin sie gehen, wo sie sich bewerben und welche Universität sie auf jeden Fall meiden sollten, was würden Sie antworten?

CS: Das ist eine Frage, die sich viele Eltern, Großeltern und Schüler in der heutigen Zeit stellen. Die Tatsache, dass Sie mir diese Frage stellen und in der jüdischen Gemeinde ein Thema ist, sollte eine Alarmglocke in der ganzen Welt auslösen. Dass Juden, die heute Bürger der Vereinigten Staaten, Kanadas, Deutschlands, Frankreichs, Englands und Italiens – der führenden demokratischen Länder der Welt – sind, ernsthaft darüber nachdenken, wo sie zur Uni gehen wollen, weil sie sich in diesen Demokratien nicht als gleichberechtigte Bürger geschützt fühlen, ist ein Affront, ein Warnzeichen. Und leider ist Ihre Frage berechtigt. Denn das ist das Umfeld, in dem wir zunehmend leben.

MW: Wie sollten sich jüdische Familien vorbereiten?

CS: Jüdische Familien und jüdische Gemeinden müssen sicherstellen, dass junge Juden ein starkes Gefühl dafür haben, wer sie aus einer jüdischen Perspektive sind – nicht aus einer rassistischen, antisemitischen oder postkolonialen Perspektive. Wir müssen definieren, wer wir als jüdisches Volk sind. Wir kommen aus einer Kultur mit viel Weisheit und Tiefe, Gravität und Einsicht. Wir haben viel, worauf wir stolz sein können. Unser Gefühl dafür, wer wir sind: Was bedeutet es, Teil des jüdischen Volkes zu sein? Unser Sinn für Gerechtigkeit. Der Grund, warum unser Leben einen Sinn hat. Es gibt eine Menge Weisheit. Wir haben der Welt in Bezug auf die Achtung des Anderen viel zu bieten. 

Im Gegensatz zu dem Begriff der Toleranz, der vielerorts in der Welt vorherrscht, hat das jüdische Volk Demut gelernt. Wie Emmanuel Levinas sagte: ›In dem Augenblick, in dem wir unser Gesicht im Gesicht des anderen sehen, werden wir menschlich.‹ Wir brauchen den anderen, um menschlich zu sein. Das ist ein schönes Konzept. Wenn nur die Hamas-Leute genauso denken würden, also, dass wir den anderen brauchen, um menschlich zu sein. Und wenn wir rassistisch oder homophob oder sexistisch oder antisemitisch sind, verlieren wir die Möglichkeit, Mensch zu sein. Wenn ich Afrikaner ablehne, habe ich über 1,5 Milliarden Möglichkeiten verloren, ein Mensch zu sein. Wir brauchen also den anderen. 

Antisemitismus: Theoretisch wusste ich es, und dennoch hat es mich schockiert (Teil 2)
Charles Small (Quelle: ISGAP)

Wir haben viel, worauf wir stolz sein können. Und ich denke, es muss diesen Sinn geben. Ich war sehr aktiv in der Anti-Apartheid-Bewegung; mein Mentor war Stephen Biko, der den Begriff des schwarzen Bewusstseins (Black Consciousness) geschaffen hat. Ich denke, wir brauchen ein jüdisches Bewusstsein. Und ich denke, wenn junge Menschen ein starkes Gefühl dafür haben, wer sie sind, können sie in jeder Umgebung mit dem Druck umgehen, dem sie ausgesetzt sind. Aber wenn wir diese Grundlage nicht haben, wird es viel schwieriger, in diesen Bereichen zu funktionieren.

Teil 1 des Interviews ist hier erschienen.

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