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Antisemitismus: Theoretisch wusste ich es, und dennoch hat es mich schockiert (Teil 1)

Antisemitische Demonstration an der Columbia University in New York
Antisemitische Demonstration an der Columbia University in New York (© Imago Images / SOPA Images)

Der Kanadier Charles Ascher Small ist Gründer und Direktor des Institute for the Study of Global Antisemitism and Policy (ISGAP) und einer der profiliertesten Antisemitismusforscher weltweit. Stefan Frank sprach mit ihm über den Antisemitismus an nordamerikanischen Universitäten und den Einfluss der Muslimbruderschaft.

Mena Watch (MW): Als jemand, der mit der akademischen Welt in den USA vertraut ist: Welche Reaktionen auf die Massaker vom 7. Oktober haben Sie erwartet, und wie war die Realität?

Charles Small (CS): Kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober nahm ich an einem Teach-in an der Columbia University teil, bei dem Doktoranden und Professoren die Situation in Gaza betrachteten und im Grunde die Besatzung für das Massaker verantwortlich machten. Sie machen letztlich die Existenz des jüdischen Volkes für das Massaker verantwortlich, weil die Juden »kolonial«, »besetzend«, »faschistisch« und »Nazis« auf dem Land der Palästinenser seien. 

Die »Anti-Besatzungs«-Bewegung postuliert, dass im Kampf gegen die »Besatzung« alle Mittel gerechtfertigt seien. Um das Land zu befreien, darf man nach der postkolonialen Theorie jedes Mittel einsetzen. Die Juden, die Opfer, haben dieser Denkungsart zufolge die Gewalt durch ihre bloße Anwesenheit geradezu heraufbeschworen. Dies ist der ideologische Diskurs an der Columbia University und der NYU, an unseren besten Universitäten. Das ist wirklich schockierend und sollte jeden alarmieren.

MW: War das für Sie überraschend?

CS: Theoretisch habe ich das alles gewusst. Aber als ich es persönlich, aus erster Hand und in der Realität erlebte, fand ich es doch schockierend. Ich hatte es zwar intellektuell gewusst, aber ich war emotional nicht darauf vorbereitet gewesen, dass Studenten und Professoren das Massaker als Teil der »Entkolonialisierung« rechtfertigen würden, als Teil des antizionistischen, antisemitischen Diskurses, der die akademische Welt seit Jahrzehnten durchdringt. Und das nach dem brutalen Massaker, den Fällen von Folter und den Sexualverbrechen von Hamas-Anhängern und Muslimbrüdern. Die Hamas und die Muslimbruderschaft sind nicht nur antiisraelisch und antisemitisch, sondern auch antidemokratisch, antiwestlich, antiamerikanisch, sexistisch und homophob.

MW: Wer sind die Hauptakteure hinter den antisemitischen Kundgebungen an der Columbia oder Harvard?

CS: Hauptsächlich die Organisation Students for Justice in Palestine (SJP), die direkt mit der Muslimbruderschaft verbunden ist. Die SJP ist schon seit Jahrzehnten sehr aktiv. Das sind die antisemitischen Stoßtrupps auf dem Campus, die den jüdischen Dozenten und Studenten das Leben schwer machen. Kurz nach dem Massaker vom 7. Oktober haben sie der Hamas und deren Kampf die Treue geschworen. Sie sagen, sie seien Teil des Kampfes. Da die Unterstützung einer Terrororganisation in den Vereinigten Staaten gegen das Gesetz verstößt, brachte ihnen das einige Schwierigkeiten ein. 

MW: Aufgrund ihrer offenen Unterstützung einer Terrororganisation, ihrer Billigung der Massaker vom 7. Oktober und ihrer einschüchternden Aktionen haben drei private Universitäten – BrandeisColumbia und George Washington – im Herbst ein zeitlich befristetes Betätigungsverbot gegen SJP auf ihrem jeweiligen Universitätsgelände ausgesprochen. An den meisten nordamerikanischen Universitäten kann SJP hingegen immer noch ungehindert aktiv sein.

CS: Diese Untätigkeit weist auf den Grad des politischen Antisemitismus in den USA und die Normalisierung dieses größten Hasses hin. Hinzu kommt das intellektuelle Umfeld, in dem jüdische Menschen seit Jahrzehnten im akademischen Diskurs dämonisiert werden. Bei einigen Intellektuellen ist regelrecht eine Unterstützung des Pogroms zu beobachten.

MW: Wenn sich Hunderte von Studenten zu einer antisemitischen Kundgebung versammeln, gehören all diese der Erfahrung nach der SJP an, oder ist die SJP eine Art Avantgarde im Sinne Lenins, die in der Lage ist, massenhaft Fußsoldaten unter normalen Studenten zu mobilisieren?

CS: Ich denke, dass sie eine gewisse Anziehungskraft auf normale Studenten haben, leider.

MW: Die Studenten werden vom Antisemitismus angezogen?

CS: Edward Said sagte 1983, er sei der letzte jüdische Intellektuelle. Er sagte, er sei der letzte Erbe der Frankfurter Schule. Er sagte, jüdische Intellektuelle würden mehr und mehr zu »fetten Schreibern« in den Vorstädten Amerikas. Und dass die Palästinenser jüdisch seien und die Israelis und die Juden die neuen Nazis. Als er das vor vierzig Jahren sagte, dachten die Leute, er sei ein bisschen verrückt. Unter Leuten, die behaupten, sogenannte Progressive zu sein, ist dies heute der akademische Diskurs an den besten Universitäten Nordamerikas, Großbritanniens und Frankreichs. Wir können das bei postkolonialen Gelehrten und Studenten beobachten. 

Der rassistische Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte, postulierte, dass die Juden nicht weiß seien und ausgerottet werden müssten, weil sie die weiße arische Rasse vergiften würden. Heute definieren diese Intellektuellen ­– ich nenne sie Clowns – die Juden als weiß, aber nicht im Sinne von ›Willkommen im Club, es tut uns sehr leid, was euch während des Holocausts widerfahren ist‹, nein. Das jüdische Volk sei »weiß« geworden und verkörpere nun die weiße Vorherrschaft, die Besatzung, den Kolonialismus, die Apartheid, den Faschismus und sogar den Nationalsozialismus. In den Augen der SJP-Stoßtrupps und der Intellektuellen auf dem Universitätscampus sind wir die ›White Supremacists‹. Also werden die Juden wieder einmal von jenen definiert, die dem jüdischen Volk Schaden zufügen wollen. 

Und dies ist die vorherrschende Meinung auf den höchsten Ebenen der Wissenschaft. Dass Studenten mit dieser antisemitischen Ideologie indoktriniert werden, ist besorgniserregend, denn die Universität ist der Ort, an dem junge Menschen lernen, Professoren und Journalisten zu werden; Menschen, die in die Regierung oder in die Industrie gehen. Und so etwas wird ihnen an vielen Universitäten beigebracht.

Gelder aus den Golfstaaten

MW: Sie waren federführend an der Recherche und Erstellung eines neueren Berichts beteiligt, der aufdeckt, wie Despoten aus dem Ausland – auch, aber nicht nur vom Persischen Golf – amerikanische Eliteuniversitäten mitfinanzieren und so Einfluss erkaufen. Welche Ergebnisse sind die wichtigsten?

CS: Wir beweisen, dass die Quelle des Antisemitismus in westlichen Ländern die Universität ist. Wir zeigen wissenschaftlich, dass der Antisemitismus nicht aus der Gesellschaft an die Universität kommt. Die Universität ist die Quelle des Antisemitismus in der Gesellschaft. In der Zeit vor dem Nationalsozialismus standen die Intellektuellen an vorderster Front und rechtfertigten die Nazi-Ideologie, die ›rassische‹ Vorherrschaft. Die Professoren der Eugenik, Biologie, Theologie und Philosophie definierten den Juden als Feind der ›Rasse‹, der Nation – und wieder einmal sehen wir heute, wie Katar und die Muslimbruderschaft die Dämonisierung des jüdischen Volkes in der Wissenschaft mit Soft Power unterstützen. 

Wir haben Zuwendungen in Höhe von Dutzenden von Milliarden Dollar aufgedeckt, die von Katar an amerikanische Universitäten fließen. Katar ist mit der Muslimbruderschaft gleichzusetzen. Das Emirat beherbergt eine Bayyah, die geistige Heimat der Muslimbruderschaft. Katar befolgt alle ihre Erlasse und Fatwas. Und wir wissen, dass Yusuf Qaradawi sein ganzes Leben lang gelehrt hat, dass der wahre Muslim verpflichtet sei, das Werk Hitlers zu vollenden. Qaradawi war auch der Gründungsdirektor des Kuratoriums für Islamische Studien an der Universität Oxford. 

Die Universitäten nehmen also Geld von Leuten an, die Hitler loben und im Kern ihrer Ideologie antisemitisch sind. Ich spreche nicht von dem extremen oder militärischen Flügel. Das Kernelement der Ideologie der Bruderschaft sind die Protokolle der Weisen von Zion. Der gesamte genozidale Antisemitismus Europas ist der Kern ihrer Daseinsberechtigung. Das ist die Quelle, aus der die Universitäten Geld schöpfen. Das ist kriminell. Es ist ein Skandal.

MW: Wie können diese Universitäten damit durchkommen? Es muss doch Leute geben, die dieses Thema ansprechen und Fragen stellen? Müssen sich die Verantwortlichen nie rechtfertigen?

CS: Sie antworten nie wirklich. Es gibt Gesetze, die in den 1960er Jahren oder sogar schon während des Zweiten Weltkriegs erlassen wurden, als die Amerikaner über die Ausbreitung des Nazismus besorgt waren. Diese Gesetze sehen vor, dass Spenden, die 250.000 Dollar übersteigen, von der Universität an die Regierung gemeldet werden müssen. Aber diese Gesetze werden nicht durchgesetzt. Ich glaube, dass die Leute in den Entwicklungsbüros, die Geld aus Katar und anderen Golfstaaten annehmen, sehr ignorant sind. 

Antisemitismus: Theoretisch wusste ich es, und dennoch hat es mich schockiert (Teil 1)
Charles Small (Quelle: ISGAP)

Es bleibt zu hoffen, dass dies Teil des öffentlichen Diskurses wird, das Bewusstsein dafür wächst und die Universitäten zur Rechenschaft gezogen werden. Hoffentlich werden auch die Mitarbeiter der Universitäten sensibilisiert und überlegen es sich zweimal, ob sie Geld von Regierungen annehmen, die zur Zerstörung des Staates Israel aufrufen und die Hamas, die Taliban und das iranische Revolutionsregime unterstützen und beherbergen.

Teil 2 des Interviews ist hier erschienen.

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