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Afghanistan unter den Taliban: »Mein Leben wurde zu einem Albtraum«

Seit einem Jahr haben in Afghanistan wieder die Taliban das Sagen. (© imago images/Xinhua)
Seit einem Jahr haben in Afghanistan wieder die Taliban das Sagen. (© imago images/Xinhua)

Afghanistan wird von einer Wirtschaftskrise und der rigiden Herrschaft der Taliban geplagt. Zu leiden haben vor allem die Frauen.

Shugofa Rahmati zählt zu jener jungen, urbanen Generation, die nach dem Sturz der Taliban 2001 aufwuchs. Sie spricht fließend Englisch und hat klare Vorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten will. An erster Stelle stand für Rahmati das Studium an der American University of Afghanistan. Doch am 15. August 2021 erreichten die Taliban die Hauptstadt Kabul. Innerhalb weniger Stunden war die Stadt voll von Bewaffneten und die Menschen versteckten sich in ihren Häusern. An diesem Tag endete die 2004 gegründete Islamische Republik Afghanistan und das alte Leben von Rahmati. »Wir dachten nicht, dass Kabul so schnell fallen würde«, meinte sie damals über WhatsApp.

Wie kam es dazu?

Tatsächlich leistete die mit Milliarden US-Dollar aufgerüstete und trainierte afghanische Armee den Taliban wenig Widerstand. Jennifer Brick Murtazashvili, Expertin für Internationale Beziehungen an der Universität von Pittsburgh, sieht den Grund dafür in erster Linie in den politischen Entscheidungen, die die USA und ihre Partner in Afghanistan getroffen haben. Demnach sei die afghanische Armee nicht aus technischen oder logistischen Gründen so rasch zusammengebrochen, sie zerfiel aus politischen Gründen. »Die Soldaten glaubten, sie hätten nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte«, schreibt sie.

Ein Hauptgrund sei die mangelnde Anerkennung von Staat und Verfassung durch die Bevölkerung gewesen. So schuf die 2004 festgeschriebene Verfassung ein Regierungssystem, das den Bürgern nur wenige Möglichkeiten bot, sich an ihrer Regierung zu beteiligen oder sie sinnvoll zu kontrollieren. Stattdessen wurde das Land streng zentralistisch geführt, lokale Führungskräfte wurden von Kabul ernannt. Mitsprache der örtlichen Bevölkerung war nicht vorgesehen.

Ähnlich sah es bei den öffentlichen Finanzen aus. Die Provinzen hatten kaum Möglichkeiten mitzuentscheiden, welche Projekte finanziert werden sollten. Stattdessen trafen diese Entscheidungen Behörden im weit entfernten Kabul, die den Bürgern auf lokaler Ebene nicht rechenschaftspflichtig waren, so Murtazashvili. Das und die Unmengen an Geldern, die nach Afghanistan gepumpt wurden, deren Verwendung aber viel zu wenig überwacht wurde, kurbelte die Korruption an.

Auch Präsident Ashraf Ghani, der das Land von 2014 bis 2021 regierte, trug seinen Teil zur Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung bei. Ihm wurde vorgeworfen, er würde sich vorrangig für Paschtunen einsetzen, jene Ethnie, der auch Ghani angehört. Während seiner Amtszeit wurde die Kluft zwischen den ethnischen Gruppen immer größer.

Murtazashvilis Fazit: Wäre der afghanische Staat von der Bevölkerung nicht als illegitim angesehen worden, hätten die Taliban in Afghanistan keine Chance gehabt.

Flucht in den Iran

Seit die Taliban an die Macht kamen, konnte die 20-jährige Shugofa Rahmati ihr Leben nicht mehr wie gewohnt führen. Die Unis waren geschlossen, die Sicherheitslage unübersichtlich, regelmäßige Treffen mit ihren Freundinnen nicht mehr möglich. Für sie war klar, dass die Taliban die Rechte der Frauen Schritt für Schritt einschränken würden. »Ich will so schnell wie möglich von hier weggehen«, sagte sie damals.

Nach der Machtübernahme blieb ihre Familie zunächst in Kabul. »Während dieser Zeit verwandelte sich mein Leben in einen Albtraum«, sagt sie. Niemand wusste genau, was die Taliban planten, ob sie jene verhaften würden, die für die gestürzte Regierung und die Besatzungstruppen gearbeitet hatten, und welche neuen Gesetze sie einführen würden. »Fakten und Gerüchte vermischten sich, machten die Runde und bereiteten uns Angst«, sagt Rahmati. Viele Nächte blieben sie wach, weil es hieß, die Taliban würden Razzien durchführen. Einbrüche und Morde häuften sich. Hinzu kam, dass die Familie Rahmati schiitische Hazara sind – also Mitglieder jener Volksgruppe, die vor 2003 besonders unter der Verfolgung durch die sunnitischen Taliban zu leiden hatte.

Die Rahmatis beschlossen daher, Afghanistan zu verlassen. Doch Visa bekamen sie nur für die Nachbarländer Iran und Pakistan. Sie entschieden sich für den schiitischen Iran.

Islamischer Staat Khorasan

In den Wochen nach dem chaotischen Abzug der internationalen Truppen konnten die Taliban die Sicherheitslage etwas verbessern. Was auch daran lag, dass die Gotteskrieger, die zuvor für zahlreiche Anschläge gegen die Regierung verantwortlich waren, nun selbst in der Regierung saßen. Gleichzeitig tauchte eine andere Gefahr auf.

Die Gruppe Islamischer Staat Khorasan (IS-K), ein Ableger des Islamischen Staates, positionierte sich als militärischer Widerstand gegen die Taliban. Die Extremisten sind vor allem in den östlichen, an Pakistan grenzenden Provinzen Nangahar und Kunar aktiv. Ihre Attentate und Bombenanschläge richten sich gegen Hazara, Schiiten und andere Minderheiten. Hunderte Zivilisten und Sicherheitskräfte fielen ihren Anschlägen zum Opfer.

Auch al-Qaida nistete sich (wieder) in Afghanistan ein – ihr Anführer Aiman az-Zawahiri wurde Ende Juli 2022 durch eine amerikanische Drohne getötet.

Wie Rahmati befürchtet hatte, verschlechterte sich die Lage für Frauen zusehends. Im März 2022 wurde jungen Frauen der Schulbesuch über die sechste Klasse hinaus untersagt. Taliban-Führer Hibaitullah Akhunzada sagte, dass es gegen das islamische Recht verstoße, ihnen weiterführende Bildung zu ermöglichen. Im April verfügte die Regierung, dass künftig männliche und weibliche Studenten nur mehr getrennt unterrichtet werden dürfen. Im Mai kam die Order der Taliban-Regierung, wonach sich Frauen in der Öffentlichkeit vollständig bedecken müssen.

Afghanistan ist pleite

Ausländische Hilfsgelder machten 78 Prozent des afghanischen Staatshaushalts aus, doch seit der erneuten Machtübernahme der Taliban ist dieser Geldstrom weitgehend versiegt. Hinzu kommen die von den Vereinten Nationen auferlegten Sanktionen. Die afghanische Zentralbank ist vom internationalen Bankensystem abgeschnitten und damit auch von den Währungsreserven des Landes. Das trieb Afghanistan in eine schwere Wirtschaftskrise. Ralph Achenbach, Geschäftsführer der Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC), rief in einer Aussendung im Februar 2022 dazu auf, die Sanktionen gegen Afghanistan zu lockern, damit die Wirtschaft wieder anspringt: »Anstatt der Taliban bestraft die internationale Gemeinschaft aktuell die gesamte afghanische Bevölkerung.«

Und tatsächlich sind die Auswirkungen dramatisch: Beamte erhalten keinen Lohn, Unternehmen können Wirtschaftspartner und Angestellte nicht bezahlen. Der Regierung fehlt das Geld, um Importe wie Strom, Lebensmittel und Medikamente zu bezahlen. Mindestens 500.000 Menschen haben seit August ihren Arbeitsplatz verloren. Die UN schätzen, dass in den kommenden Monaten mehr als 97 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben könnten. Damit nicht genug, herrscht wegen ausbleibender Regenfälle seit 2021 Hunger, und ein verheerendes Erdbeben im Juni 2022 im Osten des Landes hat die humanitäre Krise weiter verschärft.

Nicht angekommen

Rahmati fühlt sich im Iran nicht zuhause: »Afghanen werden hier schlecht behandelt«, sagt sie. Kontakte hat sie keine, die meiste Zeit verbringt sie im Haus. Anders als ihre Eltern will sie trotz der tristen Lage nach Afghanistan zurückkehren, vorausgesetzt, die Sicherheitslage ist stabil. »Ich bin es müde, im Iran zu leben«, sagt sie. »In Kabul wird zumindest meine afghanische Identität akzeptiert.«

Von den derzeit weltweit 2,6 Millionen registrierten afghanischen Flüchtlingen leben 780.000 im Iran, nach wie vor kommen weitere hinzu. Als Gründe führen sie die katastrophale wirtschaftliche Lage an, Angst vor Verfolgung oder die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan. Perspektiven gibt es für sie weder im Iran noch in ihrem Herkunftsland Afghanistan.

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