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Türkei: Wahlen mit weitreichenden Folgen

Aktuellen Umfragen in der Rürkei zufolge liegt der Kandidat der Opposition Kilicdaroglu knapp vor Amtsinhaber Erdogan
Aktuellen Umfragen in der Rürkei zufolge liegt der Kandidat der Opposition Kilicdaroglu knapp vor Amtsinhaber Erdogan (© Imago Images / ANP)

Die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei entscheiden nicht nur über den zukünftigen Kurs der Republik, sondern auch über die Sicherheit in Europa und im Nahen Osten.

Der Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai wird regionale und überregionale Auswirkungen haben. Sie entscheiden über die zukünftigen Beziehungen Ankaras zur NATO, zur EU und zu Moskau und wie die Türkei mit den Spannungen im östlichen Mittelmeerraum umgehen wird.

Seit zwei Jahrzehnten bestimmt Recep Tayyip Erdoğan den Kurs seines Landes in diesen und anderen Fragen. 2018 wurde nach einer hart umkämpften Verfassungsänderung ein Präsidialsystem installiert. Als Präsident ist Erdoğan daher Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber der Armee in einer Person und hat seit Beginn seiner politischen Karriere im Jahr 2002 jede Wahl gewonnen. Doch nun scheint seine Popularität zu schwinden.

Ein Vorgeschmack darauf waren die Kommunalwahlen im März 2019. Damals gewannen oppositionelle Kandidaten in neun der zehn großen türkischen Metropolen, darunter Ankara und Istanbul. Diese Städte waren seit 1994 von Bürgermeistern regiert worden, die mit der AKP verbunden waren. 

Glaubt man Meinungsumfragen vom letzten Jahr, hat die AKP deutlich an Zustimmung verloren. Die stotternde Wirtschaft und die hohe Inflation wurden als Hauptgründe für die weit verbreitete Enttäuschung über Erdoğan genannt. Das schwere Erdbeben vom Februar dieses Jahres hat die Umfragewerte weiter gedrückt.

Gescheiterte Ein-Mann-Show

Die Erdbebenkatastrophe hat die Mängel in der Regierungsführung schonungslos aufgezeigt: Neue Wohnkomplexe, welche die Entwicklung der Türkei symbolisieren sollten, sowie zahlreiche neu erbaute staatliche Krankenhäuser und Flughäfen brachen wie Kartenhäuser zusammen. Die hohe Zahl von rund 50.000 Toten basiert nicht zuletzt auf der mangelnden staatlichen Kontrolle von Bauvorschriften

Ein weiterer Grund für das Versagen der Regierung ist das extrem zentralisierte Präsidialsystem. Befürworter dieser Struktur beschreiben sie als schnelle und effiziente Methode der Regierungsführung. Wie die Erdbebenkatastrophe jedoch zeigte, ist diese politische Ein-Mann-Show dysfunktional. 

Der Handlungsspielraum der Ministerien und Regierungsbehörden ist stark eingeschränkt, weil sie nicht willens oder in der Lage sind, ohne grünes Licht von oben zu handeln. Führungsaufgaben werden vorwiegend an gleichgesinnte Vertraute der AK-Partei verteilt. So wird die Katastrophenschutzbehörde von Theologen geleitet, die zwar die Opfer des Erdbebens nach islamischen Ritus bestatten konnten, aber bei der Vor-Ort-Hilfe für die Überlebenden versagten.

Dank des zentralistischen Systems kann Erdogan sich zwar jeden Erfolg gutschreiben lassen, er wird aber auch für jeden Fehler persönlich verantwortlich gemacht, weshalb die Regierung nach dem Erdbeben besonders schnell die Schuld von sich zu weisen versuchte und Bauunternehmer und -firmen für angebliche Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften verantwortlich machte.

Alles anders unter Kılıçdaroğlu?

Doch entschieden ist noch gar nichts. Einem Bericht von CNN zufolge machen die Bürger ihre Wahlentscheidung auch davon abhängig, wen sie für fähiger halten, die Folgen des Erdbebens zu bewältigen und das Land vor künftigen Katastrophen zu schützen. Hier zeigte eine im April durchgeführte Umfrage, dass mehr Wähler Erdoğan und seiner Volksallianz dies zutrauen als dem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu und seiner Nationalen Allianz. 

Sollte Erdoğan erneut gewinnen, ist davon auszugehen, dass demokratische Freiheiten weiter abgebaut werden und die Türkei in der Außenpolitik ihren kantigen Kurs beibehält. Doch was ist zu erwarten, wenn sein politischer Rivale Kılıçdaroğlu den Sieg davonträgt? Innenpolitisch wird der 74-Jährige die von Erdoğan Schritt für Schritt ausgehöhlte Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen. Außenpolitisch gehen Beobachter von einer Normalisierung der Beziehungen zur NATO und zur EU aus. Bei zahlreichen anderen Themen wird Kılıçdaroğlu aber den von Erdoğan eingeschlagenen Weg fortsetzen, etwa in der Zypernfrage oder bei der versuchten Annäherung an Baschar al-Assad und der Rückführung syrischer Flüchtlinge.

NATO, Russland, Syrien

Vor allem die Normalisierung der Beziehungen zur NATO hätte weitreichende Folgen: Bisher konnte Russland mithilfe Ankaras westliche Sanktionen in einer Reihe von Bereichen umgehen. Das wäre unter Kılıçdaroğlu so nicht mehr möglich. Weiters ist davon auszugehen, dass Ankara seinen Widerstand gegen den Beitritt Schwedens zur NATO aufgibt. Die Nutzung der im Sommer 2019 von Russland gelieferten S-400-Raketenbatterien könnte unter Kılıçdaroğlu beendet und stattdessen mit dem Aufbau einer NATO-kompatiblen Raketenabwehrarchitektur begonnen werden.

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass Ankara bis zu einem gewissen Grad von Moskau abhängig ist: So deckt Russland einen großen Teil des jährlichen Erdgasbedarfs der Türkei und ist einer der Hauptabnehmer für Agrarprodukte aus Anatolien. Auch die rund sechs Millionen russischen Touristen pro Jahr sind eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle für die türkische Wirtschaft. Bei einer Distanzierung von Russland drohen daher bedeutende wirtschaftliche Einbußen, wenn nicht zuvor Alternativen gefunden werden, um die daraus entstehenden finanziellen Lücken zu schließen.

In der Syrienpolitik würde Kılıçdaroğlu die Annäherung an Baschar al-Assad fortzusetzen versuchen. Auch er hat, wie Erdoğan, mehrmals angekündigt, die in die Türkei Geflüchteten zurückbringen zu wollen. (Ob sich tatsächlich ein Großteil der rund vier Millionen freiwillig zu einer Rückkehr in ein immer noch von Assad regiertes Syrien bewegen lässt, ist eine andere Frage.)

Analysten gehen aber davon aus, dass die neue Regierung dabei mehr auf Diplomatie und weniger auf Truppenpräsenz setzen wird. Verhandlungen mit Damaskus könnten daher zu einem (teilweisen) Abzug türkischer Truppen aus den grenznahen Gebieten führen. 

Hauchdünner Vorsprung

Je näher die Wahlen rücken, desto mehr verschärft sich die Rhetorik der politischen Kontrahenten. Erdoğan nannte seinen Rivalen einen »Säufer« und warf ihm vor, mit Terroristen zu kooperieren. Innenminister Süleyman Solyu bezeichnete die Wahlen als einen »politischen Putschversuch des Westens«. Bei einem Wahlkampfauftritt des oppositionellen Bürgermeisters von Istanbul flogen Steine. Er musste seine Rede unterbrechen, mehrere Personen wurden verletzt.

Hundert Jahre nach der Gründung der säkularen Republik von Mustafa Kemal Atatürk steht das 85-Millionen-Einwohner-Land erneut vor einer Weggabelung. Wenige Tage vor den Wahlen geben einige Meinungsumfragen Kemal Kılıçdaroğlu einen hauchdünnen Vorsprung. Andere hingegen, wie das Meinungsforschungsinstitut SONAR, halten eine dritte Amtszeit Erdoğans für sehr wahrscheinlich.

In jedem Fall ist Erdoğan ein erfahrener Wahlkämpfer, der die ganze Macht des Staates und seiner Institutionen im Rücken hat. Noch ist nichts entschieden.

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