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Türkischer Wahlkampf in Endphase (Teil 2): Wie Erdoğan die Wahlen gewinnen will

Mit einem Griff in die Propagandakiste will Erdoğan die türkischen Wahlen doch noch für sich entscheiden
Mit einem Griff in die Propagandakiste will Erdoğan die türkischen Wahlen doch noch für sich entscheiden (© Imago Images / ZUMA Wire)

Zum ersten Mal in seiner politische Karriere steht der amtierende Präsident möglicherweise vor seiner Abwahl. Um seinen noch nicht ausgemachten Sieg quasi auf den letzten Metern zu retten, greift Erdoğan tief in die propagandistische Trickkiste.

Auch wenn es Recep Tayyip Erdoğan in den vergangenen Wochen gelungen ist, in den Wahlumfragen aufzuholen, zeichnet sich für den sonst sieggewohnten türkischen Präsidenten, der erstmals nicht als Favorit ins Rennen geht, keine einfache Wahl ab. Es steht alles auf dem Spiel, was in den 21 Jahren seiner Herrschaft errungen und erobert wurde. Und da die Wahl – wie im ersten Teil dieser Artikelserie dargelegt – sehr wahrscheinlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen sein wird, mobilisiert Erdoğan jetzt alle Kräfte, die ihm durch sein Amt zur Verfügung stehen.

Verhärteter Wahlkampf  

Dazu trägt der Umstand bei, dass nahezu alle Minister von Erdoğan für einen Sitz im Parlament kandidieren. Nach dem Übergang ins Präsidialsystem 2018 konnte Erdoğan als Staatspräsident seine Minister selbst ernennen, zuvor oblag dieses Ernennungsrecht jedoch dem Parlament. Gegenwärtig ist kein einziger Minister Parlamentsabgeordneter, de facto gibt es gegenüber dem Parlament keine Rechenschaftspflicht.

Dass jedoch die Minister nun auch für einen Parlamentssitz kandidieren, bringt dem AKP-System nur Vorteile: Bei einer Wahlpleite würden alle Minister als Abgeordnete Immunität genießen. Zudem wird der Wahlkampf der AKP fast ausschließlich mit Staatsmitteln finanziert, und Wahlkampfauftritte prominenter Minister erregen hohe Aufmerksamkeit.

Und da die Wahlumfragen nur wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai ein knappes Ergebnis prognostizieren, verhärtet sich jetzt der Tonfall. Die AKP beginnt zu realisieren, dass ihr eine Wahlpleite drohen könnte. Entsprechend wird der Wahlkampf mit allen Mitteln geführt. Jüngst schwadronierte der in Istanbul kandidierende Innenminister Süleyman Soylu, die bevorstehenden Wahlen seien die Revanche des Westens für den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016. »Was sie mit einem Putsch nicht erreichen konnten, wollen sie mit Wahlen tun.« Ihm pflichtete Erdoğans Chefberater Mehmet Uçum bei: »Ein Machtwechsel wäre ein Schlag gegen die vollständige Unabhängigkeit der Türkei.«

Maximale Erregung produzierte auch der Justizminister Bekir Bozdag, der vergangene Woche für kurze Zeit an die Wahlkampffront gekarrt wurde, nachdem Erdoğan aus gesundheitlichen Gründen einige Auftritte absagen musste. In der südöstlich gelegenen Provinz Sanliurfa, wo Bozdag kandidiert, sprach er auf einer Versammlung von Notabeln. 

Ob es sich bei seinen Ausführungen um eine spontane Rede oder gezielte Provokation handelte, ist unerheblich, deckt sich die Rede doch mit den Spaltungsabsichten der AKP, die in der Vergangenheit insbesondere in Wahlkampfzeiten fruchteten. Die rhetorische Figur dabei ist einfach gestrickt: Auf der einen Seite die ehrbaren Gottesfürchtigen, die natürlich AKP wählen, auf der anderen die hemmungslosen Hedonisten, welche für die Opposition stimmen.

So einfach kann es in der Welt der AKP zugehen. Demgemäß erklärte Bozdag, was er am kommenden Wahlabend erwartet: »Es wird die geben, die mit Champagner anstoßen und feiern oder jene, die ihre Stirn aus Dankbarkeit niederwerfen und ihren Herrn preisen.« Wie ideologisch nahe Bozdag mit solchen Schmähungen »seinem« Präsidenten steht, konnte man beobachten, als Erdoğan selbst seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu am Sonntag vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul als »Säufer und Betrunkenen« beschimpfte.

Vergangene Errungenschaften

Verschwörungstheorien und die Spaltung der Wählerschaft in anständige Gottesfürchtige und unanständige Gottlose sind die präferierten Propagandamittel der AKP, die auch bei früheren Wahlen bewährte Mittel waren, die zum Einsatz kamen. Da sich diesmal jedoch ein besonders enges Ergebnis abzeichnet, konzentriert sich die Wahlkampfstrategie der AKP vor allem darauf, die eigene Wählerschaft zu konsolidieren.

Wenn schon keine großen Stimmenzuwächse mehr möglich sind, sollen wenigstens die eigenen Wähler bei Laune gehalten werden, damit sie der neuen Staatspartei die Treue erweisen. So ist die Wahlkampagne der AKP im Vergleich zu den letzten weniger dynamisch mit nicht mehr so vielen Großveranstaltungen. Nach den verheerenden Erdbeben vom Februar verkündete Erdoğan zunächst, auf solche Spektakel verzichten zu wollen, und die bis Ende April dauernde Fastenzeit kam dem Aufwärtstrend in den Umfragen entgegen. Deshalb konzentrierte sich die Kampagne überwiegend auf Fernsehauftritte von Erdoğan nach dem Fastenbrechen, mit denen ein Massenpublikum erreicht werden konnte. 

Hoch im Kurs stehen bei solchen Auftritten rührende Anekdoten und Rückblenden, die preisen, was die AKP in den vergangenen 21 Jahren vollbracht und errichtet habe: Brücken, Autobahnen, Flughäfen, Krankenhäuser. Erdoğan inszeniert sich im Wahlkampf dabei stets als pragmatischer Macher. Die abgeschlossenen Projekte sind das Portfolio eines Wahlkämpfers, der dabei klar im Vorteil gegenüber seinem Herausforderer liegt. Tatsächlich kann Erdoğan viele Infrastrukturprojekte vorweisen. Entsprechend ist das Credo der Kampagne auch jetzt: Ihr kennt mich, ihr wisst, was ich geleistet habe.

Politik der Projekte

Der Politikstil Erdoğans lebt von solchen Prestigeprojekten. Ob sie sich auszahlen und nachhaltig sind, spielt für ihn nicht wirklich eine Rolle. So hat sich der Staat insbesondere bei den Brückenbauprojekten für die kommenden Jahre hoch verschuldet, weil diese Bauten im Rahmen sogenannter Public Private Partnerships zustande gekommen sind, bei denen der Staat finanzielle Ausfälle übernimmt, wenn zum Beispiel anders als kalkuliert weniger Kraftfahrzeuge eine Brücke passieren. Entscheidend ist bei solchen Projekten lediglich die Inszenierung, durch die sich Erdoğan Denkmäler zu setzen bestrebt ist, die ihn überleben werden – so wie das geplante Recep-Tayyip-Erdoğan-Museum in der Nähe des Recep-Tayyip-Erdoğan-Stadiums in Kasimpasa, wo der Präsident aufgewachsen ist.  

Wer vorweisen will, was er geleistet hat, möchte dem Wähler auch neue und zukünftige Taten präsentieren. Nicht zufällig fielen deshalb zahlreiche Projektabschlüsse genau in die Zeit des Wahlkampfs, wie zum Beispiel das erste Atomkraftwerk des Landes in Akkuyu.

Seit einigen Jahren ist zudem die Marke Eigenbau moralisch hochbesetzt: Made in Türkiye. Unabhängig davon, ob tatsächlich Bauteile aus heimischer Produktion in Industrieprodukte eingebaut werden, ist das Qualitätsmerkmal »national und lokal« von immenser Bedeutung. Zwar werden alle wichtigen Bestandteile, die aus dem Ausland importiert werden, etwa im ersten türkischen Elektroauto TOGG, lediglich in der Türkei zusammengebaut. Und dennoch geht dieser Makel bei den eigenen Wählern durch, sodass die Produkte als Marke Eigenbau angesehen werden. Üblich sind solche Tricksereien auch in der Verteidigungsindustrie. Pünktlich zur Wahl präsentierte die Türkei auch ihren ersten Flugzeugträger TCG Anadolu, den ersten türkischen Stealth-Fighter Kaan und die neue Tarnkappendrohne ANKA-3.

Anders als führende Industrienationen produziert die Türkei keine starken Hausmarken. Und da das Land rohstoffarm und zugleich vergleichsweise industrieschwach ist, sind Erdöl- oder Erdgasfunde von hoher propagandistischer Wirkung. Im Wahlmonat Mai fließen 25 Kubikmeter Erdgas kostenlos aus dem heimischen Schwarzmeer in jeden Haushalt. Und: Erdoğan ist vor wenigen Wochen ein neuer propagandistischer Coup gelungen: Neue Erdgas- als auch Erdölfelder wurden entdeckt und vor einigen Tagen in einer Propagandashow einem Millionenpublikum präsentiert.

Was bringt das?

Trotz dieser Einlagen und Effekthascherei kann Erdoğan keine neuen Visionen vorweisen. Zwar soll etwa der Wiederaufbau in den vom Erdbeben betroffenen Provinzen innerhalb eines Jahres abgeschlossen sein – geplant sind 650.000 neue Wohnungen –, doch wie die Finanzierung erfolgen wird, steht in den Sternen: Experten der Vereinten Nationen schätzen die Kosten auf rund 100 Mrd. Dollar. Ungeachtet des Ausgangs der anstehenden Wahlen wird die Türkei ihre wirtschaftlichen Probleme zuerst lösen müssen. Daran führt kein Weg vorbei, doch vorherrschend ist im AKP-Lager lediglich Realitätsleugnung und Beschönigung – und Nostalgieproduktion.

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