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Türkischer Wahlkampf in Endphase (Teil 1): Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Kılıçdaroğlu und Erdoğan

Wahlkampfveranstaltung des Kandidaten des türkischen Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu
Wahlkampfveranstaltung des Kandidaten des türkischen Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu (© Imago Images / Depo Photos)

Der Kandidat des türkischen Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu, liegt in den Umfragen zur kommenden Präsidentschaftswahl momentan ganz knapp vor Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan.

Noch bis vor wenigen Wochen erschien für viele Kommentatoren eine Wahlpleite für den amtierenden türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der bei den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai erneut als Kandidat antritt, als unvermeidbar. 

So startete der Wahlkampf für Erdoğan nicht wirklich gut, nachdem es der sonst uneinigen Opposition zunächst gelungen war, eine historisch einmalige Wahlallianz zu bilden und sich Anfang März auf den gemeinsamen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu festzulegen. Als dann auch die kurdische HDP auf einen eigenen Kandidaten verzichtete und andeutete, die Wahlallianz um Kılıçdaroğlu zu unterstützen, gab es im Anti-Erdoğan-Lager allen Grund zur Euphorie.

Die Wahlumfragen

Inzwischen schwindet diese Euphorie jedoch leicht, auch wenn die Chancen der Opposition auf einen Sieg noch nie so gut waren wie bei diesen anstehenden Wahlen. Zwischenzeitlich deutet sich in Umfragen in der Tendenz ein Kopf-an-Kopf-Rennen an, wobei die Opposition leicht in Führung ist.

Die Ergebnisse von Wahlumfragen in der Türkei sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, zumal keine Atmosphäre herrscht, in der die politische Meinung offen mitgeteilt werden kann. Auch Umfragen, die angeben, Anonymität zu gewährleisten, sind nicht zuverlässig genug, um die Wahlpräferenz zu messen. 

Es sollte auch nicht unterschätzt werden, welche wahlentscheidende Rolle den noch unentschiedenen Wählern zukommt, die auf etwa zehn Prozent geschätzt werden. In einigen Umfragen ist gelegentlich intransparent, wie diese Unentschlossenen endgültig auf die Parteien verteilt werden. Zudem sind Meinungsforschungsinstitute nicht selten finanziell an ihre Auftraggeber, welche die Parteien selbst sind, gebunden. Und diese wollen naturgemäß geschönte Ergebnisse sehen. Somit kann es in den Umfrageergebnissen zu deutlichen Verzerrungen führen, was eine zuverlässige Wahlprognose erschwert.

Der Twitteraccount PRaporlar veröffentlichte diese Woche eigene Berechnungen, für die der Mittelwert aus mehreren Umfragen, die im April durchgeführt wurden, errechnet wurde, sodass sich Verzerrungen leichter kontrollieren lassen. Nach den Berechnungen von PRaporlar führt auf der Grundlage von 21 Umfragen etablierter Meinungsforschungsinstitute der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu mit einem leichten Vorsprung von 46,9 Prozent, während Erdoğan auf 45,2 Prozent kommt. 

Da das türkische Wahlgesetz für einen Sieg eine 50-Prozent-Hürde im ersten Wahlgang vorsieht und gegenwärtig weder Erdoğan noch Kılıçdaroğlu diese Hürde erreichten, wird inzwischen mit einer Stichwahl am 28. Mai gerechnet, bei der dann eine einfache Mehrheit ausreicht.

Bei den Parlamentswahlen führt nach den auf der Grundlage von 20 Umfragen errechneten Ergebnissen von PRaporlar aktuell die AKP von Erdoğan mit 36,1 Prozent, gefolgt von der CHP mit 28,9 Prozent, der Grünen Linkspartei (ehemals HDP) mit 10,3 Prozent und der IYI-Partei mit 10,2 Prozent. Die letztgenannten drei oppositionellen Parteien kommen dabei auf knapp 50 Prozent der Stimmen, während die Wahlallianz um Erdoğan mithilfe der MHP (7,1 Prozent) etwa 43 Prozent erreicht. 

Endete die Parlamentswahl mit diesem Ergebnis, reichte es für die Wahlallianz um die CHP und die IYI-Partei zwar für eine Parlamentsmehrheit, jedoch verfehlte sie auch bei einer etwaigen Unterstützung durch die Grüne Linkspartei die erforderlichen Parlamentssitze, um ihr wichtigstes Wahlversprechen einzulösen: Die Rückkehr zum Parlamentarismus, die eine Verfassungsänderung erfordert, wofür 360 Parlamentssitze benötigt werden.

Schwierigste Wahl für Erdoğan

Die kommende Wahl zeichnet sich weiterhin aus verschiedenen Gründen als die schwierigste für Erdoğan ab. In den Umfragen zeigt sich kein Trend dahingehend, dass die AKP oder Erdoğan weitere Wählerkreise erschließen könnte, um einen Stimmenzuwachs zu verzeichnen. Aber man ist bemüht, die eigene Wählerschaft zu konsolidieren. Dass die AKP in den vergangenen Wochen in den Umfragen leicht aufgeholt hat, deutet aktuell jedenfalls auf einen offenen Wahlausgang hin.

Das überrascht, wenn ein rationales Wahlverhalten unterstellt wird. Wer nach den schweren Erdbeben von Anfang Februar nämlich davon ausgegangen ist, in der Türkei würden die politischen Nachbeben das Erdoğan-Regime sicher in die Knie zwingen und es unter den Trümmern der größten Katastrophe seit der Republikgründung begraben, hat das Image des Krisenlösers Erdoğan vergessen. In dessen Wählermilieus ist zwar die Kritik am Krisenmanagement nicht unüberhörbar, wenn auch zurückhaltend, doch trauen eben diese Milieus die Krisenlösung zugleich nur Erdoğan zu, was die Hoffnung der Opposition auf Wechselwähler jedenfalls im Keim erstickt.

Denn so sehr die türkische Misere mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation, Vetternwirtschaft und Korruption und nun auch dem schlechten Krisenmanagement nach den Erdbeben eine politische Probe für die Erdoğan-Regierung bedeuten und diese Indikatoren günstige Vorzeichen für das Ende des Regimes sein müssten, so sehr sind diese Herausforderungen ebenso solche, denen sich auch die türkische Opposition wird stellen müssen.

Der Wahlausgang hängt somit nicht zuletzt davon ab, wer im Wahlkampf den Wähler davon überzeugen kann, der geeignetere Krisenlöser zu sein und den Wiederaufbau in den vom Erdbeben betroffenen elf Provinzen besser bewerkstelligen zu können. Denn am Ende entscheiden die Wähler nicht nur allein aus einer Anti-Erdoğan-Haltung heraus, sondern auch danach, welche Wahlallianz bessere Lösungen anzubieten hat, welcher Allianz insbesondere die Wähler Vertrauen schenken und schließlich zutrauen, Probleme wirklich zu lösen.

Krisenbewältiger Erdoğan  

Problemlöser ist in den traditionellen AKP-Wählermilieus allein Erdoğan, der Kandidat Kılıçdaroğlu genießt wenig Glaubwürdigkeit. Zwar ist das Image des türkischen Präsidenten angeschlagen und seine Gesundheitsprobleme ramponieren inzwischen auch das sonst starke Bild des gestrengen Führers, der jede Krise zu lösen vorgibt. Jedoch wird mit Verweis auf 21 Jahre AKP-Herrschaft und vollbrachte Taten der vergangenen Jahre von seinen Anhänger tatsächlich die Zusicherung unhinterfragt geglaubt, auch die neuen Probleme lösen zu können. Nicht zuletzt zählt in diesen traditionellen Milieus Loyalität stärker als das Eigeninteresse, und die Bindung an Erdoğan verträgt sich durchaus mit einer Kritik an den wirtschaftlichen Problemen, die allerdings nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird.

Entsprechend hat sich Erdoğan bereits in den ersten Tagen nach dem Erdbeben auf den Wahlkampf vorbereitet, der vorwiegend den Wiederaufbau in das Zentrum der Wahlpropaganda rückt. Zu gut weiß der Präsident um die Schwächen der Opposition Bescheid, die mit Kılıçdaroğlu auch noch einen unerfahrenen Kandidaten ins Rennen geschickt hat, der keine eigenen Projekte vorweisen und dessen Expertise tatsächlich bezweifelt werden kann. 

Die Opposition benötigt freilich unzufriedene Wechselwähler aus dem AKP-Milieu. Wahlentscheidend wird darum sein, wer die Stimmen dieser unentschlossenen Wähler, die zehn Prozent ausmachen, im Endspurt noch an sich binden kann.

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