Zumindest halbherzig kommen die Taliban ihrem Versprechen nach, den Opiumanbau in Afghanistan zu beschränken. Was wie eine gute Nachricht klingt, könnte jedoch katastrophale Folgen haben.
Jahrelang finanzierten die Taliban ihren Krieg gegen die westlichen Truppen im Land mit dem Anbau von Schlafmohn und dem Vertrieb von Opium und Heroin. Alle Versuche, sie daran zu hindern, scheiterten. Nach ihrer Machtübernahme im Sommer 2021 sagten sie zu, fortan hart gegen Drogen vorgehen zu wollen.
Offenbar taten sie dies auch, zumindest in einigen Landesteilen, auch wenn sie immer noch am Drogenhandel beteiligt sind. Die Folgen sind verheerend: Viele Kleinbauern haben ihre Subsistenz verloren, da sie auf ihrem Land nichts anderes anbauen können, und stehen nun vor dem Nichts. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich entweder in das Heer verarmter Arbeitsloser in den Städten einzureihen oder zu versuchen, ins Ausland zu fliehen. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist verheerend, und immer mehr Menschen kommen deshalb etwa in den benachbarten Iran, auch wenn sie hier wenig zu erwarten haben. Laut offiziellen Angaben sollen es täglich über zehntausend sein, welche die Grenze überqueren.
Aber auch für die geschätzt 3,5 Millionen Drogenabhängigen in Afghanistan selbst, das Land hat eine der weltweit höchsten Quoten, wird die Lage kritisch, da die Preise in Kabul steigen und sie immer größere Schwierigkeiten haben, ihre Drogen zu finanzieren, weshalb überall, in Parks, auf Plätzen und sogar Müllkippen, Drogenabhängige auf der Straße ihr Leben fristen müssen. Willkürlich nehmen die Taliban Verhaftungen vor und werfen Abhängige in sogenannte Entzugseinrichtungen, die wenig mehr als Höllenlöcher sind.
Auswirkungen auch für Europa
Derweil fürchten Drogenexperten, dass bald die Nachschubprobleme mit Rohopium auch in Europa zu einer massiven Zunahme von Fentanyl-Süchtigen führen könnte, unter denen schon jetzt die USA massiv zu leiden haben. Sollte sich nämlich der Preis für Rohopium erhöhen, steht zu befürchten, dass mehr Menschen zu den billigen, aber auch weit gefährlicheren synthetischen Drogen greifen:
»Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle EMCDDA hat aktuell große Sorge, dass es zu genau dieser Welle auch hier kommt. Grund dafür sind die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan. Der Jahresbericht der EMCDDA kommt zwar zu dem Ergebnis, dass der europäische Drogenmarkt aktuell noch voll und potent ist. Das aber könnte sich 2024 ändern. Die Taliban gehen nämlich aktuell massiv gegen den Anbau von Schlafmohn in Afghanistan vor – aus diesem Mohn wird Heroin gewonnen. Und das meiste in Europa konsumierte Heroin stammt bislang aus Afghanistan.
Bricht die Versorgung ein, könnte das bittere Konsequenzen haben. Dann nämlich könnte der Weg frei sein für synthetische Opioide wie Fentanyl«, schreibt die Drogenbeobachtungsstelle in ihrem Bericht. Denn bei einer Verknappung des Angebots würde Heroin in Europa zwangsläufig teurer – und möglicherweise auch unreiner.«
Enorme Gewinnmargen
Fentanyl ist billig herzustellen, die meisten Bestandteile stammen aus China, die Gewinnmargen sind enorm. Laut Foreign Policy ist dies auch den in Afghanistan in Not geratenen Produzenten bewusst, weshalb sie zunehmend auf die Herstellung synthetischer Drogen umsteigen. So wie sich Assads Regime in Syrien hauptsächlich mit der Produktion des Amphetamins Captagon über Wasser hält und den Nahen Osten und Asien mit Pillen überschwemmt, scheint man nun in Afghanistan Fentanyl für sich entdeckt zu haben.
Afghanistan-Experten müssen ohnehin schmunzeln, werden sie auf das Drogenverbot der Taliban angesprochen. Schließlich verfügt Afghanistan über nichts, das als Exportprodukt attraktiv wäre und Geld ins Land brächte. Nachdem 2021 auch noch der Fluss an Hilfsgeldern aus dem Westen massiv nachgelassen hat, dürften die Taliban kaum auf ihre Haupteinnahmequelle verzichten:
»Da die internationale Hilfe und der Handel weitgehend eingestellt wurden, sind Opium und Meth für viele Menschen in Provinzen wie Kandahar und Helmand die letzte wirtschaftliche Lebensgrundlage. In einem Land, in dem der Mindestlohn im öffentlichen Dienst unter 60 Dollar pro Monat liegt, kann das Sammeln von Ephedra [ephedrinhaltige Pflanze zur Herstellung von Meth; Anm. Mena-Watch] 30 Dollar pro Tag einbringen, was zwar mühsam ist, aber keine besonderen Fähigkeiten oder Investitionen erfordert. In der traditionellen Taliban-Hochburg Kandahar werden mit dem Mohnanbau jährlich rund 400 Millionen Dollar erwirtschaftet.«
Schlimmste Drogenepidemie
Angesichts der Konsequenzen von Fentanyl, über dessen Folgen in der NZZ gerade ein erschütternder Artikel erschienen ist, wäre fast zu wünschen, die Taliban ließen weiterhin Opium anbauen, dessen Nebenwirkungen weit weniger katastrophal sind:
»In kaum einer Grossstadt sind die Auswirkungen so gravierend wie in San Francisco. Durchschnittlich zwei Personen sterben hier zurzeit täglich an einer Überdosis, 40 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. In den Pandemiejahren 2020 und 2021 forderten Drogen mehr Todesopfer als Covid-19, Tötungsdelikte und Verkehrsunfälle zusammen. Die Situation ist so alarmierend, dass selbst der politisch linke Fernsehsender CNN jüngst in einer Sondersendung fragte: ›Was ist mit San Francisco passiert?‹
›Es ist die schlimmste Drogenepidemie, die ich je gesehen habe‹, sagt Keith Humphrey, Professor an der Universität Stanford und Suchtexperte mit 35 Jahren Berufserfahrung. Einzig mit der Crack- und Kokainepidemie in Detroit in den neunziger Jahren könne man die Lage ansatzweise vergleichen – doch Detroit sei arm gewesen. ›Es ist unfassbar, dass es in einer Stadt mit solchem Wohlstand wie San Francisco zu einer solchen Entwürdigung der Menschen und Zerstörung von Gesellschaftsnormen kommen kann.‹
Wer verstehen will, warum diese Drogenepidemie anders ist, der muss verstehen, dass Fentanyl eine ganz besondere Art von Droge ist. Es ist ein extrem wirksames synthetisches Opiat; Spitäler nutzen es, um Schmerzen bei Krebskranken oder Gebärenden zu betäuben. Fentanyl dockt schneller und enger an die Opioid-Rezeptoren im Gehirn an und ist fünfzig Mal so stark wie Heroin. Das macht es extrem gefährlich: Bereits zwei Milligramm – so viel wie eine winzige Prise Salz – können zum Tod führen.«
Angesichts solcher Berichte wird auch verständlich, warum sich zuständige Behörden in Europa sorgen, was geschehen könnte, sollte es zu Nachschubproblemen mit Heroin auf dem europäischen Markt kommen.