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IHRA: Der linke Kampf gegen eine Antisemitismus-Definition

Antisemtische Demonstration gegen Israels Kampf gegen den Hamas-Terror
Antisemtische Demonstration gegen Israels Kampf gegen den Hamas-Terror (Imago Images / Sipa USA)

In der aktuellen Debatte darüber, ob sich im Kampf Israels gegen die Hamas und ihre regionalen Verbündeten eine neue Front ergeben könnte, muss man feststellen, dass dies bereits geschieht.

Ben Cohen

Nach dem Hamas-Pogrom vom 7. Oktober wurde der Krieg an vier Hauptfronten geführt. Israels Kampf gegen den Terror im Gazastreifen und in geringerem Maße im Westjordanland ist die erste Front; die Hamas, die Raketensalven auf israelische Bevölkerungszentren abfeuert, die zweite; Raketenangriffe von und Scharmützel mit Hisbollah-Terroristen an der Nordgrenze die dritte, und die Explosion antisemitischer Angriffe gegen Juden, die außerhalb der Grenzen Israels leben, die vierte.

Diskreditierung von Ängsten

Diese letzte Front ist die anfälligste und unberechenbarste. Israels militärische Macht kann die Juden in der Diaspora nicht vor Vandalismus, tätlichen Angriffen oder Terroranschlägen schützen. Auf diplomatischer Ebene kann Israel an ausländische Regierungen appellieren, ihre Bemühungen um den Schutz ihrer jüdischen Gemeinden zu verstärken, aber viel mehr auch nicht. Kurz gesagt: Geht es um Juden in der Diaspora, ist der jüdische Staat so machtlos wie an keiner anderen der Fronten dieses Krieges.

Parallel zu den Ausschreitungen auf der Straße gibt es eine entsprechende politische Offensive, die darauf abzielt, die jüdische Angst vor dem Antisemitismus zu delegitimieren, indem diese Angst als Totschlagargument diffamiert, mit der die Kritik, die Palästinenser würden unter der Apartheid- und Völkermordpolitik der israelischen Regierung leiden, abgewehrt werden soll. Im Mittelpunkt dieser Delegitimierungsstrategie steht das Ziel, die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) für Antisemitismus auszuhebeln, die von Dutzenden Regierungen und Hunderten zivilgesellschaftlichen Vereinigungen auf der ganzen Welt übernommen wurde.

Wie jeder, der diesen Streit in den zehn Jahren seit der Verabschiedung der IHRA-Definition verfolgt hat, nur zu gut weiß, besteht ihr Hauptvergehen darin, populäre, antizionistische Stereotypen zum Thema zu haben, zum Beispiel die Behauptung, Juden stellten keine Nation dar und hätten kein Selbstbestimmungsrecht; Israel sei ein »rassistisches Unterfangen« und Juden seien Israel gegenüber loyaler als jenen Staaten, deren Bürger sie sind.

Nach Ansicht der IHRA-Gegner komme die Aufnahme dieser Klauseln in die Antisemitismusdefinition einer offenen Zensur der Diskussion über die Rechte der Palästinenser gleich, da deren Schlüsselbegriffe – Rassismus, Apartheid, Völkermord usw. – dadurch von vornherein als antisemitisch gelten würden.

Ein Artikel in der jüngsten Ausgabe der linken US-Zeitschrift The Nation wiederholt viele der Argumente, die Antizionisten im Zusammenhang mit dem aktuellen Konflikt in Gaza gegen die IHRA-Definition vorgebracht haben. Der Text beklagt eine angebliche Armierung des Antisemitismusbegriffs zum Zweck eines neuen »McCarthyimus« und dem Versuch, eine »Kampagne« zu führen, »um die Verteidiger von Menschenrechten in der Öffentlichkeit und an Universitäten zum Schweigen zu bringen«. Anstatt diese Argumente einzelnen zu entkräften, was ich schon einige Male getan habe, möchte ich dieses Mal einen anderen Ansatz der Kritik versuchen.

Gegner der IHRA-Definition weisen oft darauf hin, sich nicht gegen die ersten vier in der Definition genannten Beispiele, die sich auf den klassischen Antisemitismus beziehen, zu wenden, sondern gegen die letzten sieben, die sich mit Antisemitismus im Zusammenhang mit Israel und dem Zionismus befassen. Gegen die ersten vier Beispiele erheben sie keine Einwände, weil sie nicht bestreiten, dass es sich dabei um Beispiele echten Judenhasses handelt, im Gegensatz zu den sieben als politisch manipulativ charakterisierten, weil, so der Vorwurf, hinterrücks israelfreundlichen Beispielen, die unmittelbar danach folgen.

Eindeutig antisemitisch

Es gibt nur ein Problem: Die vier erstgenannten Beispiele, die angeblich nichts mit Zionismus, Antizionismus oder der Existenz Israels zu tun haben, sind in den Transparenten, Schildern, Symbolen und Slogans der Pro-Hamas-Protestbewegung, die Millionen von Demonstranten in Städten auf der ganzen Welt mobilisiert hat, deutlich sichtbar.

Beispiel eins stuft es als antisemitisch ein, »die Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung« zu befürworten, zu unterstützen oder zu rechtfertigen.

Die meisten Menschen würden bei der Auslegung dieses Punktes sofort an die Nationalsozialisten denken, aber die Schrecken des 7. Oktober, die im islamistischen Judenhass wurzeln, sind nicht weniger relevant. Die Hamas ermordete mehr als tausend Juden (sowie viele Nicht-Juden, deren »Verbrechen« es war, im jüdischen Staat zu leben oder zu arbeiten) im schlimmsten Ausbruch antisemitischer Gewalt seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.

Natürlich werden die Hamas-Anhänger im Westen behaupten, diese Opfer wurden nicht als Juden, sondern als »Siedler« angegriffen. Die Absurdität dieser Position zeigt sich in der einzigen Schlussfolgerung, die aus sie überhaupt nur gezogen werden kann: Während der SS-Offizier, der eine Jüdin in der Ukraine vergewaltigte, bevor er ihr in den Hinterkopf schoss, eine kriminelle, antisemitische Tat begangen habe , habe der Hamas-Terrorist, der eine Jüdin im Negev vergewaltigte, bevor er ihr in den Hinterkopf schoss, einen »beglückenden« Akt der Befreiung begangen habe (oder, in den Augen der nuancierteren Hamas-Apologeten, einen fehlgeleiteten, aber historisch verständlichen Akt der Gewalt).

Beispiel zwei der IHRA-Definition besagt, dass es antisemitisch ist, »falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Behauptungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht Jüdinnen und Juden als Kollektiv« aufzustellen, »insbesondere, aber nicht ausschließlich, die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen und Juden«.

Ich habe, ehrlich gesagt, aufgehört zu zählen, wie viele Social-Media-Posts und Videoclips in den vergangenen zehn Wochen genau diesen Mythos verbreitet haben, um zu »erklären«, weshalb westliche Länder es versäumt hätten, einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza zu unterstützen.

Beispiel drei besagt, dass es antisemitisch ist, »Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden« verantwortlich zu machen.

Doch wie viele Synagogen, jüdische Schulen, koschere Restaurants und Gemeindezentren wurden seit dem 7. Oktober mit »Free Palestine«-Graffiti beschmiert? Und ist das nicht ein Beispiel dafür, dass man den Juden eine Kollektivschuld an Israels militärischer Reaktion zuweist? Und ja, auch wenn die große Mehrheit der Juden Israel unterstützt und sich nicht dafür entschuldigt, ist es rechtlich und moralisch sehr weit hergeholt zu behaupten, dass sie für den Tod in Gaza verantwortlich seien.

Juden ins Visier zu nehmen, weil man gegen Israels Taten ist, ist genauso antisemitisch wie das Niederschießen palästinensischer Amerikaner wegen der Verbrechen der Hamas rassistisch und islamophob ist.

Beispiel vier der IHRA-Definition besagt, dass es antisemitisch ist, »die Tatsache, das Ausmaß, die Mechanismen (z. B. Gaskammern) oder die Vorsätzlichkeit des Völkermords an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkriegs (Holocaust)« zu leugnen.

Doch palästinensische Führer – nicht nur die Hamas, sondern auch der berüchtigte Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmud Abbas – tun genau das, und zwar wiederholt und ungestraft. Ihre etwas gröber gestrickten Unterstützer gehen noch einen Schritt weiter, indem sie den ersten Holocaust leugnen und sich einen zweiten wünschen.

Keine dicke rote Linie

Die Tatsache, dass die Anhänger der antizionistischen Mythologie so leicht und bereitwillig jene Aspekte der antisemitischen Ideologie übernehmen, die der Existenz des Staates Israel vorausgehen, unterstreicht, dass es keine dicke rote Linie gibt, die den »progressiven« Antizionismus vom »reaktionären« Antisemitismus trennt.

Beide sind eng miteinander verbunden und teilen gemeinsame Obsessionen über das angebliche Wesen jüdischer Macht und jüdischen Einflusses, über den angeblich falschen Anspruch der Juden, eine Nation zu sein – sie seien besser als »Parasiten« oder »Kolonisten« zu verstehen – und den solcherart angeblich unrettbar kolonialen Charakter des Staates Israel.

Darüber hinaus beschränkt sich der Antizionismus im Nahen Osten nicht auf politische Debatten über den Zionismus und die israelische Souveränität, sondern äußert sich vor allem durch Gewalt. Angesichts der in diesem Monat durchgeführten Umfrage der Harris/Harvard University, wonach zwei Drittel der Amerikaner im Alter von 18 bis 24 Jahren Juden als »Unterdrücker« betrachten, sollten wir auch hier mit ähnlichen Mustern rechnen.

Ben Cohen ist ein in New York lebender Journalist und Autor, der eine wöchentliche Kolumne über jüdische und internationale Angelegenheiten für Jewish News Syndicate schreibt. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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