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Libanon: Das Gespenst des Bürgerkriegs

Spannungen im Libanon: Beerdigung eines der Toten des Schusswechsels vom 14. Oktober. Der Sarg ist in die Flagge der Hisbollah gehüllt. (© imago images/ZUMA Wire)
Spannungen im Libanon: Beerdigung eines der Toten des Schusswechsels vom 14. Oktober. Der Sarg ist in die Flagge der Hisbollah gehüllt. (© imago images/ZUMA Wire)

Nach der jüngsten Gewalteskalation in Beirut sind die Konfliktparteien im Libanon bemüht, einen neuen Bürgerkrieg im Land zu verhindern.

Von Jacques Neriah

Nach blutigen Zusammenstößen zwischen christlichen Kräften und „friedlichen Demonstranten“, die von den „schiitischen Zwillingen“ – den Organisationen Amal und Hisbollah – entsandt worden waren, ging am 14. Oktober im Libanon das Gespenst eines Bürgerkriegs um. Es wird vermutet, dass es sich bei den christlichen Bewaffneten um Mitglieder der Miliz Christliche Libanesische Kräfte handelte, die Anfang der 1980er Jahre vom verstorbenen Präsidenten Bashir Gemayel gegründet wurde. Die Miliz wird derzeit von einem der letzten Waffenbrüder des Ultranationalisten Gemayel angeführt.

Provokation

Die Demonstranten waren keineswegs „friedlich“, sondern mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bewaffnet. Bisher gibt es keine logische Erklärung dafür, warum sie in die christlichen Viertel Beiruts eindrangen und die Bewohner offen provozierten und misshandelten. Der Hisbollah/Amal-Protest hätte sein Ziel, den Justizpalast, über eine kürzere Alternativroute unter Umgehung der christlichen Viertel erreichen können.

In dem vierstündigen Gefecht wurden sieben Mitglieder der Amal und der Hisbollah getötet und mehr als 60 Menschen verwundet, was alle politischen Parteien an den blutigen Bürgerkrieg erinnerte, der von 1975 bis 1990 dauerte und fast 150.000 Libanesen das Leben kostete. Angesichts der gefährlichen Lage erklärten die politischen Führer der libanesischen konfessionellen Gruppen, dass ein weiterer Konflikt dieser Art nicht ihr Ziel sei und dass sie eine solche Katastrophe mit allen Mitteln vermeiden wollten.

Trotzdem gehen die Anschuldigungen von allen Seiten weiter und konzentrieren sich auf zwei politische Gegner: den christlichen Extrem-Nationalisten Samir Geagea und den Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, die sich gegenseitig beschuldigen, einen Bürgerkrieg zu schüren. Nasrallah präsentierte sich in seiner jüngsten Rede als Verteidiger der christlichen Präsenz im Libanon, der den Islamischen Staat in Syrien bekämpft, und beschuldigte Geagea, der Katalysator für die Vernichtung der christlichen politischen Präsenz im Land zu sein.

Geagea seinerseits setzte seinen politischen Kurs und seine Rhetorik gegen die Hisbollah fort und beschuldigte die schiitische Partei, ein iranischer Lakai zu sein, eine Söldnerarmee im Dienste des Ayatollahs in Teheran, deren Ziel es sei, das politische System im Libanon auszulöschen und an seiner Stelle eine iranische Provinz zu errichten.

Die Schießereien in den Stadtvierteln Ayn al-Rummaneh, Tayouneh und Shiyah ließen den wirtschaftlichen Albtraum, in dem die Libanesen seit Oktober 2019 leben, für einen Moment in den Hintergrund treten. (…) Vierzig Prozent der Ärzte und 30 Prozent der Krankenschwestern haben das Land verlassen. Ein Viertel der libanesischen Bevölkerung sind Flüchtlinge aus Syrien. Aufgrund des Energiemangels versinken die Städte in Müllbergen, was Seuchen und anderen Krankheiten Tür und Tor öffnet.

Doch selbst in diesem katastrophalen Umfeld gilt der Ausbruch eines Bürgerkriegs immer noch als Katastrophenszenario. Die verschiedenen verfeindeten Parteien versuchen, einen solchen Konflikt um jeden Preis zu vermeiden, obwohl sie sich sehr wohl bewusst sind, dass er durch einen zufälligen Funken ausgelöst werden könnte. Sowohl Geagea als auch Nasrallah haben sich angesichts dieser Gefahr dafür entschieden, die Gemüter ihrer Untergebenen zu beruhigen.

Die Bedrohungen

Das von Geagea und seinen christlichen politischen Gegnern angeführte christliche Lager erkennt richtig, dass die Hisbollah und ihre Verbündeten nur zwei bis drei Tage brauchen würden, um das Szenario vom Mai 2008 zu wiederholen. Damals stürmten ihre Kämpfer die überwiegend sunnitischen Hochburgen in Beirut und auf dem Berg Libanon als Vergeltung für die Entscheidung des damaligen Premierministers Fouad Siniora, das unabhängige geheime Telekommunikationsnetz der Hisbollah zu zerschlagen.

Das Ansehen der Hisbollah hat jedoch in der öffentlichen Meinung nach ihrer Beteiligung am Syrienkonflikt, bei dem sie sich auf die Seite von Bashar Assad gegen die sunnitischen Rebellen stellte, einen erheblichen Schaden erlitten. Viele schiitische Libanesen kehrten in Särgen nach Hause zurück.

Alle christlichen Politiker sind sich der Gefahr eines Angriffs der Hisbollah mit ihren 100.000 Kämpfern, die Nasrallah nach eigenen Angaben unter seinem Kommando hat, auf die Christen des Landes sehr wohl bewusst (auch wenn die Zahl der Kämpfer übertrieben sein mag). Geagea ging jedoch davon aus, dass eine solche Entwicklung nicht wahrscheinlich sei. Vielmehr muss er die Gelegenheit gesehen haben, sich und seine Partei von einer isolierten Randorganisation zum alleinigen Verteidiger der christlichen Gebiete aufzuschwingen (wie es Bashir Gemayel 1980 tat).

Geagea wollte der christlichen Mehrheit signalisieren, dass er der Auserwählte ist, um sie zu verteidigen, und nicht der „Abtrünnige“, wie der „Verräter“, Präsident Michel Aoun, der christliche Verbündete der Hisbollah, ihn bezeichnet hatte. (…)

Daher kam Geagea wahrscheinlich zu dem Schluss, dass die Hisbollah und ihre Gönner in Teheran derzeit kein Interesse an einem christlich-schiitischen Krieg haben, zumal sich die Hisbollah auf Kollisionskurs mit den sunnitischen Muslimen und Drusen des Libanon befindet, was den Status der schiitischen Organisation im Lande noch prekärer machen würde. (…)

Nasrallahs Drohungen weisen auf eine gewisse Verwundbarkeit der Hisbollah hin. Wie andere libanesische Gemeinschaften gehört auch die schiitische Basis der Hisbollah zu den 78 Prozent der Bevölkerung, die als unter der Armutsgrenze lebend gelten. Die Hisbollah wird von verschiedenen Teilen der libanesischen Gesellschaft heftig kritisiert, die sie für einen Teil der korrupten herrschenden Klasse halten und dafür verantwortlich machen, dass der Libanon in den Bankrott getrieben wurde und ein gescheiterter Staat entstanden ist. Nasrallah konnten die Plakate auf öffentlichen Plätzen nicht entgangen sein, die ihn als gehenkten Mann zeigten.

Seine politische Zugehörigkeit und seine Loyalität zum Libanon werden in Frage gestellt, da er als iranischer Gefolgsmann und Lakai dargestellt wurde. Die Abneigung eines Teils der Libanesen gegenüber der Hisbollah erklärt die Unterstützung, die sie Richter Bitar zugesagt haben, und ihr Beharren darauf, dass die Untersuchung der Explosion vom 4. August im Hafen von Beirut fortgesetzt wird und zu dem erwarteten Ergebnis führt: der Hisbollah die Schuld zu geben.

(Die Analyse „Quo Vadis, Lebanon?“ ist beim Jewish News Syndicate erschienen. Jacques Neriah arbeitet beim Jerusalem Center for Public Affairs. Zuvor war er beim israelischen Militärgeheimdienst und außenpolitischer Berater von Premierminister Jitzchak Rabin. Übersetzung von Florian Markl.)

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