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Libanon: Ein Staat am wirtschaftlichen Abgrund

Demonstranten protestieren vor der libanesischen Zentralbank in Beirut
Demonstranten protestieren vor der libanesischen Zentralbank in Beirut (© Imago Images / NurPhoto)

Das neue Jahr begann für den Libanon so schlecht, wie das alte endete. Vieles spricht dafür, dass die ökonomische Abwärtsspirale andauern wird.

Anfang des Jahres erreichte die bereits angeschlagene libanesische Währung ein Rekordtief. Im Februar fiel der offizielle Kurs des an den US-Dollar gekoppelten libanesischen Pfund von 1.500:1 auf 15.000:1. Weil dem Land die Devisen ausgehen und Banken nur noch begrenzte Abhebungen von Dollar erlauben, floriert der Schwarzmarkt. Dort tauscht man mittlerweile 50.000 libanesische Pfund für einen Dollar.

Noch vor drei Jahren erhielt man für dieselbe Summe rund 33 Dollar. Und die Talfahrt scheint noch lange nicht beendet zu sein. Seit September vergangenen Jahres regiert Premierminister Nadschib Mikati mit einem neuen Kabinett. Ob der Geschäftsmann mit Erfahrung – er war bereits 2005 sowie 2011 bis 2014 Premierminister – das Ruder herumreißen kann, bleibt abzuwarten. Dass er staatliche Ermittlungen gegen Korruption abgewürgt hat, verheißt jedoch nichts Gutes. 

Im Oktober lief die sechsjährige Amtszeit von Präsident Michel Aoun ab. Sein Amt wurde bisher nicht nachbesetzt.

Wurzeln der Krise

Die Wurzeln der Krise reichen bis ins Jahr 1975 zurück. Damals eskalierten politische Spannungen in einen Bürgerkrieg, der erst fünfzehn Jahre später unter internationaler Vermittlung endete. Um zu verhindern, dass eine der ehemaligen Kriegsparteien die anderen politisch dominiert, vereinbarten sie eine gleichmäßige Sitzverteilung von Muslimen und Christen im Parlament. Die Machtaufteilung nach Religion und Konfession sah weiters vor, dass immer ein Maronit Präsident sein musste, nur ein Sunnit Ministerpräsident und nur ein Schiit Parlamentssprecher werden konnte.

Doch dieses Proporzsystem führte dazu, dass die Regierungsparteien nicht im Sinne eines Staates agierten, der sich um alle Bürger in gleicher Weise kümmert. Vielmehr sehen sie sich als Patrone der jeweiligen Religions- und Konfessionsgemeinschaften, die zu vertreten sie vorgeben. Indem sie ihre Parteigänger mit Beamtenposten, Dienstleistungen oder anderen Gefallen versorgen, können sie auf deren Stimme bei den Wahlen zählen. 

Mit den Ministerposten wurden auch die Staatsressourcen unter den Parteien aufgeteilt. Je mehr gut finanzierte Ministerien eine Partei kontrolliert, desto mehr kann sie den Klientelismus füttern, was die Macht der Parteiführer zementiert.

Während die Politiker in erster Linie ihre Klientel und sich selbst versorgten, wurden wichtige Aufgaben wie die Entwicklung der Landwirtschaft und Industrie vernachlässigt. Internationale Kredite schmierten Korruption und die ins Stottern geratene Wirtschaft. Jedes Mal, wenn sie Kredite erhielten, versprachen die Parteiführer, für mehr Transparenz zu sorgen, Korruption zu bekämpfen und die Regierungsarbeit zu verbessern. Aber nichts von all dem geschah.

Neue Steuern – landesweite Proteste

Im Herbst 2019 wurde der Libanon von einer massiven Wirtschaftskrise erfasst. Durch eine Devisenknappheit verlor das libanesische Pfund das erste Mal in zwanzig Jahren gegenüber dem US-Dollar an Wert. Die Abwertung des Pfund ging Hand in Hand mit empfindlichen Preissteigerungen bei Waren und Dienstleistungen. 

Um die Staatseinkünfte zu erhöhen, schlugen Politiker neue Steuern auf Tabak, Benzin und die Nutzung von WhatsApp vor. Das führte im Oktober zu den stärksten landesweiten Protesten seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990. Seitdem kam der Libanon nicht mehr zur Ruhe. Im März 2020 mussten die Politiker den Libanon für bankrott erklären. Die Staatsschulden waren auf über 90 Milliarden Dollar geschnellt, was 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. 

Im darauffolgenden April legte die Corona-Pandemie weite Teile der Politik und Wirtschaft lahm. Im August desselben Jahres kam es zu einer verheerenden Explosion im Hafen von Beirut. Hunderte Tonnen Ammoniumnitrat waren unsicher gelagert worden – die Detonation verwüstete große Teile des Hafenviertels und war noch im 240 Kilometer entfernten Zypern zu hören. Vier Fünftel der Lagerkapazitäten des Hafens wurden damals zerstört. Nachdem als Reaktion auf die Explosion die Regierung zurückgetreten war, konnten sich die Parteien auf keinen neuen Premierminister einigen. Zur wirtschaftlichen Abwärtsspirale kam eine politische Krise hinzu. 

Explodierende Brotpreise

Mit seiner Invasion im Februar 2022 brachte der russische Präsident Wladimir Putin nicht nur den Krieg nach Kiew, er stoppte auch den ukrainischen Weizenexport, was eine enorme Preiserhöhung und Getreideknappheit auf den wichtigsten Exportmärkten im Nahen Osten auslöste. Beirut bekam bis dahin 66 Prozent seiner Getreideimporte aus der Ukraine, zwölf Prozent aus Russland. Durch die Explosion im August 2020 waren jedoch der Großteil der Getreidesilos im Hafen von Beirut zerstört worden. Die Reserven waren knapp. Im Sommer 2022 verteuerten sich die Brotpreise um 550 Prozent.

Seitdem steigen die Lebenserhaltungskosten ständig an. Ein großes Problem ist auch die mangelnde Stromversorgung. Der Staat liefert durchschnittlich ein bis zwei Stunden Strom pro Tag; wer auf eine stabile Versorgung angewiesen ist, kauft sich Generatoren. Doch auch die Preise für Kraftstoffe sind deutlich gestiegen. 

Weil die Banken ihre Dollar-Devisen einbehalten, kommen viele Libanesen nicht mehr an ihre Ersparnisse in US-Dollar heran. Knapp drei Viertel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Auch große Teile des Mittelstands sind in die Armut abgerutscht. Jene, die es sich leisten können, verlassen das Land. Im November 2022 warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO vor einer Cholera-Epidemie im Libanon. Die gefährliche Durchfallerkrankung ist wahrscheinlich aus Syrien eingeschleppt worden. 

Neue Hoffnung Erdgas?

Im Oktober letzten Jahres konnten sich der Libanon und Israel über den Verlauf ihrer Seegrenze im Mittelmeer einigen. Hintergrund des jahrzehntelangen Streits ist eine umstrittene, 860 Quadratkilometer große Fläche in Küstennähe, die beide Staaten als ihre ausschließliche Wirtschaftszone beanspruchten. Der Konflikt um die Seegrenze hatte sich nach der Entdeckung von großen Erdgasvorkommen verschärft.

Die nun erzielte Einigung eröffnet Beirut die Möglichkeit, den größten Teil des Kana-Sidon-Gasfelds vor seiner Küste auszubeuten. Der Beginn der Förderung ist für 2029 geplant. Es gibt bereits Verträge mit dem französischen Großkonzern Total, der italienischen ENI und Qatar Energy.

Die politischen Eliten feiern das bald sprudelnde Erdgas als Ausweg aus der Krise. 6.000 langfristige Arbeitsplätze versprechen sie sich vom Gas- und Ölabbau. Schätzungen zufolge könnte der Libanon durch die Unterwasserbohrungen in den kommenden zwanzig Jahren Einnahmen von rund acht Milliarden Dollar generieren.

Doch viele Libanesen misstrauen dem Bild einer rosigen Zukunft. Die politische Elite stellt seit Jahren ihre Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Staat und der Bevölkerung unter Beweis. Die Befürchtungen sind naheliegend, dass auch das Gas- und Ölgeschäft zu einem Selbstbedienungsladen der Politiker und ihrer Klientel werden könnte. 

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