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Hotel Stalingrad – Israels Rettung 1948. Teil 4: Ad Halom

Messerschmitt-Nachbau: Von der Tschechoslowakei 1948 an Israel geliefertes Avia S-199-Flugzeug
Messerschmitt-Nachbau: Von der Tschechoslowakei 1948 an Israel geliefertes Avia S-199-Flugzeug (© Imago Images / Zoonar)

Am 29. Mai 1948 hat die israelische Luftwaffe ihren ersten Einsatz: Dreißig Kilometer vor Tel Aviv schlagen vier jüdische Veteranen des Zweiten Weltkriegs die ägyptische Armee in die Flucht.

Und mitten darin war etwas wie vier Wesen; die waren anzusehen wie Menschen. … Als ich die Tiere so sah, siehe, da stand ein Rad auf der Erde bei den vier Tieren und war anzusehen wie vier Räder. … Und wenn sie stillstanden und die Flügel niederließen, so donnerte es in dem Himmel oben über ihnen. Und über dem Himmel, so oben über ihnen war, war es gestaltet wie ein Saphir, gleichwie ein Stuhl; und auf dem Stuhl saß einer gleichwie ein Mensch gestaltet. Und ich sah, und es war lichthell, und inwendig war es gestaltet wie ein Feuer um und um. Von seinen Lenden überwärts und unterwärts sah ich’s wie Feuer glänzen um und um.
Hesekiel 1

29. Mai 2023: Vier israelische Kampfflugzeuge überfliegen den Ort Ad Halom in der Nähe der südisraelischen Stadt Aschdod. Sie erinnern an den ersten Kampfeinsatz der israelischen Luftwaffe im Unabhängigkeitskrieg vor fünfundsiebzig Jahren. Drei fliegen in dichter Formation; eines fliegt ein Stück weit entfernt und in etwas anderer Richtung – in Erinnerung an den Piloten Eddie Cohen, der damals abstürzte und starb. 

Bei einer Zeremonie enthüllt Generalmajor Tomer Bar eine Gedenktafel. »Es ist genau fünfundsiebzig Jahre her, seit das Quartett der Messerschmitt-Flugzeuge der 101. Staffel aufstieg, um die ägyptische Panzerkolonne anzugreifen – eine Aktion, die den Feind aus dem Gleichgewicht brachte und aufhielt«, sagt er in seiner Gedenkrede.

Die 101. Staffel der israelischen Luftwaffe, die am 20. Mai 1948 gegründet worden war, war Israels erste gewesen, auch wenn der Name etwas anderes sagt. Die Bezeichnung »101. Staffel« entstand, als jemand meinte, »101. Staffel« klinge besser als »1. Staffel« – und so wurde es gemacht. Bis dahin war die einzige Luftwaffe, die über Israel operierte, die ägyptische gewesen. 

Die Luftangriffe auf Israel begannen, sobald um Mitternacht des 15. Mai 1948 das britische Palästinamandat ausgelaufen war. David Ben-Gurion, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Jewish Agency und erster Ministerpräsident Israels, der am Nachmittag zuvor die Unabhängigkeit verkündet hatte, berichtete in der Nacht von Tel Aviv aus in einer Radioansprache an das israelische Volk von den Bombeneinschlägen in der Stadt. Im Hintergrund vernahmen die Hörer Explosionen und Sirenen. Drei Tage später erfolgte der tödlichste Angriff: Am 18. Mai 1948 bombardierte Ägypten den alten Busbahnhof von Tel Aviv, wobei zweiundvierzig Menschen getötet und mehr als hundert verletzt wurden. 

Jeden Tag und jede Nacht gab es Luftalarm. Der damals 20-jährige Zeitzeuge David Sidorsky, späterer Philosophieprofessor an der Columbia University, erinnerte sich, als eine Aufführung von Beethovens Pastorale des Israel Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Leonard Bernstein wegen wiederholten Alarms »zehn- oder zwölfmal« unterbrochen werden musste. »Er war entschlossen, die sechste Symphonie zu Ende zu spielen«, so Sidorsky über Bernstein.

29. Mai 1948: Die Piloten Lou Lenart (27), Modi Alon (27), Eddie Cohen (25) und Ezer Weizman (23) erhalten den Befehl, dabei mitzuhelfen, einen Vorstoß der ägyptischen Armee auf Tel Aviv bei Aschdod zu stoppen. Bis dahin hatte nichts die ägyptischen Truppen aufhalten können. Ohne Mühe hatten sie den Gazastreifen und die Stadt Aschkelon erobert. 

Der unerwartet heftige Widerstand des Kibbuz Yad Mordechai, der 1943 im Gedenken an Mordechaj Anielewicz, den Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, gegründet worden war, hatte sie immerhin für eine Woche aufhalten können. Nun aber rückten mehr als zehntausend Soldaten, vor allem Freiwillige der Muslimbruderschaft, mit Panzern und Artillerie entlang der Küste auf Tel Aviv vor. Unterstützt wurden die Ägypter von fünfzehn Kampfflugzeugen. Lediglich fünf der siebenundzwanzig jüdischen Siedlungen in dem Gebiet verfügten über mehr als dreißig Verteidiger. Die Armee, die sie schützen sollte, bestand aus nur zwei Palmach-Brigaden: der Negev-Brigade mit 800 und der Küsten-Brigade mit 2.700 Soldaten. Panzerbrechende Waffen waren so gut wie nicht vorhanden.

… dann wird es kein Israel mehr geben

Lou Lenart erinnerte sich später in einem Interview, wie Shimon Avidan, der Kommandant der Givati-Brigade, zum Flugplatz gekommen sei und dort erfahren habe, »dass wir Flugzeuge hatten«. Avidan habe gesagt: »Sechs Meilen von hier steht die gesamte ägyptische Armee, Stoßstange an Stoßstange, so weit ich blicken kann. Wir könnten versuchen, sie heute Abend anzugreifen, aber wir haben nichts. Und wenn wir sie nicht heute Abend angreifen, werden sie am Morgen in Tel Aviv sein, und es wird kein Israel mehr geben.«

Die Kampfflugzeuge vom Typ Avia S-199, die baugleich mit der deutschen Messerschmitt Bf-109 aus dem Zweiten Weltkrieg waren, wurden erst am 22. Mai aus der Tschechoslowakei angeliefert. Ein Vertrag über den Kauf von zunächst zehn Kampfflugzeugen war erst Ende April 1948 von Ehud Avriel, Otto Felix und dem tschechoslowakischen Stabschef General Bocek unterzeichnet worden. Anfang Mai wurde er von Premierminister Klement Gottwald und Verteidigungsminister Ludvik Svoboda genehmigt. Insgesamt bestellte Israel fünfundzwanzig Messerschmitts Bf 109, von denen dreiundzwanzig in Israel ankamen. Dort wurden sie nach dem hebräischen Wort für Messer, Sakin, bezeichnet. 

Bei der Fertigung waren die tschechoslowakischen Mechaniker auf Schwierigkeiten gestoßen. Die für den Einbau in der Bf 109 vorgesehenen Motoren des Typs Daimler-Benz 605 waren bei einem Brand in einem Lagerhaus in Krásné Březno zerstört worden. Die Techniker entschieden sich als Ersatz für Jumo-211F-Motoren und Propeller, die im Zweiten Weltkrieg für die zweimotorigen Bomber Heinkel-111 benutzt worden waren. Doch diese Motoren waren nicht als Motoren für Jäger konzipiert und bereiteten beim Einbau in die Zelle der 109 große Probleme. Die Triebwerke waren untermotorisiert und nicht mit dem Bug-MG der Bf 109 synchronisiert: Beim Feuern hätten die israelischen Piloten ihren eigenen Propeller abgeschossen.

Schließlich war entschieden worden, auf das Buggewehr zu verzichten und die Maschinen stattdessen mit dem in alten Beständen noch vorhandenen Rüstsatz VI auszustatten, also mit Maschinengewehren, die unter die Tragflächen der Messerschmitts montiert wurden. Dadurch verschlechterten sich die Flugeigenschaften noch mehr. Die Flugzeuge, die Israel letztlich geliefert bekam, waren zusammengestoppelt und von deutlich schlechterer Qualität als jene der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg.

Die Flugzeuge mussten für den Transport zerlegt werden, da sie sonst nicht in den Laderaum der Frachtflugzeuge gepasst hätten. Mit an Bord der Frachtmaschine C-54B waren die tschechoslowakischen Techniker Miroslav Rulc, František Smrček, Michal Vygiera, Jan Valášek und Vojtěch Kořenek. Ihr Job bestand darin, die Flugzeuge in Israel so schnell wie möglich zusammenzubauen.

Auch die israelischen Piloten waren gerade erst von einem Kurzlehrgang aus der Tschechoslowakei zurückgekehrt. Geflogen waren sie schon im Zweiten Weltkrieg: Alon und Weizmann bei der britischen Royal Airforce, Lenart bei der US Air Force, und Cohen bei Einsätzen der South African Air Force über dem Mittelmeer.

In České Budějovice (Budweis) hatten sie ein rudimentäres Training erhalten. Zunächst durften sie einige Runden in Trainingsmaschinen des tschechoslowakischen Typs Avia C-2 fliegen. In Messerschmitt-109-Trainingsmaschinen konnte jeder Pilot jedoch nur ein oder zwei Flugstunden nehmen. Es gab weder einen Flug in großer Höhe noch einen Formationsflug, keinen Bombenabwurf und keine Schießübungen. Dies lag nicht an den Gastgebern. »Ihr habt noch nicht viel gelernt«, meinten sie beim Abschied. Die Gäste antworteten, sie müssten so schnell wie möglich nach Israel, denn die israelische Armee hatte nicht einmal Flugabwehrgeschütze. Die Piloten mussten Israel retten.

Dreißig Kilometer vor Tel Aviv

Bei der Rückkehr hatte Lenart eine kühne Idee: Die britische Regierung hatte Ägypten gerade fünfzehn nagelneue Spitfires geliefert. Sie standen auf einem Flugfeld in El-Arish im Sinai. Wie wäre es, sie zu bombardieren, solange sie noch am Boden waren? Doch dafür war jetzt keine Zeit. Alle vier Messerschmitts, die die tschechoslowakischen Mechaniker bis dahin auf der Luftwaffenbasis Ekron (Tel Nof) zusammengebaut hatten, wurden zur Abwehr benötigt. 

Am späten Nachmittag des 29. Mai 1948 befand sich die Zweite Brigade der ägyptischen Armee, zehntausend Mann mit zehn Panzern und fast fünfhundert weiteren gepanzerten Fahrzeugen, weniger als dreißig Kilometer von Tel Aviv entfernt. Kurzfristig aufgehalten wurde sie nur dadurch, dass die israelische Givati-Brigade die Brücke über den Fluss Lachisch bei Ashdod am 12. Mai gesprengt hatte. Der Lachisch ist nicht sehr breit, wie man auf diesem Foto sehen kann. Innerhalb weniger Stunden würden die Ägypter eine mobile Behelfsbrücke herbeigeschafft haben. Wenn die Panzer sie überquerten, hätte die Givati-Brigade keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen. So wäre die Straße nach Tel Aviv offen gewesen.

Die Entscheidung sei also »sehr einfach« gewesen, sagte Lenart. Der Plan, El Arish zu bombardieren, musste fallengelassen werden. Um achtzehn Uhr starteten die vier Messerschmitts vom Flugplatz Ekron, um die hinter der zerstörten Brücke konzentrierten ägyptischen Truppen zu bombardieren und zu beschießen. Jedes Flugzeug war mit zwei 70-Kilogramm-Bomben, zwei 13-mm-Maschinengewehren und zwei 20-mm-Kanonen bewaffnet. Zeit für einen Probeflug war nicht gewesen. Die Operation, an der das Schicksal des jüdischen Volkes hing, war gleichzeitig der Jungfernflug.

Von diesem israelischen Luftangriff wurden die Ägypter völlig überrascht, da sie mit einer israelischen Luftwaffe nicht gerechnet hatten. Der Angriff richtete keinen großen Schaden an, doch der psychologische Effekt war erheblich. In einem vom Geheimdienst abgefangenen ägyptischen Funkspruch hieß es: »Wir sind von feindlichen Flugzeugen schwer angegriffen worden, wir zerstreuen uns.«

Lou Lenart und Ezer Weizman kehrten ohne Schaden zur Luftwaffenbasis zurück. Alons Flugzeug wurde getroffen, aber er schaffte es, knapp nach zwanzig Uhr unverletzt in Ekron eine Bruchlandung hinzulegen. Eddie Cohen stürzte ab und kam dabei ums Leben. Er war der erste Gefallene der israelischen Luftwaffe und wurde in Tel Aviv beigesetzt, nachdem seine Leiche Ende 1949 gefunden worden war. 

Die ägyptischen Offiziere waren durch den Luftangriff eingeschüchtert und Tel Aviv vorerst außer Gefahr. Lou Lenarts Plan, die ägyptischen Flugzeuge am Boden zu zerstören, wurde zwanzig Jahre später, am 5. Juni 1967, aufgegriffen. Er würde Israel den Sieg im Sechstagekrieg sichern. Lou Lenart sagte später über den 29. Mai 1948: 

»Ich bin gesegnet und glücklich: In einem exakten Augenblick der Geschichte war ich in der Lage, einen Beitrag zu Israels Überleben zu leisten. Einen Tag früher oder später hätte das nicht funktioniert.«

Man kann Churchills Worte aus dem August 1940 zitieren: »Noch nie haben so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt.« Nicht weit entfernt vom Roten Meer hatten sich wie zu Moses Zeiten die ägyptischen Streitwagen gegen die Juden versammelt. Und vier Juden in ihren fliegenden Kisten hatten sie aufgehalten. »Ad Halom« ist übrigens Hebräisch für »bis hierhin«, was hier bedeutete: Bis hierhin und nicht weiter kam die ägyptische Armee.

In der Serie »Hotel Stalingrad – Israels Rettung 1948« erschienen:

Teil 1: Exodus
Teil 2: Bab el-Wad
Teil 3: Kyrus
Teil 4: Ad Halom
Teil 5: Liebesgrüße aus Moskau
Teil 6: Jan Masaryk
Teil 7: Operation Balak
Teil 8: Golda Meyerson in Amerika

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