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Israel und der Holocaust (Teil 2): Die Rolle der Holocaust-Überlebenden

Israelische Soldaten beim Besuch der Halle der Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. (© imago images/UPI Photo)
Israelische Soldaten beim Besuch der Halle der Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. (© imago images/UPI Photo)

Israel bot den Holocaust-Überlebenden eine neue Heimat, doch der Umgang mit ihnen blieb lange ambivalent.

Von Daniel Schuster

Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 steht in einer historischen Linie, die durch Jahrhunderte jüdischer Diaspora, Jahrzehnte zionistischer Bewegung und den Holocaust verläuft. Welche Rolle spielten die Überlebenden der systematischen Ermordung der europäischen Juden in der Entstehung Israels, und wie beeinflusste der Holocaust die Identität des jungen Staates?

In den Trümmern des nachkriegszeitlichen Europas fanden sich Millionen von Menschen heimatlos, vertrieben und verloren. Für die jüdische Gemeinschaft, die gerade den Horror des Holocausts erlebt hatte, war die Situation besonders prekär. Zwei zentrale Aspekte dieser Zeit sind die DP-Lager (Displaced Persons) und die Bricha-Bewegung, die beide die verzweifelte Suche der jüdischen Gemeinschaft nach Sicherheit, Heimat und Würde widerspiegeln.

DP-Lager: Inseln der Überlebenden

Nach der Befreiung der Konzentrationslager wurden viele Überlebende in DP-Lagern untergebracht, die hauptsächlich von den Alliierten verwaltet wurden. Diese Lager, die in Deutschland, Österreich und Italien verstreut waren, dienten als vorübergehende Unterkunft für diejenigen, die entweder keine Heimat mehr hatten, in die sie zurückkehren konnten, oder Angst davor hatten, in jene Orte zurückzukehren, deren jüdische Gemeinden meist restlos ausgelöscht waren.

Die DP-Lager wurden rasch zu Zentren jüdischen Lebens und zionistischer Aktivität. Schulen, Theater und Zeitungen wurden gegründet, Lagerbewohner von zionistischen Organisationen ausgebildet und auf das Leben in Palästina vorbereitet. In den »DP-Lagern integrierte das kulturelle und soziale Leben der jüdischen Gruppen sowohl Aspekte der traditionellen jüdischen Kultur als auch zionistische, nationalistische Aspekte. Infolgedessen entstand eine neue jüdische nationalistische Kultur, die sowohl aus der Erinnerung an die Shoah als auch aus nationalistischen Lehren, die in der jüdischen biblischen Tradition verwurzelt sind, erwuchs.«[1]

Trotz dieser kulturellen und politischen Aktivitäten waren die Bedingungen in den Lagern mit überfüllten Quartieren und unzureichender Versorgung oft hart. Sie bildeten auch ein Reservoir an Personen, die für die Staatsgründung Israels kämpften. Boaz Cohen schreibt dazu: »Die Rekrutierung war in den DP-Lagern weit verbreitet; Überlebende im kampffähigen Alter wurden bei der Beförderung nach Palästina bevorzugt.«[2]

Die Bricha: Auf dem Weg nach Palästina

Die Bricha (Hebräisch für »Flucht«) war eine organisierte Bewegung, die darauf abzielte, Juden aus dem von den Nationalsozialisten befreiten Europa nach Palästina zu bringen. Dies geschah in einer Zeit, in der Großbritannien, das Palästina nach dem Mandat des Völkerbundes verwaltete, die Einwanderung von Juden stark einschränkte.

»Die Aufgabe der Bricha bestand darin, sich um die jüdischen DPs und Flüchtlinge zu kümmern (…) und sie dann auf den Weg zu schicken. Ab Spätherbst 1945 geriet die Bricha zunehmend unter die Kontrolle des Mossad le-Aliya Bet, der von der Hagana, der jüdischen Untergrundarmee in Palästina, mit der Organisation der illegalen Auswanderung aus Europa betraut worden war.«[3]

Zionistische Gruppen, insbesondere die Haganah, organisierten und koordinierten den Transfer von Überlebenden durch Europa, oft auf gefährlichen und illegalen Wegen. Diese Flüchtlinge wurden in sogenannten Kibbutzim Shluvim (»gesendete Gemeinschaften«) organisiert und dann auf Schiffe gebracht, die versuchten, die britische Seeblockade zu durchbrechen und Palästina zu erreichen.

Die Bricha und die darauffolgende Aliyah Bet (illegale Einwanderung nach Palästina) waren nicht nur physische Bewegungen von Menschen, sie repräsentierten auch das tiefe Bedürfnis der jüdischen Gemeinschaft, nach Jahrhunderten der Verfolgung und Marginalisierung eine Heimat und eine eigene Souveränität zu finden.

Die Staatsgründung und die Integration der Shoah-Überlebenden

Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte des jüdischen Volkes: eine Rückkehr zur nationalen Souveränität nach fast zweitausend Jahren Diaspora. Holocaust-Überlebende spielten im Unabhängigkeitskrieg Israels von 1948 eine bedeutende Rolle:

»Der Unabhängigkeitskrieg von 1948 machte deutlich, wie wichtig die Überlebenden des Holocaust als Arbeitskräfte für die entstehenden israelischen Streitkräfte waren. Mehr als 20.000 Überlebende, etwa zehn Prozent der 1948 in Israel lebenden Menschen, dienten in der Armee.«[4]

Doch neben den politischen und territorialen Herausforderungen stand Israel vor einer ebenso großen sozialen und kulturellen Aufgabe: der Integration von Tausenden von Holocaust-Überlebenden, die den jungen Staat als ihre neue Heimat ansahen.

Integration und gesellschaftliche Herausforderungen

Die Eingliederung dieser Überlebenden in die israelische Gesellschaft war komplex. Zwar fanden sie in Israel eine Gemeinschaft, welche die Tiefen ihres Leids verstand, doch gleichzeitig gab es auch Vorbehalte und Missverständnisse. Einige Sabras, in Israel geborene Juden, betrachteten die Überlebenden mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis, oft mit der Annahme, dass diese »wie Schafe zur Schlachtbank« gegangen seien.[5] Dies stand im Gegensatz zum idealisierten Bild des starken, unabhängigen israelischen Pioniers.

Die Überlebenden selbst kämpften mit inneren Dämonen, den Erinnerungen und den Folgen des Traumas. Viele versuchten ihre Vergangenheit zu verdrängen und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, indem sie Familien gründeten und sich in die Arbeitswelt integrierten. Viele hielten auch ihre Erlebnisse jahrelang geheim, sei es aus Scham, aus dem Wunsch, ihre Familien zu schützen, oder aus Angst vor Stigmatisierung. In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung gab es in Israel eine Art kollektives Schweigen über den Holocaust. Überlebende konzentrierten sich auf den Aufbau ihres neuen Lebens und vermieden es oft, über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen.

Das Trauma des Holocausts wirkte sich nicht nur auf die Überlebenden selbst, sondern auch auf ihre Familien aus. Viele Kinder von Shoah-Überlebenden wuchsen mit den unausgesprochenen Schatten der Vergangenheit ihrer Eltern auf. Sie spürten die Abwesenheit von Großeltern, Onkeln, Tanten und anderen Verwandten und waren oft Zeugen der Albträume und der stummen Qual ihrer Eltern.

Die schrittweise Anerkennung

In den ersten Jahrzehnten Israels wurde das Thema Holocaust im öffentlichen Diskurs oft gemieden, obwohl sich insbesondere die Knesset immer wieder damit beschäftigte: »Die Knesset debattierte 1951 über den Holocaust-Gedenktag, 1952 über Reparationen aus Deutschland, 1953 über die Einrichtung von Yad Vashem (der nationalen Holocaust-Gedenkstätte) und 1959 über einen erweiterten Holocaust-Gedenktag.«[6]

Nichtsdestotrotz dauerte es, bis die israelische Gesellschaft die Bedeutung und Notwendigkeit erkannte, die Erfahrungen und das Leid der Überlebenden öffentlich anzuerkennen und zu würdigen. Der Eichmann-Prozess im Jahr 1961 spielte eine wichtige Rolle dabei, den Holocaust in das nationale Bewusstsein zu rücken. Mit der Zeit wurden Institutionen wie Yad Vashem nicht nur zu Zentren der Erinnerung, sondern auch zu Orten, in denen die Beiträge und Opfer der Überlebenden gewürdigt wurden.

Der israelische Historiker Tom Segev schrieb in seinem Buch Die siebte Million:

»Nach dem Krieg herrschte ein großes Schweigen über die Vernichtung der Juden. Es folgten moralische und politische Konflikte, darunter die schmerzhaften Debatten über die Beziehungen zu Deutschland, die die Israelis langsam dazu brachten, die tiefere Bedeutung des Holocausts zu erkennen. Der Prozess gegen Adolf Eichmann diente als Therapie für die Nation und setzte einen Prozess der Identifikation mit der Tragödie der Opfer und Überlebenden in Gang, der bis heute anhält.«[7]

Fazit

Die Gründung Israels und die Integration der Shoah-Überlebenden sind eng miteinander verbunden. Das junge Israel bot den Überlebenden eine neue Heimat und Hoffnung, während die Überlebenden durch ihre reine Existenz und ihre Beiträge zur Gesellschaft das Erbe und den Geist des jüdischen Staates stärkten. Trotz anfänglicher Herausforderungen und Missverständnisse wurde der Wert dieser Gemeinschaft schließlich anerkannt und ist heute ein zentraler Teil der israelischen Identität.


[1] Ouzan, Françoise: Rebuilding Jewish identities in Displaced Persons Camps in Germany 1945–1957, in: Bulletin du Centre de recherche français à Jérusalem Nr. 14/2004, S. 98–111, hier S. 109.

[2] Cohen, Boaz: Israel, in: Hayes, Peter, Roth, John K. (Hrsg.): The Oxford Handbook of Holocaust Studies, Oxford 2012, S. 575–589, hier S. 577.

[3] Rolinek, Susanne: Clandestine operators: The Bricha and Betar network in the Salzburg area, 1945–1948, Journal of Israeli History Vol. 19 (3) 1998, S. 41–61, hier S. 41.

[4] Boaz: Israel.

[5] Vgl. Feldman, Yael S.: Not as Sheep Led to Slaughter’? On Trauma, Selective Memory, and the Making of Historical Consciousness, Jewish Social Studies Vol. 19 (3), Spring/Summer 2013, S. 139–169.

[6] Boaz: Israel, S. 577.

[7] Segev, Tom: The Seventh Million: The Israelis and the Holocaust, New York 1993, S. 11.

(Lesen Sie hier Teil eins der zweiteiligen Serie.)

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