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100 Tage Krieg: Israel kämpft an vielen Fronten gleichzeitig

Der Autor und Sprecher der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in Reserve, Arye Sharuz Shalicar
Der Autor und Sprecher der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in Reserve, Arye Sharuz Shalicar

Arye Sharuz Shalicar ist Autor und Sprecher der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in Reserve. Mit Gaby Spronz sprach er über hundert Tage Krieg gegen den Terror der Hamas.

Mena-Watch (MW): Herr Shalicar, danke, dass Sie sich in dieser stressigen Situation, in der Israel und Sie selbst sich momentan befinden, die Zeit für dieses Interview nehmen. Als IDF-Veteran stelle ich vermutlich ganz andere Fragen, als jene, die gewöhnlich aus Deutschland kommen. Israel kämpft an mehreren Fronten, in Gaza gegen die Hamas, im Norden gegen die Hisbollah und im Westjordanland gegen den Terror. Wird der Kampf in Syrien gegen das Ausbreiten des Irans auch noch geführt? Oder wird die Situation seitens des Irans ausgenützt, um seine Position in Syrien zu stärken?

Arye Sharuz Shalicar (AS): Also, erst einmal sind wir an mehreren Kampfzonen gleichzeitig im Einsatz, wie Sie gesagt haben. In Gaza, im Libanon und auch in Syrien haben wir auf den Beschuss schon reagiert. Das sind drei Arenen und dann natürlich das Westjordanland, wo wir auch im Anti-Terrorkampf sind. Das wären dann schon vier Bereiche und als fünfter ist natürlich die Heimatfront nicht zu vergessen, also Israel selbst, wo wir ebenfalls Raketenbeschuss verzeichnen müssen. Erst gestern gab es wieder einen im Norden, bei dem Menschen getötet wurden.

Und im Süden gibt es auch immer noch Beschuss. Die Heimatfront mit ihrem Reservedienst, dem Raketenbeschuss und den evakuierten Menschen und so weiter und so fort. Das heißt, wir haben im Land selbst auch eine Art Kampfzone. Das allein sind also schon fünf Zonen, und wenn man noch den äußeren Gürtel dazu nimmt, den Jemen, den Irak und natürlich über allem das Mullah-Regime im Iran, ist man schon bei mindestens acht Zonen, die wir im Auge haben müssen.

MW: Wie sieht es denn intern mit den arabischen Israelis aus? Da ist die Situation ruhig, oder?

AS: Ja, in diesem Sektor ist es ruhig, weil die arabischen Israelis natürlich größtenteils gemerkt haben, dass erstens die Hamas am 7. Oktober auch Araber und Muslime ermordet und entführt hat, und zwar Dutzende. Zum zweiten macht der Raketenbeschuss aus Gaza, dem Libanon, Syrien oder dem Jemen natürlich keinen Unterschied zwischen den israelischen Muslimen, Christen oder Juden. Wir sind alle unter Beschuss. Das Massaker hat uns alle getroffen und deshalb merkt man, dass im Endeffekt auch die arabischen Israelis sich wünschen, dass wir die Terroristen besiegen.

MW: Angesichts der verstärkten Kooperation zwischen Moskau und Teheran aufgrund der russischen Abhängigkeit von iranischen Drohnenlieferungen für den Einsatz in der Ukraine: Gibt es noch eine israelische Abstimmung mit Russland zwecks Vermeidung von möglichen Zusammenstößen bei israelischen Luftschlägen in Syrien?

AS: Die Situation ist nach wie vor so, dass es kein Interesse an einer Konfrontation zwischen Russland und Israel gibt. Natürlich ist das Bündnis zwischen Russland und dem Iran bekannt, auch in Sachen Drohnen wie zum Beispiel den iranischen, die die Russen in der Ukraine einsetzen. Und natürlich ist Israel auch die Kooperation Russlands mit dem Iran in Sachen Syrien bekannt. Seit vielen Jahren ist uns die gesamte Situation in der Region bewusst – und nicht nur uns, sondern auch den Amerikaner und der NATO. Deshalb muss man natürlich alles im Auge behalten und für jede Entwicklung, auch global, muss man versuchen, vorbereitet zu sein.

Wir haben kein Interesse an einer Eskalation mit weiteren Parteien in der Region. Wir konzentrieren uns in erster Linie auf die – momentan allen voran – Terrormilizen in Gaza, im Libanon und natürlich auch im Westjordanland. Der Hauptfokus liegt auf dem, was sich direkt an unseren Grenzen befindet, und danach kommt wie gesagt Syrien, der Irak, der Jemen und vor allem der Iran. Alles, was darüber hinausgeht, ist nicht nur eine israelische Sache, sondern im Endeffekt auch eine globale.

Internationale Gewässer sind keine israelische Sache, sondern eine internationale Angelegenheit, die deshalb von der durch die Amerikaner und Großbritannien angeführte Koalition unter der Mitwirkung von Australien, Holland, Bahrain und Kanada angegangen werden muss. Da hat sich, wenn man will, der globale Westen zusammengetan, um dieser Huthi-Piraterie, diesen Aggressionen von radikal-islamistischen Terroristen etwas entgegenzusetzen.

Man muss sagen, dass die Welt aufgewacht ist, es hat drei Monate gedauert, aber die Welt, die westliche Welt hat sich in einer Koalition zusammengetan, um sich den jemenitischen Huthi-Terroristen, die unter Anleitung des iranischen Mullah-Regimes und seiner Revolutionsgarden operieren, endlich entgegenzustellen und sie zu bekämpfen. Das ist eine internationale Angelegenheit, weil der Raketenbeschuss von Schiffen in internationalen Gewässern, im Bab al-Mandab, im Roten Meer, das eine Haupthandelsroute zwischen Ost und West ist, kein israelisches, sondern ein internationales Problem darstellen. Die Hoffnung muss sein, dass in den nächsten Wochen die Huthis und der hinter ihnen stehende Iran ihre Eskalationen nicht weiter vorantreiben.

MW: In den vergangenen Tagen war von einem Abzug von Teilen der israelischen Militärkräfte aus Gaza die Rede. Was bedeutet das für die Fortsetzung des Kriegs?

AS: Wir ziehen niemanden zurück, sondern fokussieren uns auf andere Gebiete. Das heißt, wir haben im nördlichen Gazastreifen die Hamas geschlagen und sie ist nicht mehr in der Lage, Operationen wie jene vom 7. Oktober auf die Beine zu stellen. Jetzt liegt der Fokus auf dem zentralen und insbesondere dem südlichen Gebiet des Gazastreifens, allen voran natürlich auf Khan Junis, einer Terror-Hochburg der Hamas, wo auch Yahya Sinwar und andere Führer vermutet werden.

Es sind siebzehn Bataillone der Hamas geschlagen worden, sodass sie nicht mehr in der Lage sind, wie bisher zu operieren. Jetzt bleiben noch die restlichen sieben Bataillone, die im Kampf sind und da liegt nun der Fokus, darauf konzentrieren sich die israelischen Einsatzkräfte. Aber noch einmal: Im Endeffekt müssen wir in einer breiten Spanne von Gefahren und Bedrohungen jeden Tag auch an anderen Grenzen operieren, wie vorhin schon besprochen, 360 Grad um uns herum.

MW: Zur Lage der Entführten: Gibt es noch Hoffnung, die Geiseln zu befreien?

AS: Ja, absolut, ich bin von Grund auf optimistisch. Unser Kampf dient allen voran auch ihnen. Die Geiseln zu befreien und sie zurückzubekommen ist alles, was wir uns wünschen. Wir wissen natürlich, dass über zwanzig von ihnen schon ermordet wurden und als Leichen dort gehalten werden, aber insgesamt sind es 136, deren Rückkehr wir wünschen. Darauf liegt ebenso der Fokus wie gleichzeitig darauf, die Hamas weiterhin so stark zu treffen, ihre Infrastruktur zu zerstören, oberirdisch und unterirdisch inklusive der Terror-Köpfe, sodass sie nach diesem Krieg nie wieder imstande sein werden, sich davon zu erholen und ein ähnliches Massaker anzurichten.

MW: Vor einigen Tagen wurde die Radarstation der IDF auf dem Berg Meron im Norden Israels durch die Hisbollah getroffen. Wie konnte das passieren?

AS: Die Hisbollah ist genau wie die Hamas, man darf diese Terrormilizen nicht unterschätzen. Die Hisbollah ist wahrscheinlich die stärkste Terrororganisation der Welt, vergleicht man ihr Raketenarsenal mit jenen anderer Organisationen. Die Hisbollah hat zwischen 150.000 und 200.000 Raketen, von denen einige Präzisionsraketen mit hoher Sprengkraft und verschiedenster Reichweite sind, die bis nach Eilat im äußersten Süden Israels reichen.

Hinzu kommt, dass die Hisbollah die drittreichste Terrororganisation der Welt ist, auch das darf man nicht unterschätzen. Sie hat zwei Milliarden Dollar im Jahr an Finanzen zur Verfügung. Ungefähr die Hälfte davon stammt aus dem Iran und die andere aus Einnahmen aus dem Drogenhandel, Schmuggel und anderen illegalen Quellen.

MW: Das israelische Abwehrsystem Iron Dome wurde für das Abfangen ballistischer Angriffe mit steiler Flugroute, sprich (Kurzstrecken-)Raketen, wie die Hamas sie einsetzt, entwickelt. Wie aber sieht es mit der Abwehr von Präzisionsraketen bzw. Drohnen und Angriffe mit horizontaler Flugroute aus?

AS: Der Iron Dome ist nur ein System von mehreren, die das gesamte Verteidigungssystem darstellen und wird, wie schon gesagt, gegen Kurzstreckenraketen eingesetzt. Hinzu kommt David Sling gegen Mittelstreckenraketen und Arrow 3 gegen Langstreckenraketen. Arrow 3, das auch Deutschland von Israel kauft, ist eine Weiterentwicklung des amerikanische Patriot-Systems. Es ist dieses gesamte Abwehrsystem, inklusive jenen, die von der Verteidigungsindustrie Israels entwickelt werden wie das Laser-Abwehrsystem, das gegen alle Arten von Luftangriffen eingesetzt wird.

MW: Die Kataib Hisbollah im Irak hat vor Kurzem Raketen gegen Israel abgefeuert. Wie hoch schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass sie aktiv in den Konflikt einsteigt?

AS: Zwei Dinge: Drohnen, die aus dem Irak über Syrien in Richtung Israel geschickt wurden, ist das eine …

MW: Waren das Angriffe auf die israelischen Gasfelder?

AS: Das kann ich Ihnen nicht sagen, da wir sie abgefangen haben. Aber ja, es gab Angriffe aus dem Irak, aber nur vereinzelt. Es ist eine besondere Situation, da die Amerikaner im Norden des Iraks direkt vor Ort sind.

Das zweite, was man in Deutschland nie anspricht, ist, dass rund zwanzig Prozent der Raketen, sowohl von der Hamas als auch von der Hisbollah, im eigenen Gebiet niederfallen. Im Falle der Hamas waren es aktuell rund zweitausend Raketen, die seit Kriegsbeginn im Gazastreifen selbst eingeschlagen sind und dort Schaden verursacht haben. Auch die Hisbollah hat Raketen abgefeuert, die noch im Libanon einschlugen.

MW: Meinen Informationen nach sind viele Terroristen bei der Evakuierung des nördlichen Gazastreifens in den Süden gelangt. Wie kommt es, dass sie nicht von den IDF abgefangen wurden?

AS: Ihr Eindruck täuscht nicht, weil die Terroristen im Gazastreifen ja Tausende sind, die alle ohne Ausnahme in Zivil unterwegs sind. Sie kämpfen teilweise mit Jeans und Sportschuhen und benutzen ihre eigenen Leute, ja, sogar ihre eigenen Familien als Deckung und Schutzschilde. Sie schießen aus Wohnungen, aus Moscheen, aus Krankenhäusern, oberirdisch wie unterirdisch. Sie benutzen die gesamte zivile Infrastruktur als Terrorstützpunkt.

Das heißt wenn man zum Beispiel auf Khan Yunis blickt: Viele Menschen, die sich bloß diesen Namen ansehen, denken, das sei einfach eine Stadt, in der Menschen wohnen – und Terroristen seien dort vielleicht hie und da mal unterwegs. Das ist falsch. Khan Yunis ist ein Terrorstützpunkt, alles dort ist von Terroristen infiltriert und missbraucht, jede Schule, jedes Krankenhaus, jede Moschee, alles dient den Terroristen. Das heißt, Khan Yunis ist kein normaler Ort, sondern eigentlich eine Militärkaserne, und aus diesem Stützpunkt heraus operieren die Terroristen und nutzen innerhalb dieser Kaserne die Menschen, die dort wohnen, als Schutzschilde, deren Wohlergehen ihnen völlig egal ist.

MW: Letzte Frage: Die US Navy zieht ihre Schiffe aus dem östlichen Mittelmeer zurück. Sie wurden aus dem Libanon durch die Hisbollah mit Raketen angegriffen, die von den Amerikanern allerdings abwehren werden konnten. Ist der Raketenbeschuss der Grund für den Abzug, oder gibt es eine andere Erklärung dafür?

AS: Wir sind in engstem Kontakt mit den Amerikanern. Mit ihnen und den anderen internationalen Partnern sind wir in engster Absprache, aber vor allem mit den Amerikanern. Sie haben natürlich genauso wie Israel kein Interesse an einer Eskalation und deshalb versuchen sie auch, über diplomatische Kanäle zu erreichen, dass die Terrormilizen das Feuer reduzieren und einstellen. Aber man darf sich auch bei den USA nicht täuschen, ich bin kein Sprecher der Amerikaner, aber ich denke, sie, die Briten und andere haben in jüngster Zeit mit der Bombardierung Dutzender Stellungen der Huthi-Terroristen im Jemen bewiesen, dass auch ihnen irgendwann der Kragen platzt und sie nicht nur Worte, sondern auch Taten sprechen lassen werden.

MW: Herr Shalicar, ich bedanke mich für das Gespräch.

Auf dem YouTube-Kanal von Mena-Watch ist auch ein Video-Interview aus dem April 2022 zu sehen, in dem Mena-Watch-Chefredakteur Alexander Gruber mit Arya Sahruz Shalicar über dessen Jugend in Berlin, die Bedeutung des Ukrainekriegs für Israel und die Wiener Atomverhandlungen sprach.

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