Im ganzen Land nehmen die Demonstrationen gegen die neue Regierung zu. Für diese Woche sind erstmals Proteste mit erweitertem Aktionsradius geplant. Doch auch in den Reihen der Regierungskoalition deuten neuere Ereignisse auf Zerreißproben.
Seit der Wahl am 1. November 2022 kommt Israel nicht zur Ruhe. Obwohl das Land nach vier Jahren mit fünf Parlamentswahlen wieder auf eine Koalition mit Mandatsmehrheit blickt, scheint es überall zu beben. Dass es eine schicksalhafte Zeit im 75. Jahr des Bestehens des Staates Israel ist, darüber sind sich alle einig. Doch dann ist auch schon Schluss mit trauter Einigkeit, denn während für die einen die Stunde geschlagen hat, Israel endlich ein unzweifelhaft jüdisch-religiös-national geprägtes Antlitz zu geben, steht für die anderen Israels liberale Demokratie direkt am Abgrund.
Man braucht nicht über die Grenzen des Landes zu blicken, um zu bemerken, dass Israel ganz gemäß dem berühmt-berüchtigten chinesischen Fluch »interessante Zeiten« durchlebt. US-Botschafter Tom Nides meinte dazu in einem Exklusiv-Interview für die Times of Israel, Israels Premier habe »große Pläne« angekündigt, die aber keine Form annehmen würden, »brennt« es »in seinem Hinterhof«. Gerade in den letzten Tagen hat die Zahl der Brandherde nicht unerheblich zugenommen.
Regierungsbeben Runde 1
Vor wenigen Tagen schepperte es unter einigen der Koalitionspartner mächtig. Verteidigungsminister Yoav Galant (Likud) ordnete die Räumung eines nur knapp 24 Stunden zuvor errichteten Siedlungsaußenpostens im Westjordanland an. Das rief Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten) auf den Plan. Als Vertreter der Siedlerideologie protestierte er nicht nur prinzipiell dagegen, sondern bescheinigte dem Likud auch eine Verletzung der Koalitionsabkommen.
Smotrich pochte auf die ihm darin zugesprochenen Machtbefugnisse in zivilen Westjordanland-Angelegenheiten und wies die Zivilverwaltung prompt an, die Räumung auszusetzen. Israels Verteidigungsminister, in dessen Zuständigkeitsbereich besagte Zivilverwaltung fällt, ließ daraufhin die Aussetzungsorder aufheben und setzte die Armee in Gang, um die Räumung zu vollziehen.
Nicht nur vor Ort hat das übliche Katz-und-Maus-Spiel eingesetzt. Kaum geräumt, versuchen sich die Siedleraktivisten erneut vor Ort niederzulassen, ein Machtgeplänkel, das auch in die wöchentliche Kabinettssitzung getragen werden sollte, was Netanjahu jedoch geflissentlich ignorierte.
Der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir zündelte in üblicher Manier, indem er in Folge »gleiches Recht für alle« forderte, womit er meinte, der Räumung des israelischen Außenpostens habe die Räumung illegaler palästinensischer Ansiedlungen zu folgen, wofür tatsächlich einige Freigaben vom Obersten Gerichtshof vorliegen, die aber weder zu Netanjahus noch zu Bennetts Regierungszeiten umgesetzt wurden. Unter der Ankündigung, »nicht zu Normal« zurückzukehren, boykottierten Abgeordnete der Religiösen Zionisten die wöchentliche Kabinettssitzung.
Regierungsbeben Runde 2
Die erste Kabinettssitzung nach der Räumung des Außenpostens wurde dann auch zur Bühne eines anderen Mannes, der – anders als der boykottierende Smotrich – erschien, auch wenn er gar nicht mehr im Sitzungssaal hätte präsent sein dürfen: Innen- und Gesundheitsminister Arie Deri.
Wenn sich momentan in Israel alles um die umstrittene Justizreform zu drehen scheint, die die Karten des Obersten Gerichtshof neu mischen soll, so war es diese juristische Institution, die das Netanjahu’sche Regierungskartenblatt auseinanderpflückte. Zehn von elf Richtern urteilten vergangene Woche, der bereits straffällig gewordene und auf Gefängnisvergangenheit zurückblickende Shas-Vorsitzende Deri dürfe nicht mehr als Minister amtieren, da er erneut eines Steuervergehens für schuldig befunden wurde.
Ein harter Schlag für Netanjahu, nicht nur, weil Deri an der Spitze der zweitgrößten Koalitionspartei steht, sondern als erfahrender Politiker auch ein für Netanjahu verlässliches Gegengewicht zu den wortführenden Koalitionspartnern der extremen Rechten hätte sein sollen. Obwohl der Shas-Partei die Ministerposten Deris erhalten bleiben, erging sich Israels Premier auf der Kabinettssitzung in einem Statement, das aus seinem Mund schon fast zum geflügelten Wort geworden ist: »Diese Entscheidung ignoriert den Wunsch des Volkes.«
»Im Namen des Volkes«
Schon im Vorfeld der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs schlüsselten Umfragen auf, dass statistisch gesehen noch nicht einmal einer von fünf Israelis der Ansicht ist, Deri sollte als Minister amtieren. Neueste Umfragen zeigen auf: 65 Prozent aller Befragten stehen hinter dem Urteil des Obersten Gerichtshofs. Unter Likud-Wählern schlugen sich in dieser Sache noch 57 Prozent der Befragten auf dessen Seite; unter Wählern der Religiösen Zionisten waren es 42 Prozent. Ja, noch nicht einmal die Wähler der Shas-Partei findet man geschlossen an Deris Seite, denn von ihnen halten immerhin noch 22 Prozent das Urteil für angemessen, das ihm den Ministerposten verwehrt.
All das hielt Netanjahu jedoch nicht davon ab, ähnlich verallgemeinernde Statements auch in Zusammenhang mit dem von ihm behaupteten Wunsch des Volkes bezüglich der geplanten Justizreform in die Welt zu setzen. So seien laut dem Premier Millionen zur Wahl gegangen, um dafür zu stimmen.
Es stimmt zwar, dass sich 2,3 Millionen von fast 4,8 Millionen Israelis, die bei der letzten Wahl ihre Stimme abgaben (bei imsgesamt rund 6,8 Millionen Stimmberechtigten), für die Parteien entschieden, die jetzt die Regierung stellen. Allerdings halten jene Parteien, die inzwischen auf die Oppositionsbänke verbannt sind, mit 2,04 Millionen Wählerstimmen dagegen. Zugleich war die Wahl dieses Mal von einem Szenario gekennzeichnet, vor dem so namhafte israelische Politikwissenschaftler wie Shlomo Avineri bereits 2013 bei den Beratungen um die Erhöhung des Sperrklausel-Prozentsatzes eindringlich warnten. Fast 300.000 Wählerstimmen, die der gegenwärtigen Opposition den Rücken gestärkt hätten, kommen nicht zur Geltung, da zwei Parteien trotz vieler Wählerstimmen knapp an dieser Sperrklausel von 3,25 Prozent scheiterten – ein ungewöhnlich hohes Kontingent.
Insofern kann sich Netanjahu unterm Strich noch nicht einmal auf 50 Prozent der im November abgegebenen gültigen Stimmen berufen. Immer deutlicher wird zudem, dass Wähler, die sich für eine Partei der gegenwärtigen Koalitionsparteien entschieden, dennoch nicht zwangsläufig zugleich die geplante Justizreform befürworten.
Facettenreiche Massen mit zunehmenden Bedenken
Im Israel der Gegenwart darf nicht verwundern, dass in den letzten Wochen die Zahl der Anti-Regierungsdemonstranten kontinuierlich zunahm. Am letzten Wochenende fanden sich alleine in Tel Aviv laut Polizei 110.000, laut Veranstaltern 150.000 Menschen zu Protesten ein – Tendenz allwöchentlich steigend. Der Presse liefen in den Menschenmassen, die es vor allem wegen der geplanten Justizreform auf die Straße zieht, sowohl Likud-Wähler als auch religiöse Israelis in die Arme, welche die Zuschauer der Abendnachrichten ohne Zögern über ihre Protestmotivation informierten.
Insbesondere die überschaubaren Proteste in Jerusalem ließen orthodoxe und ultraorthodoxe Demonstranten in der Menge umso augenscheinlicher werden. Sie, wie auch viele andere, die auf die Straße gehen, kann man schwerlich zu jenen Kreisen zählen, die laut Netanjahu nur wegen ihrer linken Weltanschauung protestieren und als Linke ohnehin als notorische Unruhestifter einzustufen seien.
Wie bezüglich seiner kundgetanen »Volksansichten« zum Fall Deri scheint Netanjahu auch nicht mehr ganz den Überblick über seine eigenen Parteimitglieder zu haben. Nur ein Beispiel unter mehreren stellt sein langjähriger Likud- und Kabinettsgefährte Dan Meridor dar, der Netanjahu unter Berufung auf seine fachliche Qualifikation als Jurist und Ex-Justizminister bescheinigte, »das Justizwesen zu zerstören«.
Am vergangenen Wochenende stachen unter den Demonstranten unzählige Hightech-VIPs ins Auge, die einhellig bekundeten: Die Justizreform werde ausländische Investoren fernhalten und internationale Konzerne ihre Werke in Israel schließen lassen. Sie würden, ganz abgesehen von ethischen Bedenken, nicht das Risiko eingehen, in einem Land zu agieren, dessen ausgehebelte Demokratie Risiken für sie birgt. Ihnen pflichten Ex-Gouverneure der Bank of Israel bei, die sogar eine Rückstufung der israelischen Kreditwürdigkeit für wahrscheinlich halten, was weitere schwerwiegende Dominoeffekte für die Wirtschaft nach sich zöge.
Trotzdem noch Luft nach oben
130 Firmen des israelischen Hightech-Sektor, der 2021 nicht weniger als 50 Prozent der israelischen Exporte erwirtschaftete, nahmen inzwischen Warnstreiks gegen die Justizreform auf. Ärzte, die kommen sehen, dass Kollegen gesetzlich verbrieft die Behandlung von Patienten vor dem Hintergrund ihrer religiösen Weltanschauung ablehnen könnten, organisieren sich. Bürgermeister säkularer Städte schlossen sich zusammen, um gegen die Stilllegung der von ihnen betriebenen Buslinien am Shabbat aktiv zu werden und dem Gedankengut des für außerschulische Bildung zuständigen Noam-Abgeordneten Avi Maoz die Stirn zu bieten. Ein Akademiker, der Netanjahu wissen ließ, dass er seinen Posten beim staatlichen Währungskomitee kündigt, um sich »der Teilnahme an öffentlich-politischen Aktivitäten zu widmen«, wird vermutlich nicht der einzige sein, der einen solchen Schritt wählte.
Dass die Demonstrationen demnächst auch an Wochentagen Städte lahmlegen werden, ist recht wahrscheinlich, dass die Massen anschwellen und die Maßnahmen vielseitiger werden, steht außer Frage. Zur Eindämmung der Demonstrationen erwägen die Koalitionspartner den Erlass von harscheren Strafen gegen Protestierende. Auch der von Ben-Gvir bereits vor einiger Zeit geforderte Einsatz von Wasserwerfern – ohne dass die Demonstranten sich dafür großartiger Vergehen hätten schuldig machen müssen – könnte schnell wieder aktuell werden. Vermutlich wird man schon demnächst sagen müssen: Ende Januar begann Israel zu erbeben, doch die wahren Erdbeben stehen noch aus.