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Irak: Milizen, Korruption und steigende Preise

Mitglieder der Volksmobilisierungseinheiten in Mossul im Jahr 2017. Die zahlreichen Milizen plagen den Irak. (© imago images/ZUMA Press)
Mitglieder der Volksmobilisierungseinheiten in Mossul im Jahr 2017. Die zahlreichen Milizen plagen den Irak. (© imago images/ZUMA Press)

Auch fünf Jahre nach dem Sieg über den Islamischen Staat kommt der Irak nicht zur Ruhe. Korruption, Misswirtschaft und zahlreiche Milizen plagen das Land.

Anfang Juli vor fünf Jahren verkündete die irakische Regierung die Befreiung Mossuls vom sogenannten Islamischen Staat (IS). Der bedeutendste Städtekampf seit dem Zweiten Weltkrieg, wie ein US-General die neunmonatige Schlacht bezeichnete, endete mit Tausenden zivilen Toten und verheerenden Zerstörungen großer Teile der Stadt. Mit der Befreiung Mossuls endete die territoriale Herrschaft des IS im Irak. Doch das Vakuum, das die wieder zur Guerilla geschrumpfte Terrororganisation hinterließ, wurde rasch von anderen Playern gefüllt.

Als der Islamische Staat im Sommer 2014 Mossul eroberte und weiter auf Bagdad marschierte, riefen schiitische Geistliche zur »Volksmobilmachung« auf. Die daraufhin aktivierten alten und neuen schiitischen Milizen bildeten in den folgenden Monaten und Jahren die Speerspitze gegen die Dschihadisten. Der Iran finanzierte und trainierte zahlreiche dieser sogenannten Hashd al-Shaabi, (Volksmobilisierungskräfte/Popular Mobilization Units/PMU). Nach der Rückeroberung Mossuls im Juli 2017 und der endgültigen Zerschlagung des Kalifats im Frühjahr 2019 blieben diese Milizen aktiv und in Besitz ihrer Waffen.

Gekommen, um zu bleiben

Einige orientieren sich an irakischen Führern, der Großteil folgt aber Zurufen aus Teheran, das auf diesem Weg großen Einfluss auf die Politik im Irak nehmen kann. Ähnlich der Hisbollah im Libanon, sind die Milizen militärisch hochgerüstet und über ihre politischen Arme im Parlament stark vertreten – zumindest waren sie das bis vor den Wahlen im Oktober 2021, als proiranische Parteien schwere Verluste hinnehmen mussten.

Offiziell sind die PMU Teil der irakischen Streitkräfte unter dem direkten Kommando des Premierministers. Doch zahlreiche der etwa vierzig Milizen agieren außerhalb der offiziellen Kommandostrukturen. Diese werden für Angriffe auf US-Ziele verantwortlich gemacht, ebenso werden ihnen Erpressung, Entführung und Mord vorgeworfen. Prominentes Opfer war Husham al-Hashimi, international bekannter Analyst und Berater des Premierministers, der im Juli 2020 vor seinem Haus in Bagdad erschossen wurde.

Verlorene Wahlen und ein Anschlag

Auch wenn der Einfluss des Irans unbestritten ist, agieren einige der PMU auch unabhängig von Teheran. Nach der demütigenden Niederlage proiranischer Parteien bei den Wahlen 2021 behaupteten diese, der Urnengang sei manipuliert worden. Ihre Anhänger gingen auf die Straße, es kam zu Protesten und Ausschreitungen vor Bagdads Regierungsviertel.

Am frühen Morgen des 7. November steuerten drei mit Abwurfladungen versehene Drohnen auf das Haus des Premierministers in der sogenannten Grünen Zone zu. Zwei von ihnen wurden abgeschossen, die dritte sprengte die Tür der Residenz auf, zerstörte ein parkendes Auto und verwundete mehrere Wachleute. Premier Mustafa al-Kadhimi blieb unverletzt.

Obwohl sich offiziell keine Gruppe zu dem Anschlag bekannte, gingen Analysten davon aus, dass proiranische Milizen dahintersteckten. Die Bauart der Drohnen ließ eine klare Handschrift erkennen: Es waren dieselben, wie sie von den Volksmobilisierungseinheiten gegen US-Streitkräfte im Irak eingesetzt werden. Gleichzeitig bezweifelten die Analysten, dass die Attacke mit der iranischen Führung abgesprochen war. Wäre der Anschlag gelungen, hätte das zu einem inner-schiitischen Konflikt führen können – etwas, das nicht im Interesse Teherans ist.

Erben des IS

Die schiitischen Milizen sind nicht nur politisch aktiv und bestens bewaffnet, sondern verfügen auch über enorme finanzielle Mittel. Über sogenannte Wirtschaftsbüros kontrollieren sie Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige, sie besitzen Banken und sind im Ölgeschäft tätig. Über ihre ausgedehnten Netzwerke dominieren sie den Drogenhandel und sind mitverantwortlich für die riesigen Mengen an Crystal Meth, die den Süden Iraks überschwemmen.

Besonders einflussreich sind sie in jenen Gebieten, die einst zum Kalifat des IS gehörten. So etwa in und um Mossul, wo schiitische Milizen an Checkpoints »Steuern« eintreiben. Die Milizen verfügen außerdem über große Mengen an Immobilien. Dabei ist oft unklar, wem diese Liegenschaften tatsächlich gehören. Oftmals handelt es sich um Eigentum jener, die aus dem Kalifat vertrieben wurden oder geflohen sind und vom IS enteignet wurden. Deren Besitz wurde nie rückerstattet, sondern nach dem Sieg über die Dschihadisten von den Milizen beschlagnahmt.

Berichten zufolge zwingen die Milizionäre in sunnitisch dominierten Gebieten der Bevölkerung ihre Regeln auf, indem sie Hochzeiten oder andere Festivitäten an schiitischen Feiertagen verbieten. An manchen irakischen Orten gelte, was die Milizen bestimmen und nicht das, was die Regierung in Bagdad beschließt. Dieses aggressive Vorgehen der Hashd al-Shaabi gießt Öl ins Feuer der konfessionellen Spannungen. »Diese Gruppen bilden einen Staat im Staat«, so der Politikwissenschaftler Ali Al-Bidar im Gespräch mit dem Autor.

Reicher, schwacher Staat

Dass die Milizen überhaupt so stark werden konnten, liegt nicht zuletzt an der Schwäche des irakischen Staates, dem es trotz milliardenschwerer Ölvorkommen nicht gelingt, sich ausreichend um seine Bürger zu kümmern.

2019 brachte das Erdölgeschäft Bagdad Rekordeinnahmen von rund 80 Mrd. US-Dollar. Trotzdem kämpfen Millionen Menschen im Irak täglich um ihr Überleben, während der Reichtum des Landes durch Korruption und Misswirtschaft verschleudert wird. Schätzungen der Weltbank zufolge leben 22 Prozent der Iraker in Armut, ein Drittel der Jugendlichen hat keine Arbeit.

Ein großer Teil des Ölprofits fließt in die Gehälter eines durch Klientelpolitik aufgeblähten Beamtenapparates. Waren es 2004 noch 850.000 Staatsangestellte, ist das Heer an Beamten bis 2016 auf sieben bis neun Millionen angeschwollen.

Im krassen Gegensatz zu den Milliarden, die der Beamtenapparat verschlingt, steht die Leistung, die er erbringt. Durch Korruption gelähmte Institutionen und Beamte, deren einzige Qualifikation darin besteht, die richtige Partei gewählt zu haben, bewirken, dass der Staat seinen Grundaufgaben nicht ausreichend nachkommt. Es mangelt an effektiver Verwaltung der Ressourcen und an Serviceleistungen für die Bürger. Wo der Staat seinen Bürgern nicht helfen kann, wenden diese sich anderen Playern zu, die ihnen Schutz und Wohlstand versprechen. Ab 2014 war das der IS – mit den bekannten, verheerenden Folgen.

Zwanzig Jahre Krieg und Krise

Seit den letzten Wahlen im Oktober 2021 haben es die verantwortlichen Politiker nicht geschafft, eine neue Regierung zu bilden. Die Vereinten Nationen forderten die irakischen Gesetzgeber und Politiker wiederholt auf, ihre Differenzen beizulegen und sich auf eine Regierung zu einigen, damit das Land vorankommen kann – bisher vergebens. Ob es Neuwahlen geben wird oder Proteste und Ausschreitungen das Land weiter destabilisieren werden, bleibt offen.

Währenddessen scheinen sich terroristische Zellen des IS neu zu formieren. Trotz der vernichtenden Niederlage des IS im Irak ist die Gruppe noch nicht ganz verschwunden. Wöchentlich gibt es Berichte über die Festnahme oder Tötung von IS-Kämpfern oder Anschläge, zu denen sich die Gruppe bekennt.

Zur politischen Sackgasse, in die die Verantwortlichen das Land geführt haben, und zu der Vielzahl an außerstaatlichen, bewaffneten Gruppen kommen nun noch die durch den Ukraine-Krieg ausgelösten steigenden Kosten für lebenswichtige Güter hinzu. All das gefährdet die fragile Stabilität des Landes. Die irakische Tragödie findet auch knapp zwanzig Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins kein Ende.

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