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20. November 1979: Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka (Teil 2)

Saudische Soldaten bei der Rückerborung der Großen Moschee
Saudische Soldaten bei der Rückerborung der Großen Moschee (Quelle: williamdudleybass.com, Public Domain)

Auf die Rückeroberung der Großen Moschee durch saudische Sicherheitskräfte folgte ein massiver Backlash in allen gesellschaftlichen Bereichen. „Nicht normal“ sei das gewesen, meint heute der Kronprinz. (Teil 1 finden Sie hier)

Juhaimans Angriff stellte für das saudische Herrscherhaus eine ernste Herausforderung dar. Einen beträchtlichen Teil seiner Legitimation bezog es aus seiner Stellung als Hüterin der heiligen Stätten in Mekka und Medina und aus seinem Anspruch, Führer einer wahrhaft islamischen Gesellschaft und eines islamischen Staates zu sein. Juhaimans Rebellion stellte sowohl den religiösen Herrschaftsanspruch als auch die Fähigkeit infrage, als Schutzmacht der heiligen Stätten zu fungieren.

Die Geistlichkeit debattiert …

An fast jedem anderen Ort im Lande hätte der saudische Staat mit den Besetzern rücksichtslos kurzen Prozess gemacht, doch in der Moschee in Mekka ging das nicht ohne Weiteres. Erste Versuche des Innenministeriums zur raschen Rückeroberung des Areals erwiesen sich als blutiges Fiasko. In den Minaretten der Moschee verschanzt und gut bewaffnet, hatten die Besetzer wenig Mühe, die schlecht durchdachten Stürmungsversuche der nur leicht bewaffneten Sicherheitskräfte zurückzuschlagen und ihnen empfindliche Verluste zuzufügen. An den erforderlichen Einsatz schwerer Waffen war aus Rücksicht auf den besonderen Ort nicht zu denken – es sei denn, er würde von den religiösen Autoritäten explizit gutgeheißen.

König Khaled verlangte von einer rasch einberufenen Versammlung der dreißig führenden Ulema eine solche Erlaubnis, doch die hatten es nicht eilig, sondern debattierten erst einmal über die Behauptung der Rebellen, dass mit al-Qahtani der Mahdi erschienen sei. Erst nach längerer Erörterung kamen sie zum Schluss, dass die in den Prophezeiungen zu findenden detaillierten Voraussetzungen für die Wiederkehr des Mahdi nicht gegeben waren und al-Qahtani daher nicht der Erlöser sei.

… und verlangt einen hohen Preis

Aber selbst nachdem dieser Punkt geklärt war, taten sich die Ulema mit einer klaren Verurteilung von Juhaiman und seinen Anhängern schwer. Einige der Geistlichen waren mit ihnen bestens vertraut, hatten sie selbst sie doch in der Vergangenheit unter ihre Fittiche genommen. Abd al-Aziz ibn Baz etwa, der blinde Gelehrte und spätere Großmufti von Saudi-Arabien, war einer der Lehrer und geistlichen Mentoren der „Salafistischen Gruppe zum Gebieten des Rechten und Verhindern des Verwerflichen“ (Al-Jamaa Al-Salafiya Al-Muhtasiba/JSM), zu der Juhaiman gehört hatte, bevor er in die Wüste floh, um sich der staatlichen Repression zu entziehen.

Die saudischen Wahhabiten dachten nicht im Traum daran, ihre Beziehung zum Herrscherhaus aufs Spiel zu setzen, stimmten aber in vielen Punkten mit der radikalen Kritik Juhaimans an Saudi-Arabien und am Zustand der saudischen Gesellschaft durchaus überein. Alkoholkonsum, das Fernsehen, die öffentliche Sichtbarkeit und die Arbeitstätigkeit von Frauen, der Verfall der Sitten, Verstöße gegen religiöse Regeln, all das und vieles mehr war dem wahhabitischen Establishment genauso ein Dorn im Auge wie den Rebellen. Wie konnten sie sich jetzt also von Juhaiman distanzieren?

Nach drei langen Tagen erließen die Ulema schließlich eine Fatwa, in der sie der Regierung die Erlaubnis aussprachen, „alle nötigen Maßnahmen“ zu ergreifen, um das Leben der in der Moschee als Geiseln gehaltenen Menschen zu schützen. Der König hatte, was er wollte, aber er bekam es nur um einen hohen Preis: Um Juhaiman loszuwerden, musste das saudische Herrscherhaus sich gegenüber der Geistlichkeit praktisch dazu verpflichten, weite Teile der radikalen Forderungen der Rebellen umzusetzen.

Kampf um die Moschee

Die Regierungstruppen brauchten mehrere Tage, um in schweren Kämpfen auf das Gelände vorzudringen und alle oberirdischen Teile des Areals wieder unter Kontrolle zu bringen. Im Zuge dessen wurde al-Qahtani getötet, sehr zum Schock mancher der Besetzer, die an die Unsterblichkeit des vermeintlichen Mahdi geglaubt hatten. Juhaiman und seine verbliebene Gefolgschaft verschanzten sich aber im Untergeschoß der Moschee, wo sich ein Labyrinth aus Hunderten Räumen und Gängen befand. Nur unter enormen Verlusten wäre es möglich gewesen, sie dort Raum für Raum zu bekämpfen, zumal sich noch immer eine unbekannte Zahl an Geiseln in der Hand der Besetzer befand.

Um dem Spuk Juhaimans ein Ende zu setzen, bat das saudische Herrscherhaus diskret um ausländische Hilfe und wurde in Frankreich fündig. Ein kleines Team von Mitgliedern französischer Antiterror-Spezialeinheiten machte sich auf den Weg nach Saudi-Arabien. Mit im Flugzeug befanden sich Gasmasken und der gesamte Bestand an CS-Gas, der sich auf die Schnelle in Frankreich finden ließ. Die französischen Beamten durften sich nicht selbst an der Rückeroberung der Katakomben der Moschee beteiligen, bereiteten aber die saudischen Sicherheitskräfte auf die bevorstehende Aufgabe vor.

Um sich ein genaues Bild des unterirdischen Labyrinths zu machen, ließ man sich die Pläne kommen, nach denen die Moschee in den Jahren zuvor ausgebaut worden war. Durchgeführt worden waren die Arbeiten von einer Baufirma benannt nach Mohammed bin Laden, dem Vater des späteren al-Qaida-Chefs Osama bin Laden. Zum Zeitpunkt der Moscheebesetzung wurde die Firma vom Bruder des Terrorpaten geführt.

Kurzer Prozess

Gemäß den Anweisungen der französischen Antiterrorexperten leiteten die saudischen Sicherheitskräfte das CS-Gas in die unterirdischen Bereiche des Moscheeareals ein und eroberten dieses in blutigen Kämpfen Raum für Raum zurück. Trotz der Qualen, die das Gas bewirkt haben muss, soll sich keiner der Rebellen freiwillig ergeben haben. Am 4. Dezember, nach zwei Wochen der Besetzung der Moschee, eroberten die Saudis den letzten verbliebenen Raum zurück und nahmen die übriggebliebenen Rebellen gefangen. Unter den verdreckten und blutverschmierten Männern war auch deren Anführer Juhaiman.

Offiziellen saudischen Angaben zufolge sollen bei den Kämpfen 127 Soldaten ums Leben gekommen, 461 verletzt und 117 Rebellen getötet worden sein. Tatsächlich lagen die Verluste unter den Sicherheitskräften höchstwahrscheinlich um ein Vielfaches höher, manchmal ist von über 1000 die Rede. Wie viele Geiseln im Zuge der Besetzung und der folgenden Kämpfe getötet wurden, ist nicht bekannt, offiziell sollen es 26 gewesen sein.

Der saudische Staat machte mit den Gefangengenen kurzen Prozess. Am Morgen des 9. Januars 1980, nur etwas mehr als einen Monat nach der Rückeroberung des Moscheegeländes, wurden an acht über das gesamte Land verteilten Orten insgesamt 63 Aufständische öffentlich hingerichtet: 41 Saudis, zehn Ägypter, sechs Süd-Jemeniten, einen Nord-Jemeniten, drei Kuwaiter sowie je einen Iraker und einen Sudanesen. Rebellenführer Juhaiman wurde in Mekka der Kopf abgeschlagen. Die Aufständischen, die nicht hingerichtet wurden, erhielten langjährige Haftstrafen.

Die Herausforderung

Die rasche Bestrafung der Rebellen sollte der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln, der verstörende Angriff auf die Moschee in Mekka sei das Werk weniger extremistischer Abweichler gewesen, nun sei aber wieder Ruhe in den saudischen Alltag eingekehrt und das Leben könne weitergehen wie zuvor.

Tatsächlich war die unmittelbare Gefahr für das saudische Herrscherhaus, so eine solche während der kritischen zwei Wochen je wirklich bestanden hatte, vorüber. Die Erschütterung der religiösen Legitimierung der Herrschaft konnte aber nicht einfach durch den Einsatz des Henkers und die Zuschaustellung von ein paar Dutzend rollenden Köpfen überwunden werden.

Denn Juhaimans Aktion verwies auf den zentralen Widerspruch der saudischen Gesellschaft der späten 1970er Jahre, die bis dahin noch keinen Weg gefunden hatte, den plötzlichen Reichtum und die Modernisierung, die mit dem Ölgeschäft einherging, mit dem Festhalten an den streng-islamischen Ansprüchen der Wahhabiten in Einklang zu bringen.

Nirgends wurde dieser Widerspruch deutlich sichtbarer als am Königshaus selbst, das auf der einen Seite seinen Herrschaftsanspruch streng religiös untermauerte, während seine praktische Politik und der ausschweifende Lebensstil vieler seiner Mitglieder auf der anderen Seite in offenem Widerspruch zu den religiösen Dogmen standen, die es vor sich hertrug.

Inmitten der Moscheebesetzung blieb König Khaled das augenfällige Zögern der wahhabitischen Geistlichkeit nicht verborgen, sich rasch und eindeutig auf seine Seite und gegen die Aufständischen in Mekka zu stellen. Er wusste über die weitgehenden inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Rebellen und den höchsten religiösen Autoritäten im Land Bescheid.

Und die jüngsten Ereignisse im nahen Iran – der Sturz des Schahs war noch kein Jahr her – hatten ihm deutlich vor Augen geführt, wohin es führen kann, sich in einem Prozess gesellschaftlicher Modernisierung mit der islamischen Geistlichkeit anzulegen. Der Schluss, den König Khaled aus diesen Erfahrungen zog, lautete: Die Antwort auf die religiöse Herausforderung seiner Herrschaft sollte eine fundamental religiöse sein.

Der Backlash

„Saudis schrecken vor Modernisierung zurück“ lautete die Schlagzeile des Artikels in der New York Times vom 5. Februar 1980, in dem über die ersten Folgen des Aufstands in Mekka berichtet wurde. Wie sich herausstellen sollte, war die Überschrift eine massive Untertreibung: Was in Saudi-Arabien geschah, war nicht bloß ein Zurückschrecken, sondern ein regelrechter Backlash. Alle Anzeichen gesellschaftlicher Modernisierung wurden rückgängig gemacht – und Saudi-Arabien wurde zu dem reaktionären und repressiven Land, als das es heute berüchtigt ist.

Frauen wurden aus den Medien verbannt und die strenge Geschlechtertrennung in allen Bereichen der Gesellschaft forciert, inklusive einer Kleiderordnung, die es zwar in den rückständigsten Gebieten des Landes immer gegeben hatte, die nun aber überall durchgesetzt wurde. Die Religionspolizei gewann massiv an Einfluss.

Kinos und andere Vergnügungsorte wurden geschlossen. Die Lehrpläne von Schulen und Universitären wurden von vermeintlich unislamischen oder westlichen Inhalten gesäubert. Moderne Wissenschaften, Geschichte und Literatur gab es nicht mehr, westliche Lehrende wurden des Landes verwiesen. Enorme Summen flossen in islamische Bildungseinrichtungen.

Export des Wahhabismus

„Die Petrodollars wurden gläubig“, kommentiert Robert Lacey die Vorgänge, die sich nicht nur im eigenen Land, sondern auch auf der internationalen Bühne vollzogen. Saudi-Arabien hatte schon zuvor versucht, in regionalen Machtkämpfen die islamische Karte auszuspielen (die Islamische Weltliga etwa wurde schon 1962 gegründet), doch nahmen diese Aktivitäten jetzt ein ganz neues Ausmaß an – auf dem politischen Parkett, unter der Überschrift der internationalen Hilfe von vorgeblich wohltätigen Hilfsorganisationen, und im Bereich der aggressiven Missionierung im Ausland.

Dazu gehörte auch, die im Land noch verbliebenen Radikalen gewissermaßen ins Ausland zu exportieren, um auf fremden Schlachtfeldern für den Islam zu kämpfen – und, wenn nötig, auch zu sterben, anstatt in Saudi-Arabien selbst Probleme zu bereiten.

Zum ersten dieser Schauplätze wurde Afghanistan, wo arabische Kämpfer sich am Krieg gegen die Sowjetarmee beteiligten. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum wurde dieser Einsatz zwar nicht von den Saudis eingefädelt – „Erfinder“ des arabischen Dschihad am Hindukusch war, wie Thomas Hegghammer hervorhebt, vielmehr die Muslimbruderschaft –, aber sie entwickelten sich mit ein paar Jahren Verspätung zu dessen wichtigstem Förderer.

„Das ist nicht das wahre Saudi-Arabien“

Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka und deren Folgen blieben in Saudi-Arabien lange Zeit Tabuthemen. Erst seit ein paar Jahren ist eine etwas offenere Debatte darüber möglich geworden.

Dazu trägt nicht zuletzt Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) bei, der bei mehreren Gelegenheiten eine Rückkehr Saudi-Arabiens in die Zeit vor 1979 gefordert hat. „Das ist nicht das wahre Saudi-Arabien“, meinte er über das vorherrschende Bild eines intoleranten Landes in der CBS-Show 60 Minutes. „Wir haben, wie die anderen Golfstaaten, ein normales Leben geführt. (…) Wir waren einfach normale Leute, wie in jedem anderen Land auf der Welt – vor den Ereignissen von 1979“.

In der Zeit danach, so erklärte er bei anderer Gelegenheit dem Guardian, sei Saudi-Arabien dagegen „nicht normal“ gewesen, eine Entwicklung, die zurückgenommen werden müsse:

„Wir kehren einfach zu dem zurück, dem wir früher gefolgt sind – einem moderaten Islam, der der Welt und allen Religionen offen begegnet. 70 Prozent der Saudis sind jünger als 30, im Ernst, wir werden nicht weitere 30 Jahre unseres Lebens damit verschwenden, extremistisches Gedankengut zu bekämpfen, wir werden es jetzt und sofort zerstören.“

Dem Kronprinzen folgend identifizieren regierungsnahe saudische Medien 1979 heutzutage als das Jahr, „in dem der Extremismus begann“, und erinnern ausführlich an die Ereignisse vor vier Jahrzehnten.

Auch wenn man die Absicht gutheißen kann, stellt das Bild, das MbS und saudische Medien von der Zeit vor 1979 zeichnen, eine Idealisierung dar, die mit der historischen Realität Saudi-Arabiens in den 1960er und 70er Jahren nur schwer in Einklang zu bringen ist – worauf ausgerechnet der Journalist Jamal Kashoggi hingewiesen hat, der vor einem Jahr vermutlich im Auftrag des Kronprinzen in Istanbul ermordet wurde. Ausgeblendet wird dabei vor allem, wer letztlich die Verantwortung für die Entwicklung trägt, die Saudi-Arabien nach 1979 genommen hat.

Um es mit Robert Lacey zu sagen: „Das saudische Königshaus hat Juhaiman exekutiert. Danach hat es sein Programm zur Regierungspolitik gemacht.“

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