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20. November 1979: Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka (Teil 1)

Große Moschee in Mekka
Große Moschee in Mekka (© Imago Images / Xinhua)

Vor 40 Jahren besetzten militante Islamisten die Große Moschee in Mekka. Die Folgen dieses Vorfalls prägen Saudi-Arabien bis heute: Nachdem die Rebellen niedergekämpft waren, wurden im Königreich viele ihrer Forderungen umgesetzt.

Eine „Zeitenwende“ nennt der Historiker Frank Bösch das Jahr 1979, mit dem seiner Ansicht nach „die Welt von heute begann“. Allein der Blick auf den Nahen Osten scheint seine Einschätzung zu bestätigen – in der Tat hatte kaum ein Jahr mehr Einfluss auf die Zukunft der Region als 1979.

Drei Ereignisse springen dabei sofort ins Auge: Im Februar kehrte Khomeini aus dem Exil in den Iran zurück und stellte sich an die Spitze der Revolution, die zur Schaffung der „Islamischen Republik“ führte, im März schloss Ägypten als erstes arabisches Land Frieden mit Israel und am 25. Dezember marschierte die Sowjetarmee in Afghanistan ein. Beinahe in Vergessenheit geraten ist dagegen ein weiteres Ereignis, dessen Folgen weit über den Nahen Osten hinaus spürbar werden sollten: die Besetzung der Großen Moschee von Mekka.

Die Übernahme

Am Morgen des 20. November 1979 versammelten sich Zigtausende Gläubige im wichtigsten Heiligtum des Islam, um am ersten Tag des neuen Jahres, dem Jahr 1400 nach islamischer Zeitrechnung, am Morgengebet teilzunehmen. Plötzlich, gegen halb sechs Uhr, brach Unruhe aus. Geschrei war zu hören, Schüsse fielen. Der Imam der Moschee wurde von mehreren Bewaffneten zur Seite gedrängt, über die Lautsprecheranlage der Moschee wurden Anweisungen an die hunderten Mitstreiter ausgegeben, die sich offenbar auf dem großflächigen Areal der Moschee verteilt hatten: „Los jetzt!“ ist auf Filmaufnahmen zu hören, „Besetzt die Minarette! Die Scharfschützen auf Position! Verschließt die Eingänge! Stellt Wachen auf!“[1]

Mehrere Polizisten, die aus Rücksicht auf das strikte islamische Waffenverbot in der Moschee nur mit Stöcken ausgerüstet waren, wurden erschossen. Einigen Menschen gelang es noch, aus der Anlage zu fliehen, bevor die Bewaffneten die über 50 Zugänge verriegeln konnten, anderen wurde in den folgenden Tagen ermöglicht, die Moschee zu verlassen. Wie viele der geschätzt 100.000 Gläubigen aber in den Händen der Geiselnehmer verblieben, war unklar. Bis heute sprechen manche von der größten Geiselnahme der Geschichte.

Ein Mann begann eine knapp einstündige Erklärung zu verlesen. Deren Kernaussage: Eine alte Prophezeiung habe sich erfüllt, der Mahdi sei erschienen, um die Verfälschung und Korrumpierung des Glaubens zu beseitigen und der Welt Gerechtigkeit zu bringen.

So begann die Besetzung der Großen Moschee in Mekka. Zwei blutige Wochen sollte es dauern, bis es der völlig überraschten Führung Saudi-Arabiens dank ausländischer Hilfe gelang, das gesamte Areal wieder unter Kontrolle zu bringen und den seit etlichen Jahrzehnten ersten Aufstand gegen ihre Herrschaft niederzuschlagen. Als sich der Staub gelegt hatte, war Saudi-Arabien ein anderes Land geworden.

Übliche Verdächtige

Trotz einer von den saudischen Behörden verhängten Nachrichtensperre verbreitete sich die Nachricht von der Besetzung der Moschee rasch in alle Welt und heizte Spekulationen darüber an, wer für die gleichermaßen ungeheuerliche wie spektakuläre Aktion verantwortlich sei.

In den Vereinigten Staaten waren zu dieser Zeit alle Augen auf das noch junge islamistische Regime im Iran gerichtet. Der Vorfall in Mekka ereignete sich nur etwas mehr als zwei Wochen nach der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran und der Geiselnahme ihrer Belegschaft durch militante Khomeini-Anhänger. Viele stellten einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen her.

„Moschee in Mekka von Bewaffneten besetzt, vermutlich Militante aus dem Iran“, lautete etwa die Schlagzeile der New York Times am Tag nach dem Beginn der Besetzung, auch wenn in dem Artikel dann viel zurückhaltender unter Verweis auf eine saudische Stellungnahme zu lesen war, dass es sich um die Aktion einer „Gruppe von Abtrünnigen der islamischen Religion“ handle und eines ihrer Mitglieder sich zum „versprochenen Messias“ erklärt habe.

Der Geheimdienst des Pentagon gab sich dagegen von der Verantwortung einer iranischen Gruppe „fanatischer Anhänger von Ayatollah Khomeini“ überzeugt, eine Sichtweise, der sich auch die wichtigsten Berater von Präsident Carter anschlossen.

Der amerikanische Botschafter in Saudi-Arabien, John Carl West, war dagegen in seinen Depeschen aus Dschidda um eine vorsichtige Einschätzung bemüht. Zwar gebe es Meldungen über eine Beteiligung von Iranern oder auch Jemeniten, andere saudische Quellen verwiesen aber auf „saudische Stammesmitglieder einer noch nicht identifizierten Gruppe islamischer Fundamentalisten“.

Antiamerikanische Gewalt

Die iranische Führung reagierte in diesem Herbst 1979 bereits so, wie sie es in den vier Jahrzehnten seitdem immer tut, wenn es darum geht, Schuldige zu benennen: In ihrer ersten Stellungnahme machte sie eine Verschwörung des „kriminellen amerikanischen Imperialismus“ für den Angriff auf die Moschee verantwortlich, der dem Zweck diene, die Muslime zu schwächen. Wenige Tage später erklärte Revolutionsführer Khomeini, die USA „und ihre korrupte Kolonie Israel“ würden versuchen, die heiligsten Stätten des Islam zu besetzen. „Muslime, steht auf und verteidigt den Islam!“

Von einer gemeinsamen Urheberschaft von „Zionisten“ und Amerikanern waren auch einige pakistanische Medien überzeugt. Seit der israelischen Geiselbefreiungsaktion von Entebbe drei Jahre zuvor, so erklärte der Herausgeber einer populären pakistanischen Zeitung, habe man erwartet, dass amerikanische und israelische Kommandos eines Tages landen und Mekka sowie Medina besetzen würden.

Die Propaganda fiel auf fruchtbaren Boden. Von den Verschwörungstheorien aufgehetzt, zog ein wütender Mob zur amerikanischen Botschaft in Islamabad, stürmte das Gelände und setzte das Gebäude in Brand. Mehrere Menschen wurden getötet, darunter ein amerikanischer Marine. Über hundert Botschaftsmitarbeiter und -gäste verschanzten sich in einem Tresorraum und konnten erst nach mehreren Stunden vom pakistanischen Militär gerettet werden. Angriffe auf amerikanische Einrichtungen gab es auch in Rāwalpindi und Lahore, darüber hinaus in der Türkei, in Indien, in Bangladesch, Kuwait und Libyen.

Von Teheran aus ließ Revolutionsführer Khomeini die Welt an seiner „großen Freude“ über die Angriffe auf US-Einrichtungen teilhaben.

Wer waren die Besetzer?

Abgesehen davon, dass zu den Hunderten Besetzern der Moschee auch ein paar zum Islam konvertierte Amerikaner gehörten, hatten die USA mit der Aktion in Wahrheit nichts zu tun. Verantwortlich war vielmehr tatsächlich, wie US-Botschafter West zutreffend nach Washington übermittelte, eine „Gruppe islamischer Fundamentalisten“.

Beim Kopf des Aufstands handelte es sich um den in den 1930er Jahren in eine Beduinenfamilie geborenen Juhaiman al-Utaibi. [2] Sein Großvater hatte zu den fanatischen Wahhabiten der Ikhwan („Bruderschaft“) gehört, die Staatsgründer Abd Al-Aziz ibn Saud in den frühen 1920er Jahren als Stoßtruppen bei der Eroberung seines Königreichs gedient hatten, sich dann aber mit diesem überwarfen, als er den neu geschaffenen Staat konsolidieren und den Dschihad auf dem Wege Allahs nicht weiter fortführen wollte. Juhaimans Vater soll am 1929 niedergeschlagenen Ikhwan-Aufstand gegen Ibn Saud beteiligt gewesen sein.

Nach nur wenigen Jahren rudimentärer Schuldbildung – ob er je richtig lesen und schreiben gelernt hat, ist bis heute nicht gewiss – trat Juhaiman in den Dienst der saudischen Nationalgarde, die sich hauptsächlich aus Beduinen, darunter viele ehemalige Ikhwan-Kämpfer, zusammensetzte. Nach fast zwanzig Jahren verließ er (vermutlich im Jahre 1973) die Nationalgarde und zog nach Medina. Mangels der dafür erforderlichen Bildung konnte er nie formell Student an der Islamischen Universität Medina werden, bewegte sich aber in deren Umfeld und soll Kurse am Dar al-Hadith besucht haben, einer alteingesessenen Institution, die sich der Lehre der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed verschrieben hatte.

Die neuen Ikhwan

In dieser Zeit trat Juhaiman einer Gruppe namens „Salafistische Gruppe zum Gebieten des Rechten und Verhindern des Verwerflichen“ (Al-Jamaa Al-Salafiya Al-Muhtasiba/JSM) bei, die in den 1960er Jahren entstanden war und sich stark an den Lehren von Muhammad Nasir ad-Din al-Albani orientierte, einem der wichtigsten Vordenker des Salafismus. Mit ihm teilte die JSM die Kritik an den anerkannten islamischen Rechtsschulen und am Zustand des Islam, der sich am Vorbild der ersten drei Generationen der Muslime orientieren und die Religion von schädlichen Innovationen und Missverständnissen reinigen müsse.

Die voranschreitende Öffnung Saudi-Arabiens, die mit dem Ölreichtum und der einsetzenden Modernisierung begonnen hatte, galt den Salafisten als Abkehr vom Glauben. Die JSM vertrat einen extremen Konservatismus, aus dessen Sicht selbst der saudische Wahhabismus schon als Abweichung vom wahren Islam galt, u.a. weil er mit der korrumpierenden Macht des saudischen Staates kooperierte. Ihre strikte und wörtliche Lesart des Koran und der Hadithe ließ sie Formen der religiösen Rituale entwickeln, die sie immer öfter in Konflikt mit dem wahhabitischen Establishment brachte.

1977 kam es schließlich zum Bruch zwischen führenden wahhabitischen Ulema (Religionsgelehrten) und einer Minderheit von JSM-Mitgliedern, der in der Abspaltung einer sich fortan Ikhwan nennenden Gruppe rund um den als charismatischen geltenden und wegen seiner Herkunft aus einem angesehenen Beduinenstamm verehrten Juhaiman endete. Der Konflikt mit den Wahhabiten und die Radikalisierung der Ikhwan blieb den Sicherheitsbehörden nicht verborgen, die im Dezember 1977 gegen deren Mitglieder vorgingen.

Rückkehr des Mahdi

Der vorgewarnte Juhaiman konnte der Verhaftung entgehen und zog sich mit noch verbliebenen Getreuen in die Wüste zurück, wo er bis zur Besetzung der Großen Moschee im Untergrund lebte.

In diesen knapp zwei Jahren publizierte Juhaiman eine Reihe von Briefen, in denen er seine radikalen religiösen Überzeugungen propagierte. In einem dieser Schreiben griff er den saudischen Staat frontal an, der die Religion weltlichen Interessen untergeordnet, dem Dschihad abgeschworen und gemeinsame Sache mit christlichen Mächten wie Amerika gemacht habe. Dem saudischen Herrscherhaus sprach er einen legitimen Anspruch auf die Führung der islamischen Umma ab, weswegen ihm keine Loyalität entgegengebracht werden müsse. Seine Anhänger rief er dazu auf, sich vom saudischen Staat und seinen Institutionen fernzuhalten. Nicht minder grundsätzlich fiel seine Kritik am wahhabitischen Establishment aus, auch wenn er davor zurückschreckte, die Ulema kurzerhand zu Ungläubigen zu erklären.

Von großer Wichtigkeit wurde für Juhaiman die Überzeugung von der kommenden Wiederkehr des Mahdi, ein Gedanke, dem im sunnitischen Islam im Allgemeinen keine große Bedeutung zukommt. Doch eines Nachts im Jahre 1978 hatte Juhaiman durch einen Traum die Gewissheit erlangt, dass einer seiner treuen Mitstreiter, Muhammad al-Qahtani, niemand geringerer als der Mahdi sei und das Ende aller Tage bevorstehe.

Juhaiman und seine Gruppe begannen Waffenlager anzulegen, um auf den Tag X vorzubereitet zu sein. Die Wochen der islamischen Pilgerreise nach Mekka im Herbst 1979 nutzten die Ikhwan, um ihr umfangreiches Waffenreservoir Stück für Stück auf das Areal der Großen Moschee zu schmuggeln. Am ersten Tag des islamischen Jahres 1400 war es schließlich so weit: Juhaiman und hunderte seiner Anhänger traten in Aktion und verkündeten im Zuge der Besetzung der Moschee die Rückkehr des Mahdi.

Anmerkungen:

[1] Aufnahmen vom Beginn der Besetzung sind in der Arte-Produktion „Mekka 1979 – Urknall des Terrors?“ zu sehen.

[2] So nicht anders angegeben, stützt sich das Folgende hauptsächlich auf Lacroix, Stéphane/Hegghammer, Thomas: The Meccan Rebellion. The Story of Juhayman al-‚Utaybi Revisited, Bristol 2011.

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