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Warum sich Juden in Deutschland zunehmend unsicher fühlen

Synagoge in Halle (Quelle: Allexkoch, CC BY-SA 4.0)

Das Entsetzen über den antisemitischen Anschlag in Halle ist zu Recht groß. Bleibt die Frage, warum judenfeindliche Angriffe von Islamisten deutlich weniger Empörung hervorrufen.

Bisweilen begegnet man judenfeindlichen Angriffen anderer politischer Provenienz, etwa jenen von Islamisten, sogar mit einer gewissen Nachsicht. Und dann ist da ja noch der Volkssport „Israelkritik“. Kein Wunder, dass sich immer mehr Juden und Jüdinnen in Deutschland zunehmend unsicher fühlen.

Antisemitismusdebatten in Deutschland zeichnen sich regelmäßig dadurch aus, dass sie die Problematik und die Ausprägung des Hasses gegen Juden nicht in ihrer Gänze zu erfassen vermögen und daran kranken, dass etlichen Proponenten das eigene politische Fahrwasser wichtiger ist als eine sorgsame Analyse, die auch unangenehme Erkenntnisse einschließt. Thomas Eppinger hat es in seinem Beitrag „Der Anschlag in Halle. Protokoll eines Staatsversagens“ auf den Punkt gebracht:

„Heute gleichen so manche Tweets und Posts von Rechten dem notorischen ‚das hat nichts mit dem Islam zu tun‘ wie ein Ei dem anderen. Hier der ‚Einzeltäter‘, dort der ‚psychisch Kranke‘. Ja, Stephan B. war nicht in einer Kampfeinheit organisiert. Aber auch Einzelgänger agieren nicht im luftleeren Raum. Die ideologischen Netzwerke von Rechtsextremen im Internet stehen denen von Jihadisten nicht nach. Stephan B. hat sich seine Wahnwelt nicht allein ausgedacht. Der islamische Antisemitismus hat den rechten und linken Antisemitismus nicht ersetzt, er ist dazugekommen. ‚Jude‘ ist wieder ein Schimpfwort an deutschen Schulen. Die Diffamierung Israels ist auch in sogenannten Qualitätsmedien und den öffentlich-rechtlichen Sendern an der Tagesordnung. Übergriffe gegen Juden werden als Israelkritik verharmlost.“

Was nach dem Attentat in Halle geschah, war das Erwartbare. Es gab einige Kundgebungen mit überschaubarer Teilnehmerzahl, viele Warnungen vor dem Erstarken der Neonaziszene und deutliche Kritik an der AfD. Politiker warteten mit Äußerungen auf, denen man anmerkte, dass sie weniger ein Ausdruck von Entsetzen und Empathie waren als vielmehr dem Satzbaukasten entstammten, der in solchen Fällen immer ausgepackt wird. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer etwa sprach von einem „Alarmzeichen“, für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war ein solcher Angriff „in Deutschland nicht mehr vorstellbar“.

Wer so etwas von sich gibt, muss in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor dem Antisemitismus und den Taten von Neonazis fest die Augen verschlossen haben. Es fehlte eigentlich nur noch jemand, der „Wehret den Anfängen!“ ruft.

Die AfD spielt den Massakerversuch herunter

Die AfD stellte derweil erneut unter Beweis, dass sie diejenige Partei im Bundestag ist, deren Anhänger besonders zahlreich antisemitischen Positionen zustimmen. Zwar verurteilte das Vorstandsmitglied Alice Weidel den Anschlag von Halle pflichtschuldig, doch andere AfD-Funktionäre konnten nicht an sich halten. Der sächsische Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich etwa verharmloste auf seiner Facebook-Seite den antisemitisch motivierten Massakerversuch. „Was ist schlimmer, eine beschädigte Synagogentür oder zwei getötete Deutsche?“, schrieb er dort, und: „Es liegt noch nicht einmal der Versuch eines Tötungsdelikts an den Besuchern des Gottesdienstes in der Synagoge vor.“

Der Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses, Stephan Brandner, teilte auf Twitter ein Posting, in dem es hieß, die beiden Todesopfer seien Deutsche gewesen, doch Politiker „lungern mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum“. Der Presseprecher der AfD-Sachsen Andreas Albrecht Harlaß erklärte auf Facebook: „Nur mal zur Erinnerung. Der Psycho von Halle hat Deutsche erschossen, keine Semiten …“ Die Berliner Bezirksverordnete Anne Zielisch zog ebenfalls auf Twitter in Zweifel, dass der Attentäter ein Deutscher ist, und schrieb: „Mir kam er auf dem Video osteuropäisch vor.“ Mit anderen Worten: In der AfD sind alles andere als randständige Kräfte der Überzeugung, dass Juden keinen Schaden erlitten und ohnehin keine Deutschen seien wie die beiden Ermordeten, während es sich beim Täter um einen Ausländer handele.

Solche Aussagen sind zutiefst widerwärtig, und alle Empörung darüber ist vollauf berechtigt. Gerade deshalb stellt sich die Frage, warum antisemitische Angriffe und Äußerungen anderer politischer Provenienz nicht für ähnlich viel Aufmerksamkeit und Ablehnung sorgen. Wenige Tage vor dem Anschlag in Halle beispielsweise hatte ein offenbar islamistisch motivierter Syrer in Berlin versucht, unter „Allahu akbar“- und „Fuck Israel“-Rufen mit einem Messer in die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin einzudringen. Das Sicherheitspersonal überwältigte ihn, die Polizei nahm ihn fest.

Gewiss, ein vollendeter Anschlag ist von anderer Qualität als ein gescheiterter, doch das erklärt nicht hinreichend, warum die öffentlichen Reaktionen derart dünn ausfielen.

Ein Brandanschlag als „Israelkritik“

Warum sich Juden in Deutschland zunehmend unsicher fühlen
Synagoge in Wuppertal (Quelle: Atamari, CC BY-SA 3.0)

Wieder einmal musste der Zentralrat der Juden selbst in die Offensive gehen und die rasche Freilassung des Täters kritisieren. Aus dem nichtjüdischen Teil dessen, was gerne Zivilgesellschaft genannt wird, kam nur wenig. Ähnlich verhielt es sich, als es Ende Juli 2014 einen Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal gab. Wären die Täter deutsche Neonazis gewesen, dann hätte das vermutlich Reaktionen ausgelöst wie der Angriff in Halle, auch wenn sich in der Wuppertaler Synagoge zum Zeitpunkt der Attacke keine Menschen aufhielten. Sie waren aber Palästinenser, und in Deutschland neigt man dann gerne dazu, für eine solche Tat mit dem Verweis auf den sogenannten Nahostkonflikt ein gewisses Verständnis aufzubringen.

In diesem Fall ging das Verständnis sogar so weit, dass das Wuppertaler Amtsgericht die Täter nur zu Bewährungsstrafen verurteilte und argumentierte, dass die besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber der jüdischen Gemeinde und die spezielle Symbolkraft des Brandanschlags zwar schwer wögen, zumal die Gemeinde schon Zeiten brennender Synagogen erlebt habe. Dennoch gebe es keinerlei Anhaltspunkte für eine antisemitische Tat, die drei Palästinenser hätten lediglich ihren Protest gegen Israels Vorgehen im Gazakrieg ausdrücken wollen. Mit einem Brandanschlag auf eine religiöse jüdische Einrichtung, wohlgemerkt. Das Oberlandesgericht in Düsseldorf bestätigte das skandalöse Urteil später. Für Kritik hat das außerhalb der jüdischen Gemeinschaft kaum gesorgt.

Es blieb dem amerikanischen Juristen und Harvard-Professor Alan M. Dershowitz vorbehalten zu sagen: „Die Idee, ein Angriff auf eine Synagoge sei als antiisraelischer politischer Protest zu rechtfertigen und nicht als antijüdische Hasstat einzuordnen, ist so absurd wie die Behauptung, die Reichspogromnacht sei ein Protest gegen den schlechten Service jüdischer Ladenbesitzer.“

Auch „Kindermörder Israel“-Rufe wie bei den antiisraelischen Aufmärschen im Sommer 2014 während des letzten Gazakrieges würden gewiss nicht so verständnisinnig durchgewinkt werden, wenn sie von autochthon deutschen Kameraden gerufen würden statt von radikalisierten Muslimen.

Der islamische Antisemitismus ist hinzugekommen

Dass 70 Prozent der in Deutschland lebenden Juden es vermeiden, Symbole oder Gegenstände, beispielsweise eine Kippa oder einen Davidstern, in der Öffentlichkeit zu tragen oder zu zeigen, durch die sie als Juden erkennbar sein könnten, liegt jedenfalls nicht nur an den Neonazis. Zwar ordnet das Bundeskriminalamt in seiner Statistik die antisemitischen Straftaten zu über 90 Prozent dem rechten Spektrum zu, doch Jüdinnen und Juden, die Opfer von Beleidigungen und Übergriffen geworden sind, verorten die Täterschaft zu 80 Prozent bei Muslimen.

Diese große Diskrepanz erklärt sich nicht zuletzt durch die Kategorisierung: Die deutschen Behörden verbuchen die weitaus meisten antisemitischen Angriffe als rechtsextrem, auch dann, wenn ein anderer Hintergrund vorliegt wie etwa bei einem Hitlergruß von Hisbollah-Anhängern auf der islamistischen Al-Quds-Demo.

Es ist falsch, die Tatsache zu ignorieren oder zu beschönigen, dass Antisemitismus unter Muslimen stark verbreitet ist, auch und gerade unter den Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, die von Kindesbeinen an ein judenfeindliches Weltbild vermittelt bekommen haben. Der Rede vom „importierten Antisemitismus“, die man vor allem von AfD-Funktionären und -Anhängern hört, ist dennoch zu widersprechen, weil sie suggeriert, dass nur dieser relevant sei und es in Deutschland keinen nennenswerten Hass gegen Juden aufseiten der Autochthonen, gar in der AfD, gebe. Es ist, wie es Thomas Eppinger formuliert hat: Der islamische Antisemitismus hat den rechten und linken Antisemitismus nicht ersetzt, er ist dazugekommen.

Islamisten und Rechtsextremisten bilden zudem zwei Seiten derselben Medaille, wie beispielsweise Malte Lehming im Tagesspiegel herausgearbeitet hat: „Sie lehnen den Westen und dessen Institutionen ab. Sie sind gegen die Emanzipation der Frau und die Ehe für alle. Sie verachten die Demokratie, den Liberalismus, den Individualismus. Sie schlüpfen gerne in die Opferrolle, aus der sie ihre Gewalttaten ableiten. Sie wähnen sich in einem endzeitlichen Kampf, in dem es gilt, den Feind zu besiegen oder selbst unterzugehen.“ Und sie hassen Juden, sie teilen „den Willen zur antisemitischen Revolution“, wie der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn festhielt.

„Israelkritik“ als Volkssport

Warum sich Juden in Deutschland zunehmend unsicher fühlen
Quelle: Alex Feueherdt

Vielen fällt es offensichtlich leichter, antisemitische Taten und Äußerungen zu verurteilen, wenn sie von Neonazis stammen, gewiss auch aus Gründen der Abgrenzung gegenüber dem Rassismus und der generellen Feindseligkeit insbesondere der AfD gegenüber Muslimen. Dabei schließt es sich überhaupt nicht aus, dieselben Menschen im einen Moment gegen rassistische Anfeindungen in Schutz zu nehmen und sie im nächsten für antisemitisches Denken und Handeln zu kritisieren. Im Gegenteil: Beides sollte sich von selbst verstehen.

So, wie es selbstverständlich sein sollte, sich solidarisch mit dem jüdischen Staat zu erklären. Doch in Deutschland ist die „Israelkritik“ eine Art Volkssport, der nahezu alle politischen Lager zusammenbringt und dem auch medial breiter Raum gegeben wird. Der Hass auf den jüdischen Staat verbindet. Wer nicht mittut, wird schon mal von einer auflagenstarken Publikation bezichtigt, zu einer mächtigen, von der israelischen Regierung finanzierten, im Hintergrund wirkenden jüdischen Lobby zu gehören und als „Frontorganisation“ des Mossad zu fungieren. All das hat dazu beigetragen, dass 60 Prozent der in Deutschland lebenden Juden in den vergangenen fünf Jahren darüber nachgedacht haben, aus Deutschland auszuwandern.

Viele Juden fühlen sich dort nicht mehr sicher, und das Attentat in Halle hat das noch einmal verschärft, zumal die Polizei nicht für den Schutz der Synagoge sorgte, obwohl die Jüdische Gemeinde sie mehrfach darum gebeten hatte.

Michael Wuliger, Redakteur bei der Wochenzeitung Jüdische Allgemeine, schrieb deshalb auf Twitter: „Streicht die Stellen der Antisemitismusbeauftragten. Die bewirken nachweislich nichts. Stellt von dem eingesparten Geld israelische Sicherheitskräfte ein, die unsere Einrichtungen wirksam schützen.“ Und der frühere ARD-Korrespondent Richard C. Schneider resümierte: „Für den Staat haben wir Juden seit Jahrzehnten nur eine Funktion gehabt: Wir waren und sind der Persilschein für die alte westdeutsche Republik genauso wie für das wiedervereinigte Land. Der Beweis, dass Deutschland nichts mehr mit der NS-Zeit zu tun hat. […] Das ist die bittere Erkenntnis, der wir Juden in Deutschland uns stellen müssen. Wir sind nur ein Alibi.“

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