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Tunesiens entmachtete Demokratie

Anlässlich des 67. Jahrestags der Unabhängigkeit des Landes ließ Tunesiens Präsident am 20. März seine Anhänger aufmarschieren. (© imago images/ZUMA Wire)
Anlässlich des 67. Jahrestags der Unabhängigkeit des Landes ließ Tunesiens Präsident am 20. März seine Anhänger aufmarschieren. (© imago images/ZUMA Wire)

Tunesien galt als Vorzeigekind des Arabischen Frühlings, unter Präsident Kais Saied hat es den demokratischen Weg zugunsten einer autoritären Führung verlassen.

Das neue Jahr begann in Tunesien mit einer Verhaftungswelle. Diese richtete sich gegen Politiker der Opposition und Personen des öffentlichen Lebens, darunter Mitglieder der islamistischen Partei Ennahda und Noureddine Boutar, Leiter des für seine kritischen Berichte bekannten Radiosenders Mosaique FM. Angeordnet hat die Verhaftungen Präsident Kais Saied, der die Inhaftierten beschuldigt, »Terroristen« zu sein, ein Mordkomplott gegen ihn zu schmieden und sich zum »Umsturz [des] Staates« verschworen zu haben.

Vom Hoffnungsträger zum Autokraten

Von jenen Staaten, die im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings 2011 Umbrüche erlebten, galt Tunesien lange Zeit als der einzige Hoffnungsträger. Ein blutiger Bürgerkrieg wie in Syrien und Libyen blieb dem Land erspart, ebenso ein Militärcoup wie 2013 in Ägypten. Langzeitpräsident Zine el-Abidine Ben Ali ging 2011 ins Exil nach Saudi-Arabien, wo er 2019 starb.

Doch seit der Revolution war Tunesien immer wieder dem Chaos nahe, die politische Landschaft von Konflikten zwischen islamistischen und säkularen Kräften geprägt. Eine Einigung 2016 brachte zwar Stabilität, blockierte aber Reformen, begünstigte Korruption und verschärfte die wirtschaftliche Krise.

Als im Juli 2019 Präsident Beji Caid Essebsi starb, trat im Oktober der 61-jährige Kais Saied seine Nachfolge an. Der pensionierte Verfassungsrechtler wurde mit 73 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 55 Prozent) gewählt. Er trat an, um eine neue Seite in der Geschichte Tunesiens aufzuschlagen, wie er bei seiner Rede nach dem Wahlsieg verkündete. Er wolle die Korruption bekämpfen und die wirtschaftlichen Probleme lösen.

Obwohl viele Wähler hofften, dass der parteilose Saied den Stillstand überwinden werde, schätzten Analysten seinen Handlungsspielraum von Anfang an als begrenzt ein. Sein Hauptproblem sahen sie, dass er keine Partei hinter sich hatte und daher über keine weitreichenden Strukturen und Organisationen verfügte. Die Gefahr sei groß, dass er isoliert und in die Irrelevanz abgedrängt würde.

Dem war sich wohl auch Saied bewusst. Um sich auch ohne Hilfe von Parteistrukturen seine Macht zu sichern, riss er die meisten Befugnisse an sich und stutzte Tunesiens junge Demokratie zugunsten eines Ausbaus seiner präsidialen Macht zurück. Im Juli 2021 löste er das gewählte Parlament auf und entließ zudem aufgrund mutmaßlicher Korruption Dutzende Richter. Seitdem regiert er per Dekret, während er das politische System zu seinen Gunsten weiter umgestaltet.

Kein Ende der Krise

Seit Saied an die Macht kam, haben sich die sozioökonomischen Bedingungen, befeuert durch die Pandemie und jüngst noch einmal durch den Krieg in der Ukraine, weiter verschlechtert. Heute sind mehr Menschen ärmer und ohne Arbeit als noch zu Zeiten von Ben Ali. Viele Tunesier haben das Vertrauen in die Demokratie verloren und glauben, dass diese Regierungsform zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme ungeeignet sei.

Aber auch Saieds autoritärer Weg hat bisher nicht zur Verbesserung der Lebensverhältnisse geführt. Die tunesische Wirtschaft leidet an einem schwachen Wachstum, die Staatsverschuldung des Landes wird auf 35,5 Milliarden US-Dollar geschätzt, wovon 21 Milliarden auf Auslandsschulden entfallen. Für das Haushaltsjahr 2023 wird der Schuldendienst auf 2,1 Milliarden US-Dollar geschätzt, was derzeit fast ein Drittel der Devisenreserven des Landes ausmacht.

Schwindender Rückhalt

Die Parlamentswahl Anfang Jänner wurde sowohl von der politischen Opposition als auch von zivilgesellschaftlichen Gruppen boykottiert. Die Befugnisse der Volksvertretung, so argumentieren sie, sei durch Saieds Staatsumbau eingeschränkt worden. Außerdem könne der Präsident durch seine neue Macht das Parlament jederzeit auflösen. Am Ende beteiligten sich nur rund elf Prozent der fast acht Millionen Wahlberechtigten des Landes.

Der Präsident hingegen beharrt auf seinen Maßnahmen und erklärt, diese seien legal und notwendig, um in Tunesien das Chaos zu beenden, das von einer korrupten und eigennützigen politischen Elite verursacht worden sei. Um seine Position zu sichern, spielt Saied zusehends die Migrationskarte. Er weiß, dass ein harter Kurs in Fragen der Zuwanderung ihm eine gewisse Unterstützung durch europäische Regierungen bringen kann, die täglich mit illegalen Grenzübertritten konfrontiert sind.

Die Opposition sieht in der geringen Wahlbeteiligung im Jänner einen Rückschlag für Saieds Pläne und fordert den ehemaligen Juraprofessor zum Rücktritt auf. Und auch der frühere Präsident Tunesiens, Moncef Marzouki, meldete sich im Jänner aus dem französischen Exil zu Wort: Er fordert die Armee auf, Saied abzusetzen, den er als politischen Debütanten bezeichnete und dem die Fähigkeit fehle, das nordafrikanische Land zu regieren. Keine guten Aussichten für 2023.

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