Erweiterte Suche

Die Klischees der Medienberichterstattung über die Gewalt in der Westbank

Kommen in westlichen Medien kaum vor: bewaffnete Palästinenser in Dschenin
Kommen in westlichen Medien kaum vor: bewaffnete Palästinenser in Dschenin (Quelle: JNS)

Das Publikum eines Medienunternehmens verdient es zu erfahren, was wirklich passiert und nicht, was Journalisten für die Wahrheit halten. 

David M. Litmann

Es ist ein Klischee, dass jeder ein Recht auf seine eigene Meinung habe, aber nicht auf seine eigenen Fakten. Was den israelisch-palästinensischen Konflikt betrifft, so steht es jedem frei, eine Meinung darüber zu haben, wer die Schuld an der Gewalt im Westjordanland trägt. Aber ehrlicher Journalismus verbietet es, wesentliche Zusammenhänge zu verdrehen oder wegzulassen, damit die Berichterstattung den vorgefassten Meinungen des Journalisten entsprechen. Mit einer inkorrekten Berichterstattung ist niemandem gedient, schon gar nicht den Opfern von Gewaltkonflikten. Und dennoch ist die Berichterstattung westlicher Medien über die Hintergründe und Zusammenhänge der Gewalt im und aus dem Westjordanland geradezu von falschen Darstellungen der Realität vor Ort durchzogen.

Um ein Beispiel zu nennen: Laut vieler Nachrichtenberichte der jüngsten Vergangenheit habe das »Aufflammen« der Gewalt mit der Bildung der neuen israelischen Regierung begonnen und sei von extremistischen Israelis vorangetrieben worden.[1]

So behauptete beispielsweise ein CNN-Artikel vom 15. Juni: »Seit Israels neue Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu Ende Dezember letzten Jahres vereidigt wurde, die rechteste und religiös konservativste in der Geschichte des Landes, ist die Gewalt zwischen Siedlern und Palästinensern im Westjordanland wieder aufgeflammt.«

Ishaan Tharoor von der Washington Post drückte es noch unverblümter aus und titelte: »Israels rechtsextreme Regierung steht im Zentrum des Anstiegs der Gewalt.« Yolande Knell von der BBC wiederum behauptete: »Die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis ist seit der Wiederwahl von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu im vergangenen Jahr wieder aufgeflammt.«

Ist an diesen Behauptungen etwas Wahres dran? Ausgehend von den öffentlich zugänglichen Daten lautet die Antwort eindeutig: Nein. So begann das »Aufflammen« der Gewalt nicht nur lange vor dem Amtsantritt der derzeitigen Regierung im November 2022, sondern wurde auch überwiegend durch palästinensische und nicht durch israelische Angriffe ausgelöst.

Die Daten

Um zu untersuchen, ob es ein »Aufflammen« der Gewalt gegeben hat, und wenn ja, wann dieses begann, ist es sinnvoll, das Ausmaß der Gewalt im Laufe der Zeit anhand der Zahl der Vorfälle und der Opfer zu betrachten.

Bei ihrer Darstellung des »Aufflammens« der Gewalt als durch israelische Taten motiviert stützen sich die Medien in der Regel auf Daten der Vereinten Nationen (insbesondere des Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten), die sich auf »siedlerbezogene Vorfälle« berufen. Dementsprechend verwendet diese Studie zur Frage der »Siedlergewalt« dieselben UN-Daten über »siedlerbezogene Vorfälle«, die auch von den Medien zitiert werden.

Die Vereinten Nationen führen jedoch keine Daten über palästinensische Gewalt. Für diese Informationen stützt sich dieser Bericht auf den israelischen Sicherheitsdienst Shin Bet, der über die vollständigste Datenquelle für die Zahl der Angriffe gegen Israel verfügt und damit verwendet werden kann, um die Angriffe gegen Israel im infrage stehenden Zeitraum zu verfolgen. Für die Zahl der Terrorismusopfer werden wiederum die Daten aus der von der israelischen Regierung erstellten Liste der Opfer palästinensischer Gewalt und Terrorismus seit September 2000 herangezogen. Weil im Rahmen dieser Analyse der Schwerpunkt auf der Gewalt im Westjordanland liegt, werden in den nachstehenden Zahlen Angriffe aus dem Gazastreifen und deren Opfer nicht berücksichtigt.

Weiters ist zu beachten, dass der Vergleich der Daten über palästinensische Angriffe mit denen über israelische aus mehreren Gründen nicht ganz genau ausfällt, weil die Quellen nicht immer dieselbe Art von Angriffen zählen. So umfassen die UN-Angaben zu »siedlerbedingten Vorfällen« jedwede israelische Steinwurfattacken, während die Daten des Shin Bet palästinensische Steinwürfe nur dann einbeziehen, wenn sie »zu mittelschweren und schweren Verletzungen führen«. 

Außerdem ist es schwierig, die tatsächliche Bedeutung der UNO-Daten zu entschlüsseln, die intransparent und oft zweifelhaft sind, wie Tamar Sternthal von CAMERA ausführlich dargelegt hat. Was wir über die Daten wissen, deutet darauf hin, dass sie oft nicht das bedeuten, was man erwarten würde. Laut der eigenen Erklärung der Vereinten Nationen beinhalten die Zahlen für »Vorfälle mit israelischen Siedlern« beispielsweise:

»Angriffe und angebliche [sic!] Angriffe durch israelische Siedler sowie Vorfälle im Zusammenhang mit der Zugangsverhinderung [sic!] sowie Zusammenstöße nach dem Eindringen israelischer Siedler in palästinensische Gemeinden. Dazu gehören auch Palästinenser, die bei Angriffen [sic!] oder angeblichen Angriffen gegen [sic!] israelische Siedler getötet oder verletzt wurden.« 

Mit anderen Worten, die von CNN zitierten »421 Vorfälle im Zusammenhang mit Siedlern« beinhalten aller Wahrscheinlichkeit nach auch solche, bei denen die Angreifer Palästinenser waren. Diese Zahl könnte auch palästinensische »Versuche, Israel ohne Genehmigung zu betreten«, einschließen gemäß der Definition der Vereinten Nationen von »Zugangsverhinderung«. Weiters könnte sie auch Vorfälle enthalten, die nur behauptet, aber nicht bestätigt wurden.

Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen ihre Zahlen für Siedlergewalt mit bezugslosen oder unbestätigten Daten auffüllen, ist nicht nur ein hypothetisches Problem. Ein Beispiel dafür wären die UNO-Angaben zu palästinensischen Todesopfern aufgrund »siedlerbedingten Zwischenfällen« (siehe unten). 

Die UN-Zahlen zeigen, dass seit Anfang 2018 42 Palästinenser bei solchen Vorfällen ums Leben gekommen sind, wobei die Vereinten Nationen leider nicht genügend Details bekannt geben, um die Todesopfer oder die entsprechenden Umstände zu verifizieren. Eine Untersuchung von B’Tselem, einer der UN-Quellen, ist hier aufschlussreicher. 

Die Organisation schlüsselt die Todesfälle zwar nicht auf dieselbe Weise auf wie die Vereinten Nationen, aber ihre Liste für »Palästinenser, die von israelischen Zivilisten getötet wurden – Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem)« und »Palästinenser, die von einer unbekannten israelischen Partei getötet wurden – Westjordanland (einschließlich Ostjerusalem)«[2] enthält die Namen von siebenundzwanzig Palästinensern, die seit Anfang 2018 getötet wurden. Von diesen siebenundzwanzig

  • ist einer nicht tot, sondern liegt im Koma, nachdem er versehentlich von einem Abschleppwagen der israelischen Polizei überfahren wurde, der mit Steinen beworfen wurde,
  • wurden acht dabei getötet, als sie Stichwaffenangriffe ausführten,
  • wurden zwei bei der Ausführung von Schusswaffenangriffen getötet,
  • wurde einer getötet, als er eine Rammattacke mit seinem Auto durchführte,
  • wurde einer getötet, als er mit Sprengstoff und Messern in eine israelische Siedlung eindrang,
  • wurde einer getötet, als er mit einer Waffe in eine israelische Siedlung eindrang (Anmerkung: B’Tselem verschweigt, dass er eine Handfeuerwaffe bei sich trug),
  • wurden zwei getötet, als sie mit Messern in eine israelische Siedlung eindrangen,
  • wurde einer getötet, als er Steine auf Israelis warf und angeblich versuchte, einen Israeli zu erstechen (Anmerkung: B’Tselem räumt zwar ein, dass einer der Schützen, die den Palästinenser töteten, behauptete, dieser habe versucht, seine Tochter zu erstechen, verschweigt aber die Tatsache, dass am Tatort ein Messer gefunden wurde),
  • wurde einer getötet, als er Steine auf Israelis warf,
  • wurde einer getötet, als er unbewaffnet in eine israelische Siedlung eindrang,
  • wurde einer getötet, als er in »Zusammenstöße« mit Israelis verwickelt war,
  • wurden zwei getötet, als sie sich mit Israelis »gegenseitig mit Steinen bewarfen«,
  • wurden zwei getötet, als sie Steine auf Israelis warfen, die angeblich Bewohner palästinensischer Dörfer angegriffen hatten,
  • wurde einer durch einen Stein getötet, der aus Richtung einer israelischen Siedlung geworfen wurde,
  • wurde einer bei einem Siedlerangriff in einem palästinensischen Dorf getötet,
  • wurde einer bei einer Konfrontation mit Siedlern getötet, die einen illegalen Außenposten errichteten.

Von den sechsundzwanzig Todesopfern (ohne den zwar als »Todesopfer« Gezählten, der allerdings gar nicht tot ist),die unter die Definition der Vereinten Nationen für »siedlerbezogene Vorfälle« fallen, waren also mindestens siebzehn (und damit 65 Prozent) sowohl bewaffnet als auch dabei, Angriffe auf Israelis zu verüben. Man beachte, dass diese Zahl die wohlwollendste Interpretation der palästinensischen Todesopfer bei diesen Vorfällen beinhaltet, die also diejenigen, bei denen es um »Zusammenstöße«, »gegenseitiges Steinewerfen« und unbewaffnetes nächtliches Eindringen« in die Häuser von Israelis[3] nicht als palästinensische Gewalttat zählt.

Ob dieser Trend auch für die anderen fünfzehn oder sechzehn Todesopfer gilt (je nachdem, ob die Vereinten Nationen auch Lebende wie den Koma-Patienten zu den »Todesopfern« zählen), die in ihrer Statistik angegeben sind, in der B’Tselem-Datenbank aber nicht erwähnt werden, lässt sich angesichts der Undurchsichtigkeit der Zahlen der Vereinten Nationen nicht feststellen. Es gibt jedoch deutliche Hinweise darauf, dass ein erheblicher Anteil der von den Vereinten Nationen als »siedlerbezogene Vorfälle« eingestuften Ereignisse Vorfälle betrifft, bei denen Palästinenser und nicht Israelis die Angreifer waren.

Um die Genauigkeit der Medienberichterstattung über die Gewalt im Westjordanland zu analysieren, gehen wir hier dennoch davon aus, dass die UN-Daten über »siedlerbedingte Vorfälle« das Ausmaß der israelischen Siedlergewalt gegen Palästinenser korrekt wiedergeben.

Anzahl der Angriffe

Ein klares Bild ergibt sich, wenn man die Daten der Vereinten Nationen und des Shin Bet über die Anzahl der Angriffe auf beiden Seiten in den vergangenen fünf Jahren betrachtet.

Die Klischees der Medienberichterstattung über die Gewalt in der Westbank

Aus der Grafik lassen sich zwei Dinge ablesen: Erstens übersteigt die Zahl der palästinensischen Angriffe auf Israelis bei Weitem die Zahl der Angriffe auf Palästinenser durch israelische Siedler.

Zweitens zeigt sie, dass der Aufwärtstrend der Gewalttaten lange vor Amtsantritt der derzeitigen Regierung im November 2022 begonnen hat. Nachdem die Zahl der Vorfälle in den Jahren 2018 bis 2020 relativ stabil geblieben war, begann sie im Jahr 2021 drastisch zu steigen. Dieser Aufwärtstrend setzte sich bis ins Jahr 2022 fort.

Zahl der Todesopfer

Die Daten über die Zahl der Todesopfer zeigen einen ähnlichen Trend. Während die Zahlen für 2021 relativ niedrig sind (höher als 2020, aber niedriger als 2018 und 2019), steigt die Zahl der Todesopfer im Jahr 2022 drastisch an.

Die Klischees der Medienberichterstattung über die Gewalt in der Westbank

Während die derzeitige israelische Regierung 2022 an die Macht kam, ereignete sich die überwiegende Mehrheit der Todesfälle vor den Wahlen am 1. November und vor der Regierungsvereidigung am 15. November. Von den dreizehn palästinensischen Todesopfern, die im Jahr 2022 nach UN-Angaben bei »siedlerbezogenen Vorfällen« ums Leben kamen, enthält die B’Tselem-Datenbank die Namen und Daten von acht Personen. Von diesen acht wurde jeder einzelne vor dem 15. November getötet. Von den achtundzwanzig Terroropfern wurden dreiundzwanzig vor und drei am 15. November getötet.

Eine Anmerkung zu den Anti-Terror-Operationen der IDF

Aus offensichtlichen Gründen sind in den Zahlen keine Vorfälle im Zusammenhang mit israelischen Anti-Terror-Operationen enthalten. Rechtmäßige Sicherheitsoperationen zur Verhinderung und Beseitigung von Bedrohungen, die von Gruppen ausgehen, die international als terroristische Organisationen eingestuft sind, können nicht mit Terroranschlägen verglichen werden, die von Palästinensern verübt werden und auch nicht mit anderen ungesetzlichen Angriffen, die von palästinensischen und israelischen Zivilisten verübt werden.

Für Interessierte hat die Foundation for Defense of Democracies eine Karte erstellt, die »Zeitpunkt und Ort der von palästinensischen Terroristen verübten Gewalttaten sowie die Reaktionen der israelischen Sicherheitskräfte« zeigt, seit Israel am 31. März 2022 die Operation Break the Wave als Reaktion auf den oben dargestellten dramatischen Anstieg der Terroranschläge ab 2021 startete.

Schlussfolgerung

Die von Medien wie CNN, BBC und Washington Post verbreitete Darstellung ist unhaltbar und fehlgeleitet. Sie täuschen ihr Publikum, indem sie eine verzerrte und selektiv bearbeitete Zeitleiste präsentieren, in welcher der dramatische Anstieg der palästinensischen Gewalt gegen Israelis im Jahr 2021 und in den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 völlig ausgelöscht wird. 

Auf diese Weise verzerren die Berichterstattungen die Realität und lassen die Gewalt als von israelischen Extremisten verursacht erscheinen. Solche Extremisten haben zwar unbestreitbar zur Gewalt beigetragen, sind aber nur ein Teil der Geschichte.

Das Publikum eines Medienunternehmens verdient es zu erfahren, was wirklich passiert und nicht, was Journalisten für die Wahrheit halten. Noch wichtiger ist jedoch, dass den Opfern der Gewalt nicht mit verfälschten Berichten gedient ist, die sowohl die Öffentlichkeit als auch die politischen Entscheidungsträger in die Irre führen.

Anmerkungen:

[1] CAMERA ist eine überparteiliche Organisation. Es ist nicht die Absicht des Autors, einen bestimmten Politiker oder eine politische Partei zu verteidigen, zu fördern oder anzugreifen. Es ist auch nicht Absicht, Vorfälle wie den verurteilungswürdigen Angriff israelischer Siedler auf Huwara Anfang des Jahres in irgendeiner Weise zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Es ist jedoch unsere Aufgabe, »eine genaue und ausgewogene Berichterstattung über Israel und den Nahen Osten zu fördern«. Daher sind Versuche, Israel oder Israelis fälschlicherweise für ein Ereignis, einen Trend oder ein Phänomen verantwortlich zu machen, für unseren Auftrag relevant, unabhängig davon, welche politischen Akteure im Spiel sind und wie wir persönlich zu ihnen stehen.

[2] Die Datenbank enthält keine palästinensischen Todesopfer innerhalb der »Grünen Linie«, also in Israel selbst, die von israelischen Zivilisten oder nicht-identifizierten Israelis verursacht wurden.

[3] Nach Angaben der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) drang der für diesen Fall verantwortliche Palästinenser um 03:45 Uhr auf die Farm ein, griff einen Wachmann an und kämpfte mit ihm.

David M. Litman ist Medien- und Bildungsforschungsanalyst beim Committee for Accuracy in Middle East Reporting and Analysis (CAMERA). (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!