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Kostümierte Juden oder: Ein deutsches Familiendrama

Nicht nur auf der Musicalbühne kostümieren sich Darsteller als Juden. (© Imago images/Martin Müller)
Nicht nur auf der Musicalbühne kostümieren sich Darsteller als Juden. (© Imago images/Martin Müller)

Bruno Dössekker, Marie Sophie Hingst, Irena Wachendorff, Edith Lutz, Misha Defonseca, George Santos, Axel Spörl, Wolfgang Seibert, … Warum wollten all diese Leute ausgerechnet Juden sein?

Haben Sie schon vom Wilkomirski-Syndrom gehört? Ich glaube, es ist ansteckend. Wilkomirski heißt das Syndrom nach einem bekannten Träger des, sagen wir, Virus. Er ist nicht Patient Null, aber einer, der große Wellen schlug.

Binjamin Wilkomirski veröffentlichte 1995 ein Buch namens Bruchstücke, in dem er seine Holocaustgeschichte erzählte. Er habe wohl als kleines Kind zugesehen, wie Nazis seinen Vater erschossen. Sei dann in mehreren Lagern gewesen und habe nach dem Krieg mühsam seine tote Verwandtschaft recherchiert. Eine tragische Geschichte. Gottlob, das Buch verkaufte sich gut, Wilkomirski wurde mit Primo Levi und Elie Wiesel verglichen, erzählte auf etlichen Podien sein Leben im Holocaust und erreichte Bekanntheit.

Nicht ganz unbekannt ist auch die Bloggerin Marie Sophie Hingst, die zweiundzwanzig Verwandte in der Shoa verloren habe. Tieftraurig füllte sie in Yad VaShem zweiundzwanzig Mal die notwendigen Formulare für jeden Einzelnen aus, um ihn dem Vergessen zu entreißen.

Marie Sophie Hingst hieß wirklich so. Ihre Verwandten und deren Namen hatte sie aber erfunden. Herr Wilkomirski heißt eigentlich Bruno Dössekker. Beide sind keine Juden, nicht mal im Ansatz, weit und breit keine Holocaustvergangenheit, alles ausgedacht.

Herr Dössekker lebt noch, in der Schweiz. Er bekam von der Amerikanischen Orthopsychiatrischen Gesellschaft einen Preis zuerkannt, weil er, Zitat, »das Verstehen von Holocaust und Völkermord gefördert« habe.[1] Frau Hingst scheint immerhin die tiefe Unmoral, ja, den Sadismus ihrer Taten erkannt zu haben. Man hofft es. Jedenfalls nahm sie sich, als sie entlarvt wurde, das Leben.

Irena Wachendorff lebt auch. Ihre jüdische Mutter sei die einzige Überlebende der Familie gewesen, sie selbst habe in der israelischen Armee gedient, die sie dann – mitsamt dem ganzen Land Israel – heftig kritisierte.

Moshe Peter Loth vergab im Namen aller Juden sehr öffentlich den Deutschen, die ihn ins KZ gesteckt und seine Familie ermordet hätten. Großer Jubel. Edith Lutz, Misha Defonseca, George Santos, Axel Spörl, Wolfgang Seibert und, und, und … Alle ihre Karrieren fußten auf erfundenem Judentum, jedes Wort war ausgedacht. Die Liste ist noch weitaus länger. Daher: Syndrom.

Nun also der Lügner Autor Fabian Wolff. Auch er hat sich lange Jahre als Jude vorgestellt, mit diesem Scheingrund zog er publizistisch heftig gegen Israel zu Felde und behauptete, er dächte so wie die Mehrheit der Juden. In einer triefenden ZEIT-Suada behauptete er nun, er habe nach dem Tod seiner Mutter lernen müssen, dass es doch keine jüdische Großmutter gab, dies müsse er nun tief erschüttert beichten.

Blöd nur, dass es viel zu viele Ungereimtheiten in dieser Story gibt und in Wahrheit seine öffentliche Enttarnung bevorstand. Genaueres dazu schreibt die deutlich jüdischere Autorin Mirna Funk in der FAZ. Wolff selbst beteuert, dass es anders sei. Das schreiben Tagesspiegel und ZEIT.

Nein – doch – nein – doch – oohh!

Das Wilkomirski-Syndrom ist, zumindest in jüdischen Kreisen, bekannt. Häufiger noch unter dem Begriff »Kostümjuden«. Enttarnt werden die Infizierten einfach, weil man auf sie aufmerksam wird. Irgendwas stimmt nämlich immer nicht.

Meistens dieses: Sie stellen sich nicht nur in die Öffentlichkeit, schreiben Bücher oder Artikel, erscheinen prominent in den Medien, erhalten Geld und Ehre für ihre tragische Geschichte und ihr Judentum, sondern: Viele der »Kostümjuden« gerieren sich besonders lautstark als Kritiker Israels. Da hört man die Nachtigall schnell trapsen, wenn unter dem Vorwand, »man sei Jude, deshalb müsse man das sagen«, einseitig gegen Israel agitiert wird. Denn die Zahl der echten Juden, die sich auf dieser Debattenseite öffentlich betätigt, ist konstant ziemlich klein (wenn auch viel zitiert, daher wirkt es, als wären es mehr), man kennt sie, man kennt ihre Hintergründe. Man hat schon mal hingeschaut.

Auch bei Fabian Wolff, der besonders gern gegen den jüdischen Staat austeilte – wenn er nicht gerade mit falsch geschriebenen jüdischen Begriffen über den Antisemitismus salbaderte –, war rasch zu ahnen, dass das alles so nicht stimmen konnte; nur zögerte man, es laut zu sagen. Nicht nur, weil die oben erwähnte Frau Hingst sich umgebracht hatte, als sie entlarvt wurde, sondern weil diese öffentlichen Debatten über »Nein-doch-nein-doch-oohh-Juden« immer eher nervtötend für die meisten gebürtigen Juden sind.

Als der ebenfalls »israelkritische« und von seinem Judentum zehrende Autor Max Czollek zeilenhonorarreich im Feuilleton als Nichtjude geoutet wurde, war die daraufhin entflammende Diskussion vielen peinlich.[2]

Auch die von einer jüdischen Kantorin aufgebrachte Debatte, ob nicht in Deutschland zu viele Nichtjuden proselytisiert werden, die sodann die dem Judentum innewohnende Mentalität mit ihren eigenen, oft evangelisch sozialisierten Praxisgewohnheiten, ähm, nicht gerade bereicherten … cringe.

Lebt man als Jude in einem Land mit Täterhintergrund, führt man solche Debatten nicht so gern öffentlich; man hat eine geerbte Sorge, ausgestellt zu werden. Ein wenig absurd, wenn ich das mal so sagen darf, denn: Wir werden sowieso ausgestellt. Und zu Lebzeiten selten wirklich positiv.

Warum wollen Leute ausgerechnet Juden sein?

Was ist das für ein eigenartiges Hobby, sich eine Identität anziehen zu wollen wie einen Handschuh? Noch dazu die Identität einer stets gefährdeten Minderheit? Und wenn man schon so masochistisch ist, wieso geht man als frischgebackener Science-Fiction-Moishe sofort dazu über, lautstark gegen Israel zu hetzen und sich selbst damit wieder auf eine imaginierte Täterseite zu stellen? Am liebsten noch im Verbund mit der von etlichen Regierungen der Welt als antisemitisch erkannten Boykott-Bewegung BDS, deren Gründer öffentlich zugab, dass ihr wahres Ziel in der Abschaffung des einzigen jüdischen Staates der Welt liegt.

(Die zahlreichen Länder, die sich – wegen der Mehrheit ihrer Bürger – als christlich, buddhistisch, hinduistisch oder muslimisch definieren, die sind für solche Leute okay, aber einen jüdischen Staat finden sie rassistisch. Und Israel gilt als »Kolonialstaat«, was eine interessante gedankliche Konstruktion ist, wenn man bedenkt, dass Juden weltweit das einzige Volk sind, dessen Mitglieder nachweislich seit gut dreitausend Jahren dort nicht nur ohne Unterbrechung in demselben Gebiet leben, sondern auch noch mit grob derselben Sprache und derselben Religion – aber ich schweife ab, Tschulliung.)

Also: Woher kommt der Wahn, sich als Jude zu fühlen, woher kommt der Impuls, gerade dann Israel besonders kritisieren zu wollen? Ich bin keine Psychologin. Aber immerhin habe ich doch eine Küche, das muss mich zu einer Antwort berechtigen, denke ich, denkt der STERN, kommt hierzulande sowieso immer wieder vor. Also, dann.

Die Täterwahrnehmung

Ich finde, die »Aufarbeitung« in Deutschland mündete in eine kontraproduktive Aufteilung. Es gibt eine homogene Gruppe, das sind »die Täter, die Nazis«. Die sind zwar längst entfernt, aber alle müssen sich bitte furchtbar für sie schämen. Leider kennt man sie nicht wirklich, denn sie waren nirgends. Viele, viele Täternachkommen finden irgendwo jüdische Groß-, Ur- oder Ururgroßeltern; wenn nicht, dann war die Familie in der »inneren Emigration«, aber eigentlich natürlich voll dagegen, ausgebombt und deshalb arm oder an der Ostfront, leidend. Dann gibt es jene, die es »auch schwer hatten«.

Zum Beispiel Herr Neckermann, der weiland das Warenhaus des Großvaters von Songpoet Billy und Dirigent Alexander Joel arisierte und darauf sein Imperium aufbaute. Seine Enkelkinder, damit in einer Fernsehsendung konfrontiert, sagten tatsächlich genau das: »Opa hatte es auch schwer, er musste für die Soldaten Uniformen schneidern.« Kein Einzelfall, wenn man einschlägige Arbeiten zum Thema liest.

Und dann finden sich hin und wieder auch Täternachkommen, deren Eltern oder Großeltern zwar mitmachten, aber natürlich nur aus entschuldbaren Gründen. Unvergessen für mich die zutiefst sympathische Kollegin, die mir erklärte, ihr Großvater sei zwar zur Waffen-SS gegangen, aber nur, weil er Musik liebte, und die hätten so schöne Lieder gesungen. Sie hat das wirklich geglaubt!

Aber die »echten Täter«, die man nicht kennt, die waren alle abgrundtief böse, ganz sicher! Also hat man sich als braver Deutscher zu schämen und steht tief in der Schuld der Juden. Daraus folgen drei übliche Reaktionen. Die einen fragen sich still oder mich – wie erst kürzlich – laut: »Wie lange müssen wir uns vor euch Juden noch in den Staub werfen?«, und sind, let’s say: unwillig. (Diese Gruppe halte ich für größer als ohnehin schon befürchtet.) Die meisten hören weg, denken weg; es ist ihnen egal.

Der Rest will wiedergutmachen. Ganz, ganz dringend. Sie kaufen Stolpersteine, sie fahren nach Israel, sie gehen zu Klezmer-Konzerten und lesen Bücher von jüdischen Autoren, weil sie das so toll finden. Und viele von ihnen wollen gern Juden werden. Denn das ist die zweite homogene Gruppe: die Opfer.

Die Opferwahrnehmung

Es gibt nicht so rasend viele Juden in Deutschland, sind ja schließlich auch nicht mal ganz 0,2 Prozent der Weltbevölkerung. Aber wie werden sie dargestellt? Der Antisemitismus unterscheidet sich von anderen Minderheitenhassnummern nicht nur darin, dass er seine Vorurteile stets modernisiert. Es gibt noch einen wesentlichen Unterschied: Juden werden als besser imaginiert: Juden sind reicher, mächtiger natürlich, sie haben schließlich die Medien, gern auch mal die ganze Welt in der Hand. Sie sind gefährlich: brunnenvergiftend (heute: covidverteilend), kinderbluttrinkend (heute: kindermordend), hinterlistig, rachedurstig, sie müssen keine Steuern zahlen, sie sind – auch das habe ich schon gehört – besser im Bett. (Na okay, ich geb’s zu.)

Selten sagt einer über Juden das, was über andere Minderheiten gang und gäbe ist; dass sie stinken, dass sie trinken, ungebildet, faul und langsam sind, uns überschwemmen, die Jobs wegnehmen, vergewaltigen, stehlen – nein: Juden sind gefährlicher, weil sie klüger agieren.

Nicht viel anders der Philosemitismus, der Juden ja auch besser findet, aber das (noch?) als Bereicherung sieht. Der Philosemit weiß zwar, dass es nur 0,2 Prozent Juden gibt, aber – wow! – von den Nobelpreisträgern stellen sie 23 Prozent. Nur glaubt der Philosemit, das sei so, weil sie Juden sind. Es ist aber so, weil es Antisemitismus gibt. Weswegen Juden schon immer viel mehr Arbeit in ihre Arbeit stecken müssen und viel mehr Klugheit in ihre Klugheit, das tradiert sich.

Und die Nicht-Antisemiten und Nicht-Philosemiten? Die gucken nicht hin. Juden müssen ihnen erst gezeigt werden. Die Juden, die sie kennen, sind tot. Die Kleinigkeit von sechs Millionen Juden, die als Gruppe heiliggesprochen ist: de mortuis nil nisi bene.

Oder sie sind eben Nobelpreisträger, Nathan der Weise, berühmte Autoren, tolle Schauspieler, Comedians, Musiker, Filmmogule, und – wie könnte man es vergessen: Jesus. Der immer die andere Wange auch noch hinhielt. Alles Heilige. Aber Verkäufer, Bauern, Polizisten, Hundebesitzer, Handwerker, Volksschullehrer, (alles auch*Innen) oder einfach die Nachbarn – sicher keine Juden.

Das aber – und hier ist das Ergebnis der schlechten Aufteilung im Themenkomplex Deutsche und Juden; das aber quält heftig, wenn man weiß, dass »die Nazis« doch so böse waren. Diese ganzen tollen Juden – wie konnten wir nur?! Da hilft es der Seele enorm, wenn man sich sagen kann, dass eh nicht alle Juden so toll sind. Sie zeigen ja in Israel, dass sie auch nur die besseren Nazis sind.

Was hätten Sie denn gern?

Sind Sie mir bis hierher gefolgt? Und: Was wären SIE denn jetzt gern? Lieber ein Deutscher Irgendwer, der sich, wir haben’s gelernt, bis in alle Ewigkeit schämen muss – oder ein Jude, der heilig ist?

Und weil es – siehe oben – nicht so rasend viele echte Juden gibt, noch dazu wenige, die des Deutschen Schuld minimieren wollen, ist das eine Marktlücke. Und spült jeden Karrieredurstigen schnell nach oben. Denn: Man ist heilig und redet trotzdem den anderen nach dem Munde. Bestätigt sie. Entlastet sie. Gerade als israelkritischer Jude wird man in Deutschland sehr schnell eingewoben in ein Spinnennetz aus Zuneigung, Zustimmung, Erfolg – und Geld. Und schon hat man den Virus. Das Wilkomirski-Syndrom. Die Wolffskrankheit. Enjoy!

(Der Text ist die Originalversion eines Artikels, der in gekürzter Version im Stern erschienen ist.)


[1] Das Fach der Orthopsychiatrie befasst sich mit der Grenze zwischen psychischer Krankheit und physischer Gesundheit. Viel scheinen sie, jedenfalls in diesem Fall, nicht kapiert zu haben. Zumindest entging der hochnoblen Gesellschaft offenbar die Eiseskälte, die man in sich haben muss, um sich auf dem Rücken von tatsächlichen Opfern der Shoa wichtig zu machen.

[2] Czollek hatte nur einen jüdischen Großvater. Jenen, die das Prinzip Viertel- und Achteljuden »von früher« kennen, reichte das. Juden ticken da meist anders.

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