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Die wirkliche Gefahr für die israelische Demokratie

Demonstration in Tel Aviv gegen die geplante Justizreform der Regierung
Demonstration in Tel Aviv gegen die geplante Justizreform der Regierung (© Imago Images / ZUMA Wire)

Weniger die neue Regierung bedroht das Land, sondern die Möglichkeiten einer inneren Spaltung, ziviler Unruhen, Missachtung der demokratischen Prinzipien und Vertrauensverlust in die Republik.

Benjamin Kerstein

Während ich diesen Text schrieb, klang das Echo vom nahegelegenen Habima-Platz in Tel Aviv endlich ab, während sich Tausende von Demonstranten in einer kalten und regnerischen Nacht auf den Heimweg machten. Sie hatten sich am späten Samstagabend bei strömendem Regen auf die Straße gewagt, um ihren Widerstand gegen die Regierung und insbesondere gegen deren Plan einer Justizreform zum Ausdruck zu bringen, der ihrer Meinung nach die israelische Demokratie und ihre wichtigsten Rechte bedroht.

Ich habe nicht an der Demonstration teilgenommen, da in den letzten Tagen PLO-Flaggen bei solchen Protesten gehisst wurden, und obwohl sie nicht die Ansichten der überwältigenden Mehrheit der Demonstranten repräsentieren, bin ich nicht bereit, mich gemeinsam mit der radikalen Minderheit, die diese Flaggen mit sich führt, an irgendetwas zu beteiligen. 

Nichtsdestotrotz sympathisiere ich mit den Protesten im Allgemeinen, denn auch ich mache mir Sorgen um die israelische Demokratie. Ich mache mir Sorgen, denn wenn die Geschichte etwas lehrt, dann, dass Demokratie und Republikanismus zerbrechliche Gebilde sind, die leicht Schaden nehmen können. Es gibt keine Garantie dafür, dass die Freiheit ihren inneren und äußeren Feinden widerstehen kann.

Keine Katastrophe, aber Grund zur Sorge

Viele in Israel glauben heute, ihre Freiheit sei in tödlicher Gefahr und sind sich sicher, dass die Demokratie mit parlamentarischen Mitteln zerstört werden soll. Dieses Gefühl des Schreckens beherrscht den öffentlichen Diskurs, und beinhaltet Warnungen vor Bürgerkrieg und Unruhen auf den Straßen sowie Beschuldigungen des Verrats an die Opposition.

Natürlich gibt es auch viele, die die Regierung unterstützen und glauben, dass die Sorgen um die Demokratie in Israel übertrieben sind. Die Opposition sei in jene Hysterie verfallen, welche die israelische Politik oft kennzeichnet, und die todgeweihte Linke heule einfach vor Wut über ihre Niederlage und den Triumph ihrer Rivalen. Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Es ist unwahrscheinlich, dass die israelische Demokratie untergeht, zumindest im Moment, aber es gibt beunruhigende Anzeichen dafür, dass sie erheblich untergraben werden könnte.

Erstens ist Premierminister Benjamin Netanjahu zwar ein liberaler Demokrat, aber einige seiner Koalitionspartner sind es nicht. Der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, und der Finanzminister, Bezalel Smotrich, haben beispielsweise mehr oder weniger deutlich gemacht, dass Prinzipien wie der jüdische Nationalismus, die Annexion der Westbank, ein potenzieller Tora-Staat und eine enge halachische Definition der jüdischen Identität für sie viel wichtiger und wesentlicher sind als die liberale Demokratie.

Was die streng orthodoxen Teile der Koalition betrifft, so haben sie wenig Interesse an der Demokratie. Ihre Priorität ist es, wie schon immer, die Ressourcen – einschließlich meiner Steuerschekel – zu erhalten, um das Studium der Tora zu finanzieren und eine große Zahl von gewiisermaßen bewusst Arbeitslosen einen einigermaßen tragfähigen Lebensstil zu ermöglich. 

All diese Leute besitzen eine nicht unerhebliche Macht, und es gibt keinen Grund, darüber nicht zumindest etwas besorgt zu sein.

Legislative versus Judikative

Die angekündigte Justizreform, die der Knesset die Befugnis geben würden, sich unter bestimmten Umständen über Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs hinwegzusetzen, sind ein hervorragendes Beispiel. Viele der Rechten sind der Meinung, das Gericht genieße seit Langem unverhältnismäßig viel Macht, weshalb ein neues Gleichgewicht zugunsten der Legislative geschaffen werden müsse. 

Ich bin kein Rechtsexperte, sie mögen Recht haben, aber die möglicherweise bestehende Übermacht der Judikative ist keine Entschuldigung für die geplante Übermacht der Legislative. Während das Gericht nicht die Befugnis haben sollte, willkürlich jedes beliebige Gesetz aufzuheben, sollte das Parlament nicht die Befugnis haben, willkürlich jede beliebige Gerichtsentscheidung aufzuheben.

Der Grund dafür wurde von der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, in einer Rede dargelegt: »Eine der wichtigsten Funktionen eines Gerichts in einem demokratischen Land ist der wirksame Schutz der Menschen- und Bürgerrechte im Land«, sagte sie und fügte hinzu, dass die Autorität des Gerichts »die Garantie dafür ist, dass die Herrschaft der Mehrheit nicht zur Tyrannei der Mehrheit wird«.

Gefahr der Spaltung

Der Grundsatz, dass Minderheiten in einer Gesellschaft, die weitgehend von der Mehrheit regiert wird, bestimmte unveräußerliche Rechte haben, wird von jeder Demokratie in der Welt beachtet, und obwohl die rechtsreligiöse Regierung in einer freien und fairen Wahl eine Mehrheit errungen hat – und dies muss respektiert werden –, verleiht ihr dieser Sieg keine unbegrenzten Befugnisse. Die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs stark einzuschränken, würde nicht, wie manche behaupten, die Demokratie wiederherstellen, sondern sie schwächen. 

Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass der rechtsreligiöse Block mit seinem Übereifer das Gefüge der Gesellschaft zerreißt. Bei der Habima-Demonstration kam es zwar zu keinen ernsthaften Ausschreitungen, aber die Protestbewegung wird wachsen und sich vielleicht noch erheblich radikalisieren.

Die Rechte prangert dies als aufrührerisch an, aber die Linke hat natürlich kein Patent auf Aufwiegelung, wie das Verhalten des rechten Flügels vor der Ermordung von Yitzhak Rabin beweist. Beide Enden des israelischen politischen Spektrums sind zu verschiedenen Zeiten zu weit gegangen, und sie könnten es wieder tun.

Wenn es derzeit eine Gefahr für die israelische Demokratie gibt, dann ist es die, dass die eine oder die andere Seite zu weit geht und eine gewaltsame innere Spaltung oder zivile Unruhen auslöst; dass die Missachtung demokratischer Grundsätze durch die Linke oder die Rechte letztlich den Vertrauensverlust in die Fähigkeit des Republikanismus, die soziale und nationale Einheit zu bewahren, nach sich zieht.

Ich hoffe sehr, dass Israels Fähigkeit, sich im Augenblick der Wahrheit zusammenzufinden, wie sich das in Krisenzeiten immer wieder gezeigt hat, letztendlich siegen wird. Aber Republiken, selbst eine hebräische Republik, sind nicht unsterblich. Daran sollten wir denken. Und wir sollten uns auch daran erinnern, was die hebräische Republik für uns alle bedeutet. Vielleicht wird uns dies in unseren Momenten tiefster Verbitterung und Wut innehalten lassen und uns erlauben, vom Abgrund zurückzutreten, anstatt uns über die Klippe zu stürzen.

Benjamin Kerstein ist Schriftsteller und Redakteur und lebt in Tel Aviv. Lesen Sie mehr von ihm auf Substack, auf seiner Website oder bei Twitter @benj_kerstein. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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