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Israels Geiseldrama: Hundert Tage Hölle

Hundert Tage in der Hölle: die jüngste der 136 von der Hamas nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln
Hundert Tage in der Hölle: die jüngste der 136 von der Hamas nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln (Imago Images / ZUMA Wire)

Anfang dieser Woche blickte Israel auf hundert Tage, die seit dem Hamas-Überfall vergangen sind. Das Land ringt seither nicht nur mit Kriegshandlungen im Süden wie im Norden, sondern auch mit der Belastung, dass immer noch 136 Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden.

Die Medien nahmen den Wendepunkt »100 Tage danach« zum Anlass, die sich am frühen Morgen des 7. Oktober beginnenden Ereignisse erneut Revue passieren zu lassen: Massive Raketenangriffe auf weite Teile Israels. Schwerbewaffnete Hamas-Terrorkommandos preschen ungehindert durch die Straßen der Kleinstadt Sderot. Erste Notrufe aus den Kibbuzim, dass in Nähe der Wohnhäuser Maschinengewehrfeuer lauter und heftiger werde. Live zugeschaltete Anrufer, die flüstern, weil sich Terroristen zu Schutzräumen, in denen sich diese Menschen verschanzt hatten, Zugang zu verschaffen versuchen. Verzweifelte Anrufer, die Journalisten anflehen, ihre Kontakte zu nutzen, damit endlich Hilfe kommt. Die langsam einsickernde Gewissheit, dass viele Menschen ermordet werden.

Und dann ein weiteres Albtraumszenario: Videoclips und Handyortungen bestätigen, dass sowohl Soldaten als auch Zivilisten in den Gazastreifen verschleppt werden. Auch über drei Monate nach diesen Ereignissen machen die Ton- und Bildaufnahmen der Morgenstunden dieses Schabbats immer noch sprachlos. Der Schock sitzt nach wie vor tief.

Im Stich gelassen

Nicht nur die Einwohner der betroffenen Region, sondern unendlich viele israelische Bürger haben das Gefühl, von ihrer Regierung und den zuständigen Sicherheitsbehörden im Stich gelassen worden zu sein. Sie sind enttäuscht, weil der Staat seinen wichtigsten Auftrag, sie zu beschützen, in keinster Weise erfüllt hat. Viele sprechen zudem davon, dass sich dieser Verrat fortsetze. Evakuierte, die im eigenen Land gestrandet in einem Vakuum festhängen, fühlen sich zum zweiten Mal von der Regierung getäuscht, die ihnen keine adäquate Hilfe zuteilwerden lässt. Sie sehen einen weiteren Vertrauensbruch auf sich zukommen, denn zumindest im Süden redet die Regierung von einer teilweisen Rückkehr, obwohl die Menschen nichts davon bemerken, dass ihre Sicherheit garantiert ist.

Reservisten blicken auf schwerwiegende wirtschaftliche Einbußen, wenn nicht sogar auf den persönlichen Ruin. Ihre Partner und Familien, die in diesen Sog hineingezogen wurden, werden nicht müde anzuprangern, dass die Regierung ihre Angehörigen verrät, die vor Wochen alles stehen und liegen ließen, um ihr Land zu schützen und das allgemeine Sicherheitsgefühl wiederherzustellen. Selbstständigen und kleinen Geschäftsleuten, auch wenn sie nicht einberufen wurden, geht es nicht besser. Sie fühlen sich verraten, weil die gewährten Hilfen hinter jenen der Corona-Pandemie hinterherhinken, obwohl ihre Einbußen aktuell massiver sind.

Wiederholter Verrat

Doch alle bemängeln, dass ausgerechnet an den nach Gaza verschleppten Geiseln gleich mehrfacher Verrat begangen werde. Die israelische Regierung erwähnte die Rückholung der Geiseln anfangs noch nicht einmal als eines der Ziele im Kampf gegen die Hamas. Das geschah erst, nachdem die Angehörigen öffentlichen Druck aufgebaut hatten.

Die Geiseln wurden aus der Sicht vieler Israelis ein weiteres Mal geprellt, als Premier Benjamin Netanjahu betonte, bei den Verhandlungen auf Besuche des Internationalen Roten Kreuzes bestanden zu haben. Solche Besuche haben jedoch nie stattgefunden, genauso wenig wie die Weiterleitung von Medikamenten an die Geiseln. Und was unternimmt die Regierung, als diese humanitäre Hilfsorganisation statt Medikamente weiterzuleiten israelischen Angehörigen eine Moralpredigt hielt, das menschliche Elend im Gazastreifen wahrzunehmen? Sie schweigt und kündigt einen neuen Durchbruch bezüglich der Überbringung von Medikamenten an. Bislang blieb es jedoch bei der bloßen Ankündigung. Das wird als ein wiederholter Verrat an diesen hilflosen Menschen empfunden.

Auch die Geiseln, die im November freikamen, fühlen sich, selbst, wenn sie dankbar sind, wieder sicher in Israel zu sein, ein weiteres Mal verraten. Viele mussten Partner, Väter ihrer Kinder, Großväter oder Angehörige anderer Verwandtschaftsgrade zurücklassen und wissen, dass die 136 Geiseln weiterhin die Hölle durchmachen, in der jede Minute wie Jahre erscheint. Sie selbst sind befreit und doch mental weiterhin im Gazastreifen gefangen.

Man kann nur vermuten, was die zurückgebliebenen Geiseln empfanden, als die Bombardements aufhörten und Mitgefangene verschwanden. Sie konnten eins und eins zusammenzählen, nämlich dass es sich um eine Feuerpause handelte, in der Menschen, die ihr Schicksal teilten, auf freien Fuß kamen. 136 Menschen, vom 86-jährigen Senioren bis zum Kleinkind, das morgen ein Jahr alt wird, vernehmen nun schon seit mehreren Wochen die fortwährenden Kriegsgeräusche und wissen, dass keine weitere Freilassungsrunde ansteht. Sucht man wenigstens nach ihnen? Zugleich, das haben die Aussagen der freigelassenen Geiseln belegt, müssen die Verschleppten nicht nur Hunger, Entbehrungen, Erniedrigung und Folter erleben und wegen ihrer Wachen jede einzelne Minute um ihr Leben bangen, sondern schweben überdies durch die Kriegshandlungen ihres Landes in Lebensgefahr.

Ein Ethos gerät ins Wanken

Israelis geben viel darauf, dass ihr Land deklariert, niemanden hinter feindlichen Linien zurückzulassen. Soldaten begeben sich in Lebensgefahr, um die Leichen ihrer Kameraden nicht dem Feind zu überlassen. Viele Israelis blicken dieser Tage auf das ungeklärte Schicksal des Soldaten Ron Arad zurück, der 1986 im Libanon in die Hände der libanesisch-schiitischen Amal-Miliz fiel. Israel verpasste die Gelegenheit, ihn freizukaufen. Man wird nie erfahren, ob man ihn nach Hause hätte holen können.

Anders im Fall von Gilad Schalit: Im Jahr 2011 bezahlte Israel einen hohen Preis, indem es über tausend palästinensische Terroristen, darunter der heutige Hamas-Chef Yahya Sinwar, freiließ, um den über fünf Jahre von der Hamas festgehaltenen Soldaten aus dem Gazastreifen nach Israel zurückzuholen. Bis heute halten die Diskussionen an, ob der gezahlte Preis nicht zu hoch war.

Alle wissen: Die Entscheidungen, vor denen Israels Regierung gegenwärtig in Zusammenhang mit den Geiseln steht, haben alle einen Haken. Doch welche ist die beste von allen schlechten Entscheidungen? Im Kriegskabinett hört man die Ansicht, dass der militärische Druck auf die Hamas die Position zur Auslösung der Geiseln verbessern oder gar erst schaffen wird. Andere sind der Auffassung, dass der militärische Druck nun schon seit Wochen in dieser Hinsicht kein Ergebnis bringt, weshalb man neue Ideen bewerten müsse, um Aussicht auf Rettung der Entführten zu haben.

Und da ist noch etwas, das alle belastet: Nicht nur die Armeeleitung, sondern jeder einzelne Soldat, der im Gazastreifen kämpft, ist frustriert, dass es bislang nicht gelang, weitere Geiseln zu finden und zu befreien. Belastend ist in dieser Hinsicht auch der Zwischenfall, bei dem israelische Soldaten eine falsche Entscheidung trafen. Im Glauben, Hamas-Terroristen vor sich zu haben, erschossen sie drei Geiseln, die ihren Wächtern entkommen konnten. Auch dieser Zwischenfall brachte nur Verlierer hervor, zu denen nicht nur die betroffenen Familien der Geiseln gehören, sondern auch die Soldaten, die mit dem Ergebnis ihrer Entscheidung leben müssen, so wie es die verletzte israelische Volksseele insgesamt versucht.

Viele halten daran fest, dass die Regierung alles tut, um die Freilassung zu erwirken. Doch viele beschleicht auch immer wieder das Gefühl, dass das Ziel der Entwaffnung der Hamas und ihr Sturz als Regierungsmacht im Gazastreifen für die israelische Regierung vielleicht doch über der Rettung der Geiseln rangiert. Die Gedanken vieler wandern in diesen Tagen nicht nur zur Operation Yonatan, die 1976 die Befreiung von 102 der 106 am Flughafen von Entebbe festgehaltenen Geiseln brachte, sondern auch zum katastrophalen Ausgang des Geiseldramas von München 1972.

Daher haben Israelis immer wieder ein wahrhaftes Horrorszenario vor Augen: Was ist, wenn Israels Armee auf die Hamas-Spitze stößt, die sich mit israelischen Geiseln umgeben hat? Welche Entscheidung wird in diesem moralischen Dilemma wohl getroffen werden? Auch hier ist vorprogrammiert: Es wird bestimmt keine Win-Win-Situation sein.

Ohnmächtige Solidarität

Damit ist ein empfindlicher Nerv der israelischen Volksseele massiv getroffen. Eigentlich möchte man sich darauf verlassen, dass die Regierung alles unternimmt, um Landsleute zu retten, zu denen man nur allzu leicht selbst gehören könnte. Sich vorzustellen, welche Hölle diese Menschen nun schon seit hundert Tagen durchmachen, lässt ganz Israel nicht zur Ruhe kommen und die Menschen in Massen zum »100. Tag danach« ihre Solidarität bekunden.

Die Aktionen waren vielfältig und breit gespannt, darunter beispielsweise eine hundertminütige Arbeitsniederlegung im Geschäftssektor. Alle wissen, dass diese Solidarität für die Familien essenziell ist. Wichtig ist sie auch für die Solidarität demonstrierenden Israelis, denn man fühlt sich trotz aller Ohnmacht wenigstens nicht untätig. Und doch beschleicht alle immer mehr das Gefühl, dass das Thema der Geiseln im Gazastreifen ein weiterer dunkler und schmerzlicher Fleck in der israelischen Geschichte bleiben wird. Die Hoffnungen schwinden. Die Uhr tickt. Wen der hundertsechsunddreißig verschleppten Menschen wird man noch lebend im Land umarmen können?

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