Neben der Diaspora ist eine jüdische Gemeinde immer im Land Israel geblieben, und die jüdische Liturgie betonte stets ein Gefühl der Sehnsucht nach Zion und Jerusalem.
Alexandra Herzog
In Anbetracht der weit verbreiteten Fehlinformationen in den sozialen Medien sowie der einseitigen Berichterstattung in den Nachrichten ist es nicht unnachvollziehbar, wenn manche Menschen glauben, der Zionismus – die Überzeugung, dass Juden ein Recht auf Selbstbestimmung in ihrer angestammten Heimat haben – sei unter Juden umstritten und israelfeindliche Einstellungen gehörten in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft zum Mainstream. Doch antizionistische Juden repräsentieren nicht die große Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft und sie leben in kleinen, aber lauten Echokammern.
Der demnächst erscheinende State of Antisemitism in America 2023 Report des American Jewish Committee (AJC) zeigt, dass achtzig Prozent der amerikanischen Juden sagen, die Sorge um Israel sei ein wichtiger oder wesentlicher Teil dessen, was Jüdisch-Sein für sie bedeutet. Dennoch wird einer kleinen Minderheit von Juden, die für den sogenannten »Diasporismus« plädiert – die Definition der eigenen Identität fernab der angestammten Heimat –, unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Das Konzept des »Diasporismus« ist nicht neu. Es wurde im Laufe der Jahre immer wieder stark gemacht, in der Hoffnung eine andere Perspektive auf die Identitätsbildung und das Judentum zu entwickeln, um dem weitgehend akzeptierten Konsens der amerikanischen Juden in Bezug auf Israel und den Zionismus etwas entgegenzusetzen. Einige Wissenschaftler und Gelehrte argumentieren, Juden sollten die Marginalität oder das Exil annehmen und den Zionismus ablehnen. Diese Ideologie blendet jedoch die gesamte Geschichte des jüdischen Volks aus und fördert stattdessen eine antizionistische Agenda zu einer Zeit, in der Juden aufgrund ihrer Verbindung zu Israel mit einem enormen Antisemitismus konfrontiert sind.
Jahrtausende alte Verbindung
In Israel leben etwa sieben Millionen Juden, welche die größte jüdische Gemeinschaft der Welt und fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung weltweit darstellen. Gläubige Juden beten dreimal am Tag Richtung Jerusalem und die Synagogen sind auf die Stadt ausgerichtet. Die hebräische Bibel, der Talmud, und die tägliche jüdische Liturgie betonen alle die zentrale Bedeutung des Landes Israel. Jeder Pessach-Seder endet mit dem Satz: »Nächstes Jahr in Jerusalem.« Im täglichen Morgengebet bitten gläubige Juden Gott, »nach Jerusalem, Deiner Stadt, zurückzukehren und darin zu wohnen, wie Du es versprochen hast. … Gesegnet seist Du, Herr, der Jerusalem wieder aufbaut.«
All dies bedeutet, dass die jüdische Verbindung und Verbundenheit mit dem Land Israel so alt ist wie das jüdische Volk selbts, und die Liebe zu diesem Land wird jeden Tag durch religiöse Praktiken und Gebete zum Ausdruck gebracht. Dies ist seit Jahrtausenden der Fall. Die Verbundenheit von Juden mit Israel ist dabei aber nicht auf die Religion beschränkt. Viele Juden in der Diaspora haben Familienangehörige in Israel, fühlen sich mit der israelischen Kultur und Geschichte eng verbunden und empfinden in einer Zeit des weltweit zunehmenden Antisemitismus die Existenz Israels als Zufluchtsort für alle Juden als beruhigend.
Die Juden sind seit etwa dreitausend Jahren ununterbrochen im Land Israel präsent. Obwohl sie im Laufe der Geschichte von verschiedenen Königreichen ins Exil gezwungen wurden, ist immer eine jüdische Gemeinde im Land geblieben und die Liturgie hat immer die Sehnsucht nach Zion und Jerusalem betont.
Die Juden haben sich nie selbst entschieden, Israel zu verlassen. Stattdessen war dies das Ergebnis von militärischen Niederlagen, Unterwerfung und erzwungenem Exil. Das Exil ist ein trauriges Merkmal der jüdischen Geschichte, aber es ist kaum ein Ideal des Judentums. Die Juden haben sich aus der Not heraus daran angepasst, aber die ewige Verbindung zum Land Israel ist immer bestehen geblieben. Seit seiner Gründung hat der moderne Staat Israel verfolgten Juden, die vor antisemitischer Gewalt fliehen mussten, eine Heimat geboten. Von Juden in Europa über Juden in der Sowjetunion bis hin zu Juden in Äthiopien war Israel ein Ort der Sicherheit für Juden, unabhängig davon, woher sie kamen.
Obwohl Juden historisch gesehen unterschiedliche und manchmal komplexe Beziehungen zum Zionismus hatten, ob in Israel oder in der Diaspora, kann man die tiefe Verbundenheit der Juden mit Israel nicht leugnen. Und selbst die Leidenschaft, mit der sich manch antizionistische Juden an Diskussionen über Israel beteiligen, ist noch ein Beispiel für diese tiefe Verbindung.
Man muss nicht in Israel leben, um diese tiefe Verbundenheit zu spüren. Seit über fünfundsiebzig Jahren besteht eine erfolgreiche, wechselseitige Beziehung zwischen den Diaspora-Gemeinden und Israel. Die Diaspora-Gemeinden fühlen sich tief miteinander verbunden und sehen Israel als zentrales Element des jüdischen Volks. Israel überbrückt Entfernungen und schafft Verbindungen zwischen kleinen Gemeinden in Europa oder Lateinamerika und größeren Gemeinden in den Vereinigten Staaten.
Der Einschnitt des 7. Oktober
Seit dem 7. Oktober 2023 müssen Juden auf der ganzen Welt ihr Verhältnis zu ihrer Identität und zu Israel neu überdenken. Auch wenn einige eine antizionistische Haltung einnehmen, ist sich die überwältigende Mehrheit der Juden – selbst diejenigen, die der israelischen Regierung manchmal kritisch gegenüberstehen – der Bedeutung Israels bewusst und weiß, dass die Länder der Diaspora, in denen wir leben, vielleicht weniger sicher sind, als viele von uns dachten.
Anstatt ein falsches Bild zu zeichnen, in dem das Diaspora-Judentum einfach ein Ersatz für die nationale Selbstbestimmung ist, sollten wir die großen Errungenschaften feiern, die jüdische Gemeinden für die Gesellschaften, in denen sie gelebt haben, erbracht haben, und zugleich auch die Bedeutung der Unterstützung eines starken und demokratischen Israels. Schließlich war das zionistische Projekt ein außerordentliches und die Ereignisse des 7. Oktober zeigen, dass der Zionismus als Mittel zur Sicherung des Überlebens des jüdischen Volks nach wie vor existenziell notwendig ist.
Jüdische Gemeinden sowohl innerhalb als auch außerhalb Israels fühlen sich derzeit verletzlich und das ermöglicht einfühlsame und tiefgehende Gespräche zwischen Israelis und Diaspora-Juden. Wir stellen zwei Seiten derselben Medaille dar – und das Überleben der einen hängt sehr stark vom Überleben der anderen ab.
Alexandra Herzog ist stellvertretende Direktorin für zeitgenössisches jüdisches Leben und jüdische Initiativen beim American Jewish Committee. Sie hat einen Doktortitel in Jüdischen Studien. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)