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Israel 2023: Blutspur zieht sich durch arabische Gemeinden 

Arabische Israelis demonstrieren gegen Gewalt in ihren Gemeinden und mangelnde Polizeiarbeit
Arabische Israelis demonstrieren gegen Gewalt in ihren Gemeinden und mangelnde Polizeiarbeit (© Imago Images / Sipa USA)

Fast täglich hallen in den Straßen der arabischen Ortschaften Israels Schüsse, deren Bürger seit Monaten in Angst und Schrecken leben, die immer weitere Kreise ziehen.

Im Frühjahr 2021 strömten Israels arabische Bürger aus Sorge und Unmut zu mehreren Großkundgebungen: Nachdem im Jahr 2020 die Zahl der arabischen Mordopfer kontinuierlich angestiegen war, zählte man lediglich acht Wochen nach Anbruch des Jahres 2021 bereits zwanzig weitere ermordete arabische Bürger. Damals glaubten viele, die Zeichen stünden auf Sturm.

Blickt man heute auf diese Zeit zurück, so waren dies lediglich Vorboten einer Entwicklung, die in den vergangenen Monaten noch wesentlich monströsere Ausmaße erlangte. Während Israel Ende 2021 insgesamt 126 ermordete arabische Bürger zählte, waren Ende des heurigen ersten Halbjahrs bereits nicht weniger als 111 ermordete arabische Bürger zu beklagen. In den seither verstrichenen zehn Wochen kamen weitere 64 Morde hinzu, sodass die Medien des Landes inzwischen fast jeden Tag über Blutvergießen in einer arabischen Ortschaft berichten.

»Krieg ist ausgebrochen«

Bis zum 10. September waren insgesamt 175 arabisch-israelische Mordopfer zu verzeichnen, darunter Frauen, dievon Angehörigen, aber auch von Auftragskillern getötet wurden, weil männlichen Verwandten ihre Lebensweise missfiel. Doch nicht solche sogenannten Ehrenmorde und Mordtaten, die vor dem Hintergrund von Familienfehden oder Zusammenstößen rivalisierender Clans stattfanden, führen die traurige Statistik an, laut der es sich bei der großen Mehrheit der Opfer um Männer bis zum 30. Lebensjahr handelt.

In Israel scheint, wie der arabische Knesset-Abgeordnete Ahmet Tibi bereits Mitte Mai anmerkte, ein Krieg ausgebrochen zu sein. Längst geht es nicht mehr um die altbekannte Bandenkriminalität; inzwischen bekriegen Angehörige des organisierten Verbrechens einander unverhohlen um die Vorherrschaft in Bereichen wie Drogenhandel, Prostitution, Waffenschmuggel und -handel, Geldwäsche und Schutzgelderpressung. Sie tragen ihren Krieg mit illegal kursierenden Schusswaffen aus, mit denen nicht mehr – wie noch vor einigen Jahren üblich – abschreckende Drohgebärden angedeutet werden sollen, vielmehr wird ohne jegliche Hemmung scharf geschossen.

Es herrscht Terror

Natürlich werden nicht nur die ins Visier genommenen Konkurrenten getroffen, auch unbeteiligte arabische Bürgerkamen bereits ums Leben oder wurden verletzt, darunter auch Kinder und Senioren. Die arabische Gesellschaft lebt mit einem tagtäglichen Terror, sodass sich viele Menschen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße trauen. 

Es gibt Familien, die ihre Kinder, die nachts wegen des Schusswaffenlärms keinen Schlaf finden und am Morgen zu verängstigt sind, um in die Schule gehen, bereits zuhause unterrichten und nicht einmal mehr draußen spielen lassen. Eine ganze Generation wächst mit einem immer dramatischeren Trauma heran. Dazu gehört auch Adian Handi aus der jüdisch-arabisch gemischten Stadt Lod in Zentral-Israel. Im Juli berichtete die 19-Jährige: »Seit meiner Geburt wurden in meiner Straße sechzehn Menschen ermordet. Ich nenne sie Straße des Todes.«

Inzwischen wird auch der materielle Schaden immer größer. Schutzgelderpressungen sind nicht nur in arabischen sowie in jüdisch-arabisch gemischten Ortschaften an der Tagesordnung: Egal, ob arabisch oder jüdisch, einerlei, ob Landwirte, Gastronomen oder Geschäftsleute, im Norden und Süden des Landes singen viele ein Lied davon. Erfüllen sie die Forderungen, geraten ihre Betriebe wirtschaftlich ins Straucheln; verweigern sie die Schutzgeldzahlungen, wird für horrenden materiellen Schaden gesorgt, der manchmal auch auf Kosten von Kunden geht, wie ein Brandanschlag auf die Autos von Hotelgästen erst Anfang dieses Monats zeigte.

Regierungswechsel mit Folgen

Die Gründe für die überproportional präsente Gewalt und Kriminalität in der arabischen Gesellschaft Israels sind äußerst vielschichtig und komplex und haben ihre Wurzeln sowohl in der weiter zurückliegenden Vergangenheit als auch in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. 

Während sich die erschreckende Mord- und Kriminalitätsserie des Jahres 2021 entfaltete, begannen nach und nachMaßnahmen zu greifen, welche die Veränderungskoalition unter Naftali Bennett und Yair Lapid wenige Wochen nach Regierungsantritt im Sommer 2021 in enger Kooperation mit der koalitionsstützenden arabischen Ra´am-Partei von Mansour Abbas eingeleitet hatten. Ende 2022 konnte man erste positive Veränderungen wahrnehmen, zu denen ein leichter Rückgang der Zahl der von Arabern an Arabern verübten Morde gehörte.

Die damals einsetzenden und vielseitig ineinandergreifenden Maßnahmen mehrerer Ministerien sollten nicht nur das Phänomen bekämpfen, sondern die Wurzeln des Übels kappen. Es war klar, dass dies ein Jahre währender Prozess sein würde, der jedoch mit Bildung der neuen Koalition unter Alt-Premier Benjamin Netanjahu Anfang dieses Jahres zunächst ins Stocken und danach schnell gänzlich zum Erliegen kam.

Die dem behördlichen Kampf zugedachten Gelder flossen nicht mehr; der neue Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir von der Partei Jüdische Stärke löste die Sondereinheit für Bekämpfung von Kriminalität im arabischen Sektor des Landes nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt auf; und zeitgleich war Polizeichef Kobi Shabtai während einer Sitzung mit Minister Ben-Gvir wie folgt zu vernehmen: »Sie bringen einander um. Das ist ihre Natur. Das ist die Mentalität der Araber.«

Zwar setzt die chronisch unterbesetzte israelische Polizei ihre Bemühungen fort und verzeichnet auch gewisse Erfolge wie die Sicherstellung großer Mengen von Waffen und enormen Bargeldsummen sowie die Verhaftung führender Bossen des organisierten Verbrechens, doch die Regierung setzt weiterhin keine richtungsweisenden Prioritäten. Ben-Gvir blieb wichtigen Sitzungen zum Thema fern, und ein ehrenamtliches Hilfsangebot des Knesset-Abgeordneten Mansour Abbas, der als Ra´am-Vorsitzender zuvor an der Spitze des Knesset-Komitees zum Kampf gegen Gewalt im arabischen Sektor stand, wurde schlichtweg ignoriert.

Mittlerweile ist die Lage heillos aus dem Ruder gelaufen, auch weil das organisierte Verbrechen es inzwischen auf die endgültige Eroberung eines Bereichs abgesehen hat, den die Verbrecher schon vor Jahren im Visier hatten: die Zuständigkeiten der arabischen Regionalverwaltungen.

Im Vorfeld der für Ende Oktober anberaumten landesweiten Bürgermeisterwahlen kam es im August erstmals zur Ermordung arabischer Lokalpolitiker. In Abu Snan nordöstlich von Akko, der Heimat muslimischer, drusischer und christlicher Bürger, kam es zu einem Vierfachmord. Einer der aus nächster Nähe erschossenen Drusen, der 53-jährige ehemalige Grenzpolizist Ghazi Sa´ab, hatte nur wenige Stunden zuvor seine Wahlkampfkampagne um das Bürgermeisteramt dieser Regionalverwaltung eröffnet. 

Kaum zwei Wochen später wurde Musab Dukhan, Stadtrat von Nazareth und Bürgermeisterkandidat der größten arabischen Stadt Israels, gemeinsam mit zwei Verwandten durch einen Schusswaffenüberfall verletzt. Dukhan hatte sich im Zuge seiner Kandidatur erstmals sehr deutlich öffentlich gegen das organisierte Verbrechen positioniert.

Gamechanger Shabak?

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen äußerte der israelische Inlandsgeheimdienst Shabak Bedenken, die Wahl in mindestens zwölf arabischen Regionalverwaltungen wie geplant abzuhalten. Da das ein Novum in Israels 75-jähriger Geschichte wäre, beauftragte die Regierung die Generalstaatsanwältin vorerst mit der juristischen Prüfung eines solchen Schrittes. Eine andere Entscheidung fällte die Regierung hingegen recht zügig: In die Fahndung nach den Tätern der beiden genannten Zwischenfälle wurde der Shabak ohne viel Aufhebens eingebunden.

Die Überlegung, den Inlandsgeheimdienst sowohl in den Kampf gegen die kursierenden illegalen Schusswaffen als auch gegen das organisierte Verbrechen heranzuziehen, ist keineswegs neu. Nicht nur Israels arabische Bürger hegen dagegen allerdings sehr viel Misstrauen. Als Premier Bennett 2021 solche Pläne aufbrachte, meinte der arabische Abgeordnete Ayman Odeh aus dem Parteienbündnis Hadash-Ta´al dazu: »Nach Jahrzehnten, in denen die Regierung und die Polizei uns als rückständigen Teil der Gesellschaft behandelt hat, den man tunlichst vernachlässigt, ist das Letzte, was wir jetzt brauchen, mehr von derselben Behandlung: Polizei für die Juden und Shabak für die Araber.«

Aber auch der Inlandsgeheimdienst selbst ist alles andere als begeistert von der Möglichkeit, zu solchen Einsätzen herangezogen zu werden, da »juristische Grenzen im Umgang mit einer Zivilbevölkerung« nicht geregelt sind. 

Inzwischen hat sich die Situation jedoch verändert. Nicht nur Odeh erhielt kürzlich massive Drohungen, die zur Erhöhung der Sicherheitsstufe für seine Person führten; auch der Einsatz des Shabak bei der Suche nach den Angreifern auf die arabischen Lokalpolitiker zeigt, dass die Technologie und die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse des Inlandsgeheimdienstes der Polizei innerhalb kürzester Zeit zu durchschlagenden Fahndungserfolgen verhelfen können. Dass bislang allerdings nur ein kleiner Bruchteil der mit Schusswaffen verübten Morde innerhalb der arabischen Gesellschaft aufgedeckt wurde, steigerte das Misstrauen der betroffenen Bürger.

Eine veränderte Situation herrscht mittlerweile allerdings auch in anderer Hinsicht: Der Einsatz des Geheimdienstes gegen das organisierte arabische Verbrechen mag vielleicht in Aussicht stellen, die gegenwärtige Notlage zu deckeln. Angesichts einer Regierung, die an den Spielregeln des demokratischen Israels schraubt, einhergehend mit Umfrageergebnissen, die nahelegen, dass rund dreißig Prozent aller Befragten der Ansicht sind, Politiker sollten sich über gängelnde Vorgaben der Justiz hinwegsetzen, könnte ein solcher Schritt in Zukunft enorme Risiken für alle erdenklichen Bevölkerungsgruppen der israelischen Zivilgesellschaft bergen. Ein Szenario, das genauso viel Angst macht wie die gegenwärtig viel zu bleihaltige Luft im Staat Israel.

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