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Die arabisch-jüdischen Unruhen in Israel – Versuch einer Einordnung (Teil 2)

Die israelische Stadt Lod war eines der Zentren der gewaltsamen Ausschreitungen
Die israelische Stadt Lod war eines der Zentren der gewaltsamen Ausschreitungen (© Imago Images / ZUMA Wire)

Israel sah – wie in Teil 1 geschildert – arabische Bürger durch die Straßen ziehen, um Juden, weil sie Juden sind, nach dem Leben zu trachten. Ein Blick auf den Mikrokosmos Lod veranschaulicht, dass im Hintergrund viele Konstellationen mitschwingen.

Die Stadt reflektiert, wie gesellschaftliche und politische Veränderungen, die sich in Israel seit Jahren vollziehen, dazu beitragen, dass eine ohnehin tickende Zeitbombe lauter wird. Dort schwappten die Wogen mit am höchsten, nicht nur weil Synagogen in Brand gesteckt wurden und das erste jüdische Todesopfer der Unruhen zu beklagen war. Im heute rund 77.000 Einwohner zählenden Lod begann vor etwa 25 Jahren ein vielfältiger Wandel einzusetzen, der tiefgreifende Folgen nach sich zog.

Blick zurück in die Geschichte

Das schon in biblischen Zeiten besiedelte Lod war für die britischen Behörden als Lydda das Zentrum ihrer Mandatsverwaltung. Der UN-Teilungsplan schlug die Stadt – u.a. weil damals keine Juden in Lod lebten – dem arabischen Gebiet zu.

Die militärischen Ereignisse rund um Lod nach Deklaration des Staates Israel sind gut dokumentiert, wenngleich Historiker sie – je nach politischem Standpunkt – unterschiedlich oder gar konträr interpretieren. Wie so häufig dürfte von allem etwas zutreffen: Vertreibung von in Lod ansässigen Arabern, aber genauso Flucht auf Order der eigenen Führungspersönlichkeiten oder aus privaten Erwägungen. Eine Minderheit von 1.000 muslimischen wie christlichen Arabern, blieb in der Stadt.

Zum einen wuchs im Laufe der Jahre die arabische Bevölkerung der Stadt wieder, da Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes hier eintrafen: sowohl aus freien Stücken wie auf behördliche Weisung, wobei alle bis 1966 ein Leben unter den Beschränkungen der Militärverwaltung führten.

Zum anderen kamen erst seit kurzer Zeit im Land weilende Holocaust-Überlebende aus ganz Europa nach Lod. Zusammen mit ihnen zogen orientalische Juden ein. Als mittellose Flüchtlinge ins Land gekommen ergriffen viele die Gelegenheit beim Schopf, behelfsmäßigen Provisorien wie Auffanglagern zu entkommen; einerlei ob mit oder ohne behördliche Rückendeckung.

Schleichende, aber massive Veränderungen

Über die 1970er und 1980er Jahre berichten viele Bewohner von Lod, dass es eine ruhige und gute Zeit war. Wirtschaftlich sei es zwar alles andere als einfach gewesen, doch man habe zusammengehalten, miteinander gearbeitet und Feste gefeiert – bis schließlich Veränderungen einsetzten, die diese zwar in romantischen Tönen beschriebene, aber dabei nicht ganz unrealistisch geschilderte Balance aushebelten.

In den frühen 1990er Jahren sorgte der Staat für die Gründung neuer Städte in der Region, die zwar als vernachlässigtes Randgebiet galt, aber als an den Großraum Tel Aviv angrenzend dennoch attraktiv war. Die jüdische Bevölkerung, die es sich leisten konnte, zog weg aus Lod in diese neu errichteten Gemeinden. Dadurch veränderte sich nicht nur das sozioökonomische Gefüge, auch kommunale Einrichtungen, Schulen und Stadtviertel wandelten sich.

Die Osloer Abkommen brachten die nächste Veränderung. Als die Zone A des Westjordanlandes der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt wurde, standen nicht wenige Palästinenser vor einem Problem, das mit anhaltender Zweiter Intifada immer brenzliger wurde. Sie hatten mit Israel kollaboriert und schwebten unter den neuen Machthabern in Lebensgefahr.

Israel musste sie in Sicherheit bringen und anschließend – oft zusammen mit ihren mehrköpfigen Familien – irgendwo unterbringen. Die Entscheidung fiel auf Israels gemischte Städte, wobei gerade Lod mit einem großen Anteil von Ex-Kollaborateuren aus der Westbank bedacht wurde. In das ohnehin wirtschaftlich schwächelnde Lod kamen Menschen, die zuvor kein geregeltes Leben geführt hatten. Viele Ex-Kollaborateure blieben in einer halbseidenen Welt verankert, womit auch Drogen und Kriminalität in der Stadt Einzug hielten. Darüber hinaus gestand Israel ehemaligen Informanten zu, Waffen zu führen, da sie sich auch in Israel ihres Lebens nicht sicher sein konnten.

Die Ex-Kollaborateure genossen also einen Sonderstatus: sie unterstanden zwar geltendem Recht und reizten doch einen Freiraum bis zum Anschlag aus. Die in Lod ansässigen arabischen Israelis empfanden kaum Sympathie für die Neuankömmlinge, weswegen es zu ersten inner-arabischen Spannungen mit Implikationen für das Leben der gesamten Stadt kam.

Parallel vollzog sich ein weiterer Prozess. In das Gebiet zwischen Lod und der Nachbarstadt Ramle zog es Beduinen des Negev. Ursprünglich in Zelten wohnend, suchten sie urbane Vorzüge wie Arbeit, Gesundheitsversorgung und Bildung. Mit dem Einzug beduinischer Familien in die Häuser einiger Straße setzen Umwälzungen ganzer Wohnquartiere ein. Kulturell um eine Facette bereichert, brachte dies der Stadt aber auch eine weitere patriarchale, konservative Bevölkerungsgruppe, die sowohl zum Missfallen der arabischen wie auch der jüdischen Gemeinschaft dazu beitrug, dass Stammesfehden und Ehrenmorde endgültig zum Alltag gehörten.

Folgen einer Stadtverwaltungspleite

Nach der Jahrtausendwende stand Lod vor leeren Stadtkassen. Der freie Fall ins Bodenlose, der durch den Wegzug Bessersituierter begann, wurde durch Korruption und Vetternwirtschaft beschleunigt. Mit dem Bankrott der Stadt übernahm der Staat das Steuer und setzte Kommissionen einen, die Empfehlungen für den Weg aus der Krise erarbeiten sollten.

Kenner der Stadt rieten, die anwesenden Einwohner mit Wirtschafts- und Sozialmaßnahmen zu stärken und den Bildungssektor aufzuwerten, diese Empfehlungen wurden jedoch kaum umgesetzt. Der Staat – so umschrieben es zumindest die Einwohner der Stadt – tat sein Bestes, Lod „zum Hinterhof der Hinterhöfe des Landes“ werden zu lassen. Dazu trug auch der staatlich geförderte Zuzug ultraorthodoxer Juden bei, mit denen ein zusätzlicher Lebensstil die Stadt zu prägen begann, ohne dass das sozioökonomische Gefüge gestärkt wurde; im Gegenteil.

Die helfende Hand: „HaGarin HaTorani“

Dieser Terminus steht für eine Gruppe von Familien wie auch Alleinstehenden des religiös-zionistisch-nationalen Spektrums, die sich organisieren, um in Städte und Wohnviertel zu ziehen, in denen jüdische Bevölkerung geschwächt ist. Die in den frühen 1970er Jahren aufgekommene religiös-politische Bewegung, erlebte nach den Osloer Abkommen einen ideologischen Aufschwung. Der Anfang vom „HaGarin HaTorani“ in Lod datiert in das Jahr 1995. Mittlerweile lebt in Lod die mit über 500 Familien zahlenmäßig stärkste Kerngruppe der Bewegung.

Zwei israelische TV-Doku-Regisseure, die die Gruppen in Lod jahrelang begleiteten, zeichneten nach, dass die „HaGarin HaTorani“-Anhänger in Lod viel Gutes vollbrachten. Sie sprangen verarmten jüdischen Senioren zur Seite. Jüdische Familien, deren Viertel zum Drogenumschlagplatz avanciert waren, bekamen Hilfe beim Einkaufen und mehr. Die Aktivisten der Bewegung trauten sich dorthin, wo Sozialarbeiter schon lange nicht mehr auftauchten.

Tonangebend

Die Mitglieder der Bewegung zogen zu einer Zeit in die Stadt, als die Kriminalität explodierte und viele Einwohner, Juden wie Araber gleichermaßen, Angst um ihre Kinder auf den Straßen hatten, und selbst Erwachsene abwogen, ob es am späten Abend noch opportun sei, vor die Haustür zu treten. Bis auf den heutigen Tag macht Lod ein um den anderen Monat Schlagzeilen: Familienfehden ausgetragen mit Schusswaffen, Ehrenmorde, Kleinkrieg unter Dealern dieser jahrelang als „Drogenhauptstadt der Dan-Metropole“ geltenden Stadt, Prostitution und Kriminalität prägen das Bild der Stadt.

Die ideologisch-religiös motivierten „HaGarin HaTorani“-Mitglieder, die nach Lod zogen, bewegten etwas in der Stadt mit knapp 70% jüdischen Einwohnern – darunter ein gutes Drittel Neueinwanderer, zumeist aus den Staaten der ehemaligen UdSSR und aus Äthiopien. Mit ihrem Ziel, „den jüdischen Stolz wiederherzustellen“ avancierten die rund 5% der Einwohner ausmachenden „HaGarin HaTorani“-Mitglieder zur tonangebenden Elite der Stadt.

Für die annähernd 25% arabischen Einwohner, von denen die überwältigende Mehrheit Muslime und nur knapp 1% Christen sind, ist dies ein schlichtes No-Go. Diese Elite, allen voran ihre Rabbiner, leben nach der Maxime: „Unser wichtigstes Ziel ist es, in gemischten Städten lebende jüdische und arabische Kinder daran zu hindern, miteinander zu spielen“; und denken laut und auf biblische Passagen bezugnehmend über die „Neuansiedlung der ‚Fremden unter uns‘ in arabischen Ländern“ nach.

Schock, aber nicht Verwunderung

Einwohner der Stadt berichten mehrheitlich, sich schon seit Jahren auf die jeweilige identitätsstiftende Gruppe zurückgezogen zu haben. Es existieren kaum Anzeichen einer Koexistenz, schon gar nicht einer friedlichen, wenngleich es natürlich auch Aktivisten diverser sozialer Initiativen in der Stadt gibt, die auf solche Koexistenz hinarbeiten.

Als der arabische Mob in Lod durch die Straßen zog, bangten jüdische Einwohner. Als in Lod Anhänger des extrem rechten Parteienbündnisses „Religiösen Zionisten“ in Konvois und – ganz wie erbeten – „nicht ohne Instrumente“ (Waffen) eintrafen, bangten arabische Einwohner. So wie beide Seiten den Behörden Untätigkeit im Vorfeld und erst recht während der Unruhen vorwarfen, sorgten ihre jeweiligen Extremisten dafür, die Stimmung weiter aufzuheizen; mögen sie nun Sheikh Kamal Khatib (stellvertrender Leiter der Islamischen Bewegung – Israel Nord) oder Itamar Ben-Gvir (Mitglied der Knesset) heißen.

In Lod wie auch anderswo in Israel musste die „schweigende Mehrheit, die vor Schock verstummt war“ (Staatspräsident Rivlin) erkennen: zündelnde Extremisten jedweder Religion und Ideologie trugen dazu bei, dass die Lage so eskalieren konnte.

Ein allgemeiner Blick unter die Oberfläche der Konflikte wird in Teil 1 der Serie geworfen.

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