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Enthauptung von Samuel Paty: Frankreichs Bildungsminister vermeidet das Wort »Islamismus«

Gegenkundgebung für den von einem Islamisten ermordeten französischen Lehrer Samuel Paty
Gegenkundgebung für den von einem Islamisten ermordeten französischen Lehrer Samuel Paty (© Imago Images / ABACAPRESS)

Die verhaltenen Äußerungen des französischen Bildungsministers vor der Senatskommission zu Bedrohungen und Angriffen gegen Lehrer lassen große Zweifel aufkommen, ob Frankreich in der Lage und überhaupt willens ist, dem Islamismus entgegenzutreten.

Hat Frankreich fast drei Jahre nach der Enthauptung von Samuel Paty durch einen islamistischen Terroristen alle Lehren aus diesem Anschlag gezogen, um zu verhindern, dass andere Lehrer ins Visier genommen und ermordet werden? Dazu hat der Senat eine Untersuchungskommission mit dem Namen »Bedrohungen und Angriffe gegen Lehrer« eingesetzt. Eingerichtet wurde sie auf Bitte von Mickaëlle Paty, der Schwester des ermordeten Lehrers. Sie hatte einen Brief an den Präsidenten des Senats geschrieben und wird im September vor ihm aussagen.

Letzten Dienstag sprach Frankreichs Bildungsminister Pap Ndiaye vor dem Ausschuss. Wie die Tageszeitung Le Figaro berichtete, benutzte der Minister dabei kein einziges Mal das Wort »Islamismus«, sondern sprach stattdessen davon, dass »obskurantistische Kräfte und diejenigen, die der Republik schaden wollen, zurückgedrängt werden« müssten.

Die Zeitung merkte an, dass das Vermeiden des Begriffs umso auffälliger gewesen sei, als Ndiaye in seinen einleitenden Worten die »rechtsextreme Bedrohung« angesprochen hatte, die von der – von Ndiaye im Unterschied zum Islamismus namentlich genannten – Kampagne »Parents Vigilants« (»Wachsame Eltern«) ausgehe.

Verlassener Mann

Zur Erinnerung: Am Nachmittag des 16. Oktober 2020 wurde der französische Lehrer Samuel Paty in der Nähe seiner im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine gelegenen Schule Collège du Bois-d’Aulne auf offener Straße von einem 18-jährigen tschetschenischen Islamisten namens Abdoullakh Anzorov enthauptet. 

Zuvor hatte es elf Tage lang Morddrohungen von Personen, die ihn der »Islamophobie« bezichtigt hatten, im Internet gegen Paty gegeben. Anlass der Drohungen war eine im Lehrplan vorgesehene Unterrichtseinheit zum Thema Meinungsfreiheit gewesen. Dabei sollte auch die Debatte über die sogenannten Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo Thema sein. Bevor Paty den Schülern die Karikaturen zeigte, stellte er ihnen frei, wegzusehen oder das Klassenzimmer kurzzeitig zu verlassen, falls sie sich durch die Zeichnungen beleidigt fühlen könnten.

Die Schülerin Z., die an den beiden fraglichen Tagen vom Unterricht suspendiert war – eine Disziplinarstrafe wegen häufigen Zuspätkommens – setzte daraufhin Gerüchte über Paty in die Welt. Sie erzählte ihrem Vater Brahim Chnina, Paty habe muslimische Schüler vom Unterricht ausgeschlossen und das Bild eines Nackten gezeigt, von dem er behauptet habe, es sei der Prophet Mohammed.

Daraufhin erstellte der Vater ein Video für die sozialen Medien, in dem er sagte, diese »Schande« nicht hinzunehmen und die Entlassung des Lehrers forderte. Chnina rief seine »Brüder und Schwestern« dazu auf, »an die Schule zu schreiben, an das CCIF [das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich, das nach dem Mord an Paty von der Regierung aufgelöst wurde; Anm. Mena-Watch], an die Schulaufsicht, den Bildungsminister oder den Präsidenten». Chnina kündigte an, am Folgetag bei der Schulleitung vorstellig zu werden.

Der Journalist Stéphane Simon, der für sein im April erschienenes Buch Les derniers jours de Samuel Paty (Die letzten Tage von Samuel Paty) recherchiert hat, was in den elf Tagen zwischen der Unterrichtseinheit und dem Mord geschah, sagt:

»Die Kollegen unterstützten den Lehrer in seiner Not nur bedingt, wenn überhaupt. Einige sagten ihm, dass er Mist gebaut‹ habe und drohten damit, an das Bildungsministerium zu schreiben, um sich von ihm zu distanzieren. Ich habe selten ein weniger kollegiales Umfeld erlebt. Samuel Paty war ein verlassener Mann. Und der Gipfel der Angst: Er sah in den sozialen Netzwerken Kommentare, die dazu aufriefen, ihm ›eine Lektion‹ zu erteilen und beobachtete, wie die Zugriffe darauf in die Höhe schnellten. Er sah, wie die Gefahr wuchs. Er, der sanfte Laizist, dem das Wohl seiner Schüler am Herzen lag und dem man faktisch nichts vorwerfen konnte.«

Paty wurde das Opfer einer »Lynchmaschine«, so Simon weiter: »Ohne soziale Netzwerke wäre Abdoullakh Anzorov nie in die ruhige Kleinstadt Conflans-Sainte-Honorine, an das Bois-d’Aulne-College, gekommen, um sein grausiges Projekt zu verwirklichen.«

Die Polizei schützte Paty nicht, versicherte ihm lediglich, dass hin und wieder eine Fußstreife an der Schule vorbeischauen werde. Obwohl Anzorovs Name in einer Polizeidatenbank gespeichert war und der Polizei die Morddrohungen bekannt waren, konnte sich Anzorov unbehelligt stundenlang vor der Schule aufhalten. Die Rektorin hatte unterdessen Chnina zum Gespräch empfangen und Paty aufgefordert, sich bei seiner Klasse zu entschuldigen, was dieser auch tat.

Den Schülern, die Anzorov für ein paar Euro zeigten, wer Samuel Paty ist, war zwar nicht klar, dass dieser dem Lehrer mit einem Messer den Kopf abtrennen wollte, aber sie waren damit einverstanden, dass Anzorov Paty »eine anständige Lektion« erteilen würde, wie er ihnen sagte. Warum waren auch sie der Meinung, dass ihr Lehrer sich falsch verhalten hatte? »Wo haben sie das gehört?«, fragt Simon, und gibt sich gleich selbst die Antowrt: »In den sozialen Netzwerken, ja. Aber nicht nur dort, sondern auch innerhalb der Schulmauern haben Erwachsene derartige Äußerungen getätigt.«

Keine Welle machen

Pas de vague, keine Welle (machen) – das ist ein Schlagwort, das in Frankreich häufig benutzt wird, um eine Handlungsweise an Schulen zu beschreiben, die darauf ausgerichtet ist, Konflikten mit muslimischen Schülern und Eltern aus dem Weg zu gehen. Simon sagt, dieses Drama erzähle auch von den verheerenden Folgen des »pas de vague«:

»Es ist klar, dass die Rektorin zu Beginn Angst davor hatte, ihre Schule könnte von Problemen heimgesucht und ihr guter Ruf geschädigt werden. Doch indem sie Chnina empfing, der sie sehen wollte, wählte sie bereits das Lager der Schülereltern gegen das der Lehrer. Und was ist mit ihrer Aufforderung an Samuel Paty, sich vor seiner Klasse zu ›entschuldigen‹ – was er auch tun würde? Ziel des Buches ist es nicht, diese Schulleiterin zu geißeln, sondern nur daran zu erinnern, dass sie Teil eines Systems ist, das seine eigenen Leute nicht mehr schützt und die Probleme verursacht, die es vermeiden will.«

Bildungsminister Pap Ndiaye räumte im Senat ein, dass »Verstöße gegen die Grundsätze des Laizismus« zugenommen hätten und es in einigen Fällen zu Drohungen und Angriffen gekommen sei. Dieser Anstieg könnte seiner Meinung nach mit der Entwicklung einer »Meldekultur« in den Schulen zusammenhängen, die das Ministerium fördere: »Die Schulleiter haben verstanden, dass Meldungen kein Eingeständnis von Schwäche sind.«

Was den Schutz der Lehrkräfte betrifft, verwies der Minister auf einen Kurs namens »Werte der Republik«, der sich an Schulleiter richtet. Bisher hätten 10.000 von 14.000 Schulleitern daran teilgenommen. Mit einer klaren Anweisung: »Melden, sich kümmern und sanktionieren.« »Der Schulleiter ist verpflichtet, Vorfälle zu melden«, so der Minister. Was die Lehrer betrifft, »müssen sie weder den Kopf noch den Rücken beugen. Die Institution ist ihm Schutz schuldig. Es darf keine Omertà [Schweigegelübde der Mafia; Anm. Mena-Watch] geben.«

Der republikanische Senator Jacques Grosperrin erinnerte an eine Umfrage, der zufolge von 2018 bis 2022 der Anteil der Lehrer, die angaben, Selbstzensur zu üben, von 36 auf 56 Prozent gestiegen ist, und sagte, er habe den Eindruck, dass es darum gehe, »keine Welle zu machen und niemanden zu verletzen«. 

Pap Ndiaye räumte ein »echtes Phänomen der Selbstzensur« ein und behauptete, das Problem nicht »herunterzuspielen«. Er verwies auf »dezentrale Abteilungen, die sich aktiv mit dem Thema befassen« und versicherte: »Wir sind das Gegenteil einer Politik, die keine Welle macht.« Er lobte die seit 2015 laufende enge Zusammenarbeit des Justiz- und Innenministeriums mit den Präfekturen. In der Folge sei eine Datenbank über Angriffe auf Lehrer erstellt worden. Im letzten Jahr hätten 2.739 Lehrer und 194 sonstige Schulangestellte Anträge auf Amtsschutz gestellt – eine Unterstützung, zu der die Übernahme von Gerichtskosten, psychologische Unterstützung oder andere Formen der Hilfe zählen, so Ndiaye weiter.

Gläubige Muslime und Ungläubige

Über den Mord an Samuel Paty und die Bedrohung von Frankreichs Lehrern reden, ohne den Begriff Islamismus zu benutzen? Mena-Watch bat den Historiker, Soziologen und Antisemitismusforscher Günther Jikeli von der Indiana University Bloomington um einen Kommentar. Jikeli ist profilierter Experte zum Thema des muslimischen Extremismus in Europa und hat darüber zahlreiche Fachbeiträge und Bücher veröffentlicht. Er meint:

»Der für die Enthauptung von Samuel Paty verantwortliche Mörder zeigte in seinen Nachrichten auf diversen sozialen Medien deutlich, dass er einem radikalen islamistischen und antisemitischen Weltbild anhing.«

Ein Kennzeichen dieses islamistischen Weltbilds sei die »kompromisslose Einteilung der Menschen in gläubige Muslime und Ungläubige«, die es zu bekämpfen gelte, da sie angeblich die Gemeinschaft der Umma bedrohten. 

»Der Lehrer Samuel Paty war für ihn Symbol dieser Bedrohung, weil er in aufklärerischer und behutsamer Weise über Interpretationen von Religion anhand der Mohammed-Karikaturen reden wollte. Diese Toleranz gegenüber unterschiedlichen Interpretationen von Religionen und insbesondere des Islams ist für Islamisten nicht tolerierbar.«

Islamisten forderten eine »Zensur nicht nur jeglicher Kritik des Islams«, sondern überhaupt einer Diskussion über verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. »Eine Gleichstellung des Islams mit anderen Religionen und damit eine Relativierung des Wahrheitsanspruchs des Islams lehnen sie ab.«

Eine solche Gleichstellung der Religionen sei jedoch für moderne, multireligiöse Gesellschaften eine essenzielle Grundlage des Zusammenlebens. Der Islamismus bedrohe diese Grundlage. Das zeigten nicht nur dschihadistische Attentate, sondern auch die Forderungen von Islamisten, Kritik auch an radikalen Auslegungen des Islam zu tabuisieren wie etwa die Benennung des Problems islamistischer Weltvorstellungen.

»Dass jetzt ausgerechnet der französische Bildungsminister sich davor scheut, das Wort Islamismus überhaupt in den Mund zu nehmen und das auch noch vor der Senatskommission zu Bedrohungen und Angriffen gegen Lehrerinnen und Lehrer, die eruieren soll, wie es zu dem Attentat auf Paty kommen konnte, lässt große Zweifel aufkommen, ob der französische Staat in der Lage ist, dem Islamismus entgegenzutreten.«

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