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Libanon: Der Aufstand gegen die Hisbollah

Demonstration Mitte Juli: Schon vor der katastrophalen Explosion in Beirut wurde gegen die Hisbollah protestiert. (imago images/ZUMA Wire)
Demonstration Mitte Juli: Schon vor der katastrophalen Explosion in Beirut wurde gegen die Hisbollah protestiert. (imago images/ZUMA Wire)

Die Wut der Menschen in Beirut richtet sich vor allem gegen die Hisbollah, die seit Jahren den Hafen kontrollierte und für Waffenschmuggel nutzte.

Selim Nassib, taz.de

Nach 20 Jahren Abwesenheit wegen einer gewissen Abscheu hatte ich im vergangenen Oktober ein Flugzeug nach Beirut genommen. Das ist erst neun Monate her, erscheint mir aber heute wie eine Ewigkeit. Die „Revolution“ begann an Fahrt aufzunehmen, und ich traute meinen Augen nicht: Menschen aller Konfessionen marschierten Seite an Seite, blockierten öffentliche Plätze, organisierten Menschenketten von Norden nach Süden und schrien ihren Regierenden entgegen: „Alle! Alle heißt auch wirklich alle!“

Das politische System, das auf der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft fußt und so viele Krisen und Kriege überlebt hat, brach in den Köpfen auf einen Schlag zusammen. Wie in einer Art Erleuchtung, sei es nun bei Christen, Drusen, schiitischen oder sunnitischen, hatte die Bevölkerung plötzlich eins begriffen: Dass die Machthaber, fast alle ehemalige Chefs der Kriegsmilizen, die dann in die Politik gegangen waren, ein Kartell gebildet hatten, das sich den Kuchen aufteilte und dank einer allgemeinen Günstlingswirtschaft jedem von ihnen Einfluss auf „seine Gemeinschaft“ sicherte.

Da überwiegend aus dem Ausland finanziert, funktionierte diese Günstlingswirtschaft aber nicht mehr. Saudi-Arabien wollte nicht mehr für „seine“ sunnitischen Libanesen zahlen, weil es Riad widerstrebte, Geld in ein Land zu schicken, das zu Recht als zu drei Viertel von Iran kontrolliert gilt. Der Iran, stranguliert durch US-Sanktionen, hatte nicht mehr genügend Geld, um für „seine“ Schiiten zu bezahlen. Hinzu kam eine bedeutende Finanzkrise, da der libanesische Staat seine Ausgaben finanzierte, indem er über die Zentralbank höhere als die marktüblichen Zinsen anbot. (…)

Dreißig Jahre nach dem Bürgerkrieg schaffte es der Staat nicht, den Abfall wegräumen zu lassen oder die Menschen kontinuierlich mit Trinkwasser und Strom zu versorgen. Ganz zu schweigen von dem bitteren Elend derer, die völlig mittellos sind, und den Kindern, die auf der Suche nach etwas Essbarem den Müll durchwühlen. Plötzlich und überstürzt gab es einen allgemeinen Überdruss, genug ist eben genug und die Wut ist explodiert. (…)

(Auch) wenn die Ablehnung allgemein ist, sie zielt im Besonderen auf die Hisbollah, die, wie stadtbekannt ist, vor einigen Jahren die Kontrolle über einen großen Teil des Beiruter Hafens übernommen hat. Fern jeder Kontrolle durch die Staatsgewalt hat es ihr diese Aneignung erlaubt, Waffen und Flugkörper in das Land zu schleusen, die ihr der Iran liefert, unter dem Vorwand des „Kampfes gegen Israel“.

Jede Reform des libanesischen Systems stößt unweigerlich auf die Frage nach den Waffen der Hisbollah, die die schiitische Organisation behauptet zu bewahren, komme was wolle. Nun hat der alternde (christliche) Präsident der Republik, Michel Aoun, genau wie sein gieriger Schwiegersohn, der davon träumt, ihn abzulösen, einen Bund mit der Hisbollah geschlossen und hat damit eine Machtstruktur zementiert, die fast unmöglich aufzubrechen ist – während die Leute auf der Straße Hunger haben.

(Auszüge aus dem Text „Wenn sich der Zorn entlädt“, der auf taz.de erschienen ist.)

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