„Latifa Matmati Fall wurde schließlich an die ‚Instanz für Wahrheit und Würde‘ weitergeleitet, die 2014 gegründet wurde. Seither hat diese Instanz fast 50.000 Personen angehört und rund 62.000 Akten erstellt – über das Schicksal von überzeugten Islamisten, altgedienten Marxisten, jungen Revolutionären und völlig unpolitischen Menschen, die in die Fänge der Sicherheitsbehörden geraten waren. Sie behandelt auch Fälle von Korruption, illegaler Bereicherung und was die Diktatur sonst noch mit sich brachte. In den vergangenen Monaten hat die Kommission die ersten Fälle an Sondergerichte überwiesen. Und am 29. Mai begann der erste Prozess – zum Verschwinden von [Latifas Mann] Kamel Matmati. Unter den 14 Angeklagten ist auch der frühere Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali, der heute in Saudi-Arabien lebt. Zur Verhandlung erschien kein einziger der Angeklagten. Latifa Matmati hofft, dass das beim nächsten Prozesstag am 10. Juli anders sein wird. (…)
Dass sich die Täter selbst für ihr Vorgehen, für Folter und Vergewaltigung entschuldigen, ist die große Ausnahme geblieben. Im Gegenteil, mit der zunehmenden Kritik an der Wahrheitskommission hätten sich einige auch wieder aus der Deckung gewagt (…) Ende Juni hat eine Polizeigewerkschaft der Wahrheitskommission vorgeworfen, die Sicherheitskräfte zu verleumden – und sie hat ihre Mitglieder dazu aufgerufen, nicht auf die Vorladung zu Gerichtsterminen zu reagieren.
Eigentlich war die Arbeit der Wahrheitskommission auf vier Jahre angelegt, mit der Option, sie um ein Jahr zu verlängern. Doch im März hat das Parlament über den Fortgang der Arbeiten abgestimmt – und beschlossen, dass die Wahrheitskommission ihre Arbeit bis zum 31. Mai dieses Jahres zu beenden habe. Viele Tunesier halten im Nachhinein das ganze Prozedere für rechtswidrig, unter anderem, weil nicht die nötige Mindestzahl an Abgeordneten bei der Abstimmung vertreten war. Nicht nur daran sieht man, dass in Tunesien der Wille zur Aufarbeitung des Geschehenen schwindet. Im vergangenen Jahr wurde ein ‚Gesetz zur Versöhnung in der Verwaltung‘ verabschiedet, das eine Amnestie für Korruptionsdelikte von Beamten umfasst. (…) Gerade in der stärksten Regierungspartei Nidaa Tounes haben sich Anhänger Ben Alis gesammelt, die die Wahrheitskommission zum Schweigen bringen möchten. Erst in letzter Minute gab es noch ein Abkommen mit der Regierung, dass die Kommission immerhin bis Jahresende ihre Arbeit abschließen darf.“ (Anne Françoise Weber: „Vergangenheitsaufarbeitung mit Hindernissen“)