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Archäologen auf Spurensuche nach Terrorattacke: »Wie in einem Krematorium«

Der Archäologe Hai Ashkenazi im Kibbutz Nir Oz
Der Archäologe Hai Ashkenazi im Kibbutz Nir Oz (Fotocredit: Hai Ashkenazi)

Archäologen der israelischen Altertumsbehörde helfen im Süden des Landes bei der Suche nach menschlichen Überresten von vermissten Personen.

Hai Ashkenazi ist ein israelischer Archäologe, der Jahre damit verbrachte, verlorene Ruinen der frühen und mittleren Bronzezeit auszugraben. In den vergangenen Wochen konzentrierte er sich jedoch darauf, die Asche von Häusern zu durchsuchen, die von Hamas-Terroristen am 7. Oktober niedergebrannt wurden. Durch seine akribische Arbeit konnten Überreste vermisster Israelis identifiziert werden.

»Als man mich fragte, ob ich bei der Suche nach Leichen helfen wollte, war ich zunächst schockiert«, berichtete Ashkenazi in seinem Büro der israelischen Altertumsbehörde in Jerusalem. Eine Nacht lang dachte er darüber nach. »Seit Beginn des Kriegs wollte ich irgendwie helfen«, so der Archäologe. Hier hatte er seine Chance, aber gleichzeitig fragte er sich, ob er in der Lage sein würde, dies durchzustehen. Schließlich sagte er zu. Am 25. Oktober fuhr er nach Nir Oz, einem Kibbuz, in dem über hundert der vierhundert Einwohner von der Hamas ermordet wurden oder als vermisst gelten.

Einfach nur weg

»Zunächst schien alles ruhig und friedlich zu sein«, erinnert sich der Archäologe. Die Vögel sangen, das Gras und die Bäume waren immer noch grün. Ein idyllischer Ort, abgesehen vom gelegentlichen Heulen der Sirenen und den Explosionen aus Gaza.

Um zu verstehen, was hier geschah, spazierte Ashkenazi nach seiner Ankunft durch den Kibbuz und betrat die verlassenen Häuser. Jedes Haus hatte etwas zu erzählen. Er sah aufgeschossene Türschlösser und Chaos in den Häusern: Schränke und Schubladen standen offen, der Inhalt lag am Boden verstreut – das Werk der Plünderer, die nach den Hamas-Kämpfern kamen, um nach Geld und Wertsachen zu suchen.

Viele Menschen versteckten sich in mit Stahlbeton verstärkten Räumen, die gegen Raketenbeschuss schützen sollen. Da sich deren Türen nicht versperren lassen, hielten sie die Griffe von innen fest. »Die Terroristen schossen neben dem Griff in die Tür und trafen die Person auf der anderen Seite«, so der Archäologe, der die Einschusslöcher in den Türen und die Blutlachen dahinter sah.

In anderen Schutzräumen fand er Handtücher, welche die Eingeschlossenen in den Spalt zwischen Boden und Tür gedrückt hatten, damit der Rauch des brennenden Hauses nicht eindrang. In einem Kinderzimmer war eine Blutlache am Boden vor dem Stockbett, dessen Matratzen ebenso rot von Blut waren. In dem Haus wurde eine Familie mit drei Kindern ermordet, erfuhr er.

Das Grauen, das hinter all diesen Eindrücken steckt, ging Ashkenazi nahe. Auf einmal nahm er den Fehler wahr, sich alles anzusehen. »Ich wollte einfach nur weg, wollte davonlaufen«, erinnert er sich. Aber das ging nicht. Er war mit einem Militär-Konvoi gekommen und hätte den Ort erst am Nachmittag mit demselben Konvoi wieder verlassen können. Also machte er sich an die Arbeit.

Archäologen auf Spurensuche nach Terrorattacke: »Wie in einem Krematorium«
Mit der Spachtel durchsuchen Archäologen die Ascheschichten in den abgebrannten Häusern (Fotocredit: Assaf Peretz, Israel Antiquities)

Wie in einem Krematorium

Hai Ashkenazi und sein Team durchsuchen systematisch jedes Haus, in dem jemand vermisst wird. Ist das Dach eines abgebrannten Hauses eingestürzt oder zu schwer beschädigt, muss es zunächst abgetragen werden. Anschließend teilen die Archäologen das Gebäude in Suchzonen ein. Auf diese Weise können sie mögliche Funde genau lokalisieren.

Technisch entspricht das der Vorgehensweise einer Forschungsgrabung. Aber das Gefühl beim Arbeiten sei ein völlig anderes, so Ashkenazi. Für gewöhnlich freuen sich Archäologen, wenn sie bei Grabungen auf abgebrannte Häuser stoßen. Denn durch diese sogenannten Zerstörungshorizonte können sie rekonstruieren, wie die Menschen damals lebten. »Hier ist das etwas ganz anderes«, erzählt Ashkenazi. »Hier starben Menschen, die ich hätte persönlich kennen können.«

Wie bei einer archäologischen Ausgrabung stoßen sie in den abgebrannten Häusern auf Schichten. »Zuoberst liegt der Verputz, der sich von den Wänden gelöst hat. Darunter eine Schicht aus Asche, die den Boden des Hauses bedeckt.« Stundenlang knien die Archäologen im Schmutz und suchen mit ihren Spachteln nach Überresten, die Hinweise auf Vermisste geben könnten. Komplette Skelette fanden sie keine, denn die Hitze der Feuer war so stark, dass selbst die Knochen verbrannten. »Wie in einem Krematorium«, diagnostiziert Ashkenazi. Für gewöhnlich beschränken sich die Funde daher auf winzige Bruchstücke von Knochen.

Eine vermisste Person konnte durch ein Metallimplantat im Körper identifiziert werden, bei anderen gaben deren Zähne Auskunft über ihren Tod. Manchmal wiesen auch persönliche Schmuckstücke auf den Vermissten hin. Damit den Archäologen auch nicht der kleinste Hinweis entgeht, füllen sie die Asche in Eimer und sieben diese außerhalb des Hauses. »Dabei trage ich eine Maske, um vor dem feinen Staub geschützt zu sein«, so der Experte. Am Ende des Tages sind die Archäologen grau von der Asche. Und dann ist da der allgegenwärtige Gestank nach verbranntem Plastik. »Es ist furchtbar, du wirst den Geruch nicht los, selbst zuhause habe ich ihn noch in der Nase.«

Zähne, Knochenfragmente, persönliche Gegenstände – alles, was helfen kann, eine Person zu identifizieren, wird von den Archäologen einem Fundort zugeordnet und anschließend in Papierumschläge gepackt. Diese übergeben sie den Verantwortlichen der für die Spurensicherung zuständigen Armeeeinheit. »Damit endet unser Job«, sagt Ashkenazi.

Die Armee leitet die Überreste weiter an Labore zur DNA-Analyse oder zu Zahnärzten, die anhand des Zahnabdrucks die Person identifizieren. Aufgrund der akribischen Suche der Archäologen konnten bisher die Überreste von zehn vermissten Personen aufgefunden werden. »Ich bin froh, dass ich mich entschieden habe zu helfen«, so der Archäologe. »Ich denke, für die Angehörigen ist es besser zu wissen, dass ein Verwandter tot ist, als nicht zu wissen, was geschehen ist.«

Archäologen auf Spurensuche nach Terrorattacke: »Wie in einem Krematorium«
Damit nicht der kleinste Hinweis entgeht, wird die Asche aus den Häusern gesiebt. (Fotocredit: Assaf Peretz, Israel Antiquities)

Angst und Hass

Das Hamas-Massaker lässt Ashkenazi an seinen verstorbenen Vater denken. Dieser war ein Teenager, als die arabischen Nachbarn 1948 dem jungen Staat Israel den Krieg erklärten. »Er sagte immer, wenn die Araber gewinnen, werden sie uns alle massakrieren«, erinnert er sich. Die Ereignisse vom 7. Oktober hätten diese tief verwurzelte Angst vieler Israelis wieder hochkommen lassen.

Gleichzeitig ist der ehemalige Friedensaktivist überzeugt, dass sich die komplexen Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern nicht in Schwarz-Weiß-Bildern erklären lassen. So würden die Israelis glauben, alles versucht zu haben, um Frieden zu schaffen – nur die Palästinenser hätten es ruiniert. Die Palästinenser wiederum empfänden das Gegenteil. Wahr wäre vielmehr: Beide hätten recht und unrecht zur selben Zeit.

Viele der Menschen in Gaza seien entweder Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen, die in den vergangenen Jahren wie in einem Gefängnis leben mussten, meint Ashkenazi. Andererseits habe Israel in den 1990er Jahren den Osloer Verträgen zugestimmt. Ein wesentlicher Grund, warum es nicht funktioniert habe, seien die Terroranschläge der Hamas gewesen, deren Selbstmordattentäter sich in israelischen Bussen in die Luft sprengten.

»Wir Israelis haben viel gelitten und wir haben die Menschen in Gaza leiden lassen«, resümiert Ashkenazi. Die Gräben sind tief, was auch daran liege, dass viele Israelis die Palästinenser nicht kennen und umgekehrt: »Es gibt so viel Angst und Hass zwischen beiden, das macht es schwierig, optimistisch zu sein, aber am Ende ist es der einzige Weg«, ist der Archäologe überzeugt.

Vielleicht könnte es werden wie in Europa nach 1945, als der Kontinent völlig verwüstet war und voll von Hass und sich dennoch zu einer friedlichen europäischen Union entwickelte, sagt Ashkenazi abschließend: »Ich hoffe, dass es bei uns ähnlich sein wird und diese Katastrophe den Weg in eine friedlichere Zukunft eröffnet.«

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