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Zwei neue Verlierer in der Türkei: Syrer und die Umwelt

Zwei neue Verlierer in der Türkei: Syrer und die Umwelt
Das alte Hasankeyf wird im Stausee hinter dem Ilisu-Damm versinken. (CC BY-SA 3.0)

Die Verluste der AKP bei den jüngsten Bürgermeisterwahlen in der Türkei haben auch ihre Schattenseiten: Präsident Tayyip Recep Erdogan fühlt sich angesichts der Wahlniederlagen, die von schwindender Popularität zeugen, und inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise mit dem Rücken an der Wand. Fast panisch reagiert er auf diese Entwicklungen. Zwei Verlierer sind jetzt schon ausgemacht: Syrische Flüchtlinge und die Umwelt.

Gegen syrische Flüchtlinge

Da sich seit Jahren die Ressentiments in der Bevölkerung gegen die Millionen von Flüchtlingen verstärken und die oppositionelle CHP von Anfang an sich deutlich gegen Erdogans Syrien-Politik positioniert hatte, geht die Regierung seit dem Frühjahr massiv gegen Syrerinnen und Syrer im Land vor. Razzien gehören in Istanbul inzwischen ebenso zur Tagesordnung wie Deportationen ins Kriegsgebiet nach Syrien, denn:

„Erdogans Flüchtlingspolitik gilt als einer der Gründe, warum die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in Istanbul, wo mindestens eine halbe Million Syrer leben, die Bürgermeisterwahl verlor. Der Staatspräsident hat darauf reagiert. Wenige Wochen nach der Wahlschlappe ordnete der von der Regierung eingesetzte Gouverneur von Istanbul an, dass alle Syrer, die keine Aufenthaltsbewilligung für Istanbul besitzen, die Metropole bis zum 20. August verlassen und in die Provinzen zurückkehren müssten, in denen sie registriert seien.

Daraufhin schwärmten die Polizisten in Istanbul aus, um Syrer zu kontrollieren. Aber nicht nur das. Flüchtlinge berichten, dass sie selbst in Restaurants oder den eigenen vier Wänden nicht sicher sind. In etlichen Quartieren durchsuchten Polizisten in den vergangenen Wochen die Wohnungen von Syrern auf der Suche nach «Illegalen.» Seitdem herrscht Angst unter den Flüchtlingen. Denn so genau nimmt es Ankara nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen nicht.

Nicht nur mit jungen Männern, sondern auch mit Alten, Frauen und Kinder machte die Polizei kurzen Prozess: Sie wurden auf die Wache gebracht, in ein Ausschaffungslager oder gleich in Busse verfrachtet und über die Grenze transportiert. Dabei mussten sie ein Papier unterschreiben, wonach sie freiwillig zurückgekehrt seien. Flüchtlinge berichteten der syrischen Menschenrechtsorganisation ‚Syrians for Truth and Justice‘ allerdings von massivem Druck, Drohungen und sogar Schlägen. Selbst Personen mit einer gültigen Aufenthaltsbewilligung wurden nach Angaben von Menschenrechtlern ausgeschafft. Innenminister Süleyman Soylu bestreitet dies. Es gebe Verfahren für die freiwillige Rückkehr in ‚sichere Gebiete‘, sagt er.“

Mit Istanbul verlor die AKP auch eine ihrer wichtigsten Geldeinnahmequellen, schließlich kontrollierten Getreue Erdogans dort von Baufirmen bis zu religiösen Stiftungen unzählige lukrative Unternehmen. Und diese Verluste machen sich bemerkbar, gerade in Zeiten, in denen Geld knapp ist und der alte Nepotismus, der zum System gehörte, nicht mehr so funktioniert wie einst.

Raubbau an der Umwelt

Also sucht man neue Einnahmequellen und betreibt massiven Raubbau an der Natur. Ob systematische Abholzungen in Naturschutzgebieten, Ausweitung von Minenbetrieben oder Baugenehmigungen, inzwischen gibt es offenbar keine Hemmungen mehr, selbst geschützte Regionen weiter zu zerstören.

Das wiederum sorgt für wachsenden Unmut in der Bevölkerung, die sich vermehrt gegen diese kurzsichtige, nur auf schnellen Profit ausgerichtete Politik wehrt. Erdogan scheint vergessen zu haben, dass die größte Oppositionsbewegung, der er sich je gegenüber sah, aus einer Initiative zum Schutz des Gezi-Parks und seiner Bäume in Istanbul entstand. Für Al-Monitor berichtet Orhan Kemal Cengiz über die neue Umweltbewegung in der Türkei:

„Heutzutage nehmen die Spannungen in Umweltfragen wieder deutlich zu, mit Protesten, Kampagnen und viel Widerhall im ganzen Land. Tausende von Demonstranten demonstrierten am Rande einer kleinen Stadt in der nordwestlichen Provinz Canakkale gegen das Kirazli-Goldminenprojekt von Dogu Biga Mining, der türkischen Tochtergesellschaft des kanadischen Unternehmens Alamos Gold, nachdem verstörende Bilder von Kahlschlägen im Ida-Gebirge, die von den sozialen Medien verbreitet wurden, in der Öffentlichkeit für Empörung sorgten. Alamos Gold soll 195.000 Bäume gefällt haben, viermal mehr als im Umweltverträglichkeitsbericht angegeben.

Zwei neue Verlierer in der Türkei: Syrer und die Umwelt
Salda-See (Quelle: Needemm/CC BY-SA 4.0)

Darüber hinaus haben rund 123.000 Menschen in knapp zwei Tagen eine Petition zum Schutz des Salda-Sees im Bezirk Yesilova in der Provinz Burdur im Südwesten der Türkei unterzeichnet. Der Salda-See wird wegen seines weißen Sandes und des türkisfarbenen Wassers als “Malediven der Türkei” bezeichnet. Die Petition fordert, dass die türkische Regierung die Pläne für den Bau eines Parks um den See zurückzieht.

Unterdessen wird weiter gegen die Befüllung des Stausees am umstrittenen Ilisu-Staudamms protestiert, dessen künstlicher die die 12.000 Jahre alte Stadt Hasankeyf in der Provinz Batman im Südosten der Türkei im Wasser untergehen lassen wird. (…)

Diese und andere Proteste und Aktionen gegen Umweltzerstörung fanden allein in diesem Monat statt; die Zahl der Demonstranten weist auf einige kritische soziale und politische Trends in der Türkei hin.

Man muss vielleicht verstehen, was all diese Umweltprobleme verursacht hat und wie alarmierend sie waren, bevor man einzuschätzen versucht, was diese Proteste für die Zukunft der Türkei bedeuten. In den letzten 10 Jahren gab es keinen einzigen Tag, an dem nicht in gedruckten Zeitungen und in den sozialen Medien Bilder über ernste Umweltprobleme veröffentlicht wurden. Einige dieser Probleme wurden durch große Bauprojekte wie die dritte Brücke von Istanbul, den dritten Flughafen von Istanbul usw. verursacht. Es wird geschätzt, dass allein für Istanbuls dritten Flughafen 13 Millionen Bäume gefällt wurden. Für Erdogans Sommerresidenz waren es 40.000 und für seine offizielle Residenz (…) wurden 10.000 Bäume gefällt.

Wasserkraftwerke zerstören nicht nur Wälder, sondern verursachen auch ernsthafte Umweltprobleme. In vielen Teilen des Landes werden Wasserkraftwerke und Kernreaktoren gebaut oder geplant, was Anlass zu großer Sorge gibt.

Goldminen wie die von Canadian Alamos Gold in den Ida-Bergen verursachen große Ängste wegen der riesigen Mengen an Zyanid, die verwendet werden, um an das Gold zu kommen, das die Goldfirmen fördern wollen.

Kanakkales Bürgermeister Ulgur Gokhan warnte, dass es sich bei der Region um eine seismische Zone ersten Grades handelt, dass ein Erdbeben eine Katastrophe auslösen könnte und dass Wasserquellen vergiftet werden könnten.“

Seit sein Stern zu sinken begann, fragen sich viele in der Türkei sorgenvoll, wie wohl das Ende der Ära Erdogan aussehen wird: Ein langsames Dahinsiechen in immer autoritäreren und zugleich dysfunktionalen Strukturen? Gar ein vom Regime angezettelter Bürgerkrieg? Oder Massenproteste, die es am Ende zum Sturz bringen? Niemand weiß es, nur Angst vor diesem Ende haben viele, denn Erdogan wird seinen Platz im Präsidentenpalast wohl kaum einfach so räumen, da ist man sich sicher.

Nun kommt noch eine weitere Einsicht hinzu, die eine der Umweltaktivisten mit Blick auf die Umweltzerstörungen so formulierte: Die AKP werde nicht gehen, bevor sie das Land zerstört und geplündert hat. Leider wird sie wohl Recht behalten, denn wie es scheint, werden ein paar Demonstrationen und Proteste dem zerstörerischen Treiben keinen Einhalt gebieten.

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