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Wie Erdoğan die Wahlen gewonnen hat (Teil 2)

Die erneute Angelobung Erdoğans am 3. Juni war eine veregnete Angelegenheit. (© imago images/UPI Photo)
Die erneute Angelobung Erdoğans am 3. Juni war eine veregnete Angelegenheit. (© imago images/UPI Photo)

Präsident Erdoğan gewann letztlich wegen der Schwäche der Opposition. Ein bloßes »Weiter so wie bisher« wird er sich aber nicht leisten können.

Zwar ist Erdoğan und seiner AKP ein Wahlsieg gelungen. Dies lag allerdings, wie in den ersten sechs Thesen in Teil eins gezeigt wurde, nicht daran, dass deren Politik auf besonders große Zustimmung gestoßen wäre. Vielmehr überzeugte die türkische Opposition eine Mehrheit nicht und die Wähler entschieden sich deshalb mehrheitlich für das Bekannte und mehr oder minder Bewährte.Nach den Wahlen zeigt sich aber bereits jetzt, dass die AKP und Erdoğan nicht einfach so weitermachen können wie bisher. Dazu im Folgenden die Thesen sieben bis zwölf unserer Analyse der türkischen Wahlen (Teil 1 finden Sie hier.)

7. Die Opposition dominiert in den Großstädten und Industriezentren, ausschlaggebend war aber das Hinterland.

Im Wahlverhalten zeigte sich eine deutliche Diskrepanz zwischen urbanen und provinziellen Wählern. Während die AKP in fast allen 23 Großstädten bis zu zweistellige Verluste einstecken musste (wie etwa in Kayseri und Konya) und die Opposition in den Metropolen wie Istanbul und Ankara nach wie vor führt, liegen die Hochburgen der AKP weiterhin in den Provinzen Zentralanatoliens und der Schwarzmeerregion. In diesen Gebieten, in denen rund 30 Prozent der Bevölkerung leben, hat die AKP ihre Wählerschaft konsolidieren können, die zudem opferbereiter denn je ihre Stimme der Regierung gaben.

Für die Wahlarithmetik bedeutete dies etwas Neues: Wahlentscheidend scheint nun das Hinterland, also Dörfer und klein- und mittelstädtische Gebiete, geworden zu sein, obgleich das ökonomische Elend in den Großstädten mit hohen Mieten, steigender Jugendarbeitslosigkeit und deutlich höheren Lebenshaltungskosten viel stärker zu spüren ist als in den Provinzen.

In den kleineren Städten ist der Anteil an Wohnungseigentümern größer, dadurch entfällt der Mietdruck. Die Lebenshaltungskosten sind dort vergleichsweise geringer, und im Ernstfall können sich die Provinzbewohner in die Dörfer zurückziehen und von Viehzucht und Ackerbau leben. Dass allerdings dieses gewissermaßen »städtische Bauernmilieu«, das zumeist auch als Großfamilie gemeinschaftlich wirtschaftet, um die Lebenshaltungskosten aufzuteilen, wahlentscheidend geworden ist und die Provinzbewohner mit ihrem Wahlverhalten zur Beibehaltung des Status quo beigetragen haben, wirft Fragen auf.

Der identitär gegen die Opposition geführte Wahlkampf, der Opferbereitschaft und Loyalität in den Vordergrund stellte, trug insbesondere in der Provinz Früchte, obwohl diese im Gegensatz zu den Industriezentren im Westen der Türkei kaum zum Reichtum des Landes beiträgt – sehr zum Unbehagen jener Großstadtwähler, welche die Regierungspolitik mehrheitlich nicht befürworten.

8. Die AKP wird sich neu erfinden müssen.

Auf Dauer ist diese Diskrepanz nicht tragbar, zumal die Mittelschicht dahinschmilzt. Der AKP ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, eine neue islamisch-konservative Mittelschicht als die neue Elite des Staates zu etablieren und zu seinem Rückgrat zu machen. Dieses Milieu setzt sich aus ehemals aus den Provinzen und Dörfern in die Großstädte gezogenen Aufsteigern zusammen, die in der Vergangenheit die AKP unterstützten, weil sie ihm zu seinem wirtschaftlichen Aufstieg verholfen hat. Diese neue Mittelschicht in den Großstädten ist stark von der Wirtschaftskrise betroffen, was zu den Verlusten der AKP in den Großstädten beigetragen hat.

Will die AKP weiterhin als eine »Partei des ganzen Volkes« gelten und unterschiedliche Wählermilieus ansprechen, wird sie gegen das fast fatalistische Hinnehmen der Krise der letzten Jahre etwas unternehmen müssen. Dabei war gerade sie es, die mit ihrer Wirtschaftspolitik dazu beigetragen hatte, eine Krisenbewältigung zu verunmöglichen und stattdessen eine Lähmung wirtschaftlicher Aktivitäten bewirkte.

Die AKP ist im Zuge dessen als Partei fast bedeutungslos geworden und wird nur noch von der Person Erdoğan getragen, dem Frontmann, der seine Partei im Alleingang zum Wahlerfolg trägt und vom Wähler Loyalität und eine fragwürdige Dankbarkeit einfordert.

9. Im Jahr 2024 soll Istanbul zurückerobert werden.

Wer Istanbul gewinnt, der gewinnt die Türkei. Dieser Politspruch geht auf Erdoğan zurück, der 1994 überraschend Oberbürgermeister in Istanbul wurde und von dort aus den Weg zum Minister- und Staatspräsidenten angetreten hat. Istanbul ist nicht irgendeine Großstadt, sondern die tragende Wirtschaftsmetropole der Türkei. Fast zwei Drittel des türkischen Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Istanbul erwirtschaftet.

Der Verlust Istanbuls an die Opposition bei den Wahlen 2018 war für Erdoğan und die AKP ein schwerer Verlust – nicht zuletzt, weil das von Erdoğan einst höchstpersönlich initiierte Patronagesystem, in dem die AKP und nahestehende Unternehmen kooperierten, um bei Ausschreibungen lukrative Projekte abzustauben, plötzlich gewissermaßen austrocknete.

Entsprechend lautet das Ziel des Regierungslagers für die anstehenden Oberbürgermeisterwahlen 2024 ganz klar die Rückeroberung Istanbuls. Erste Schritte wurden bereits im Dezember 2022 unternommen, als der amtierende Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe und einem Politikverbot verurteilt wurde. Zwar zielte diese Strafe vor allem darauf ab, dem äußerst populären Bürgermeister die Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten zu versperren, aber für die AKP kann sich Imamoğlus Verurteilung auch bei der nächsten Bürgermeisterwahl als äußerst nützlich erweisen.

Viel kommt jetzt darauf an, ob das Berufungsgericht die Bestrafung von Imamoğlu bestätigt oder revidiert. Sollte das Urteil bestätigt werden, müsste Imamoğlu gezwungenermaßen vom Amt des Oberbürgermeisters zurücktreten und die AKP könnte sich die Mühe ersparen, einen Kandidaten ausfindig machen zu müssen, der in einer normalen Wahl gegen Imamoğlu gewinnen könnte. Spannend wird darüber hinaus auch das Rennen um das Bürgermeisteramt in der Hauptstadt Ankara.

10. Die Opposition wird keine Chance haben, solange sie nicht aus dem Wahlverhalten Lehren zieht.

Die Wahlniederlage kam für das Oppositionsbündnis unerwartet, das sich auf einen Regierungswechsel eingestellt hatte. Aktuell sieht es nicht danach aus, als hätte die Opposition einen Plan in der Schublade, auf den sie jetzt zurückgreifen könnte. Ein solcher hätte zum Beispiel sein können, dass nach der Niederlage die Verantwortlichen rasch zurücktreten und damit den Weg für einen neuen Oppositionsführer frei machen.

Nichts dergleichen ist geschehen: Trotz der Niederlage hält der unterlegene Kandidat Kılıçdaroğlu am Vorsitz der größten Oppositionspartei CHP fest, und das, obwohl er in den vergangenen Jahren alle Wahlen verloren hat – dass er auch Erdogans Wunschkandidat gewesen ist, überrascht nicht. Vor seiner Kür zum Kandidaten der Opposition war monatelang darüber diskutiert worden, ob er denn wirklich der richtige sei. Insbesondere die mit der CHP zusammenarbeitende IYI-Partei um Parteichefin Meral Akşener zweifelte am Profil des Kandidaten. Eine seiner Schwächen offenbarte sich sodann bei den Wahlen: Für die türkisch-sunnitische Mehrheit ist ein alevitischer Kandidat offenbar nicht wählbar. Akşener hatte das im Vorhinein gesehen, doch die CHP-Führung ging fatalerweise davon aus, dass die Wirtschaftskrise und das schlechte Krisenmanagement nach den Erdbeben ausreichen würden, um die Regierung abzuwählen. Mitnichten – und nach erlittener Wahlniederlage verunmöglicht Kılıçdaroğlu seiner Partei mit seinem Ausharren als Oppositionschef den dringend gebotenen Neuanfang.

11. Ob Erdoğan nötige Reformen zulässt, bleibt offen. 

Auch Erdoğan weiß: Das Wahlergebnis war knapp und keine deutliche Bestätigung seiner Politik. Entsprechend hat er bereits reagiert und personelle Änderungen in die Wege geleitet. Zwar wären diese sowieso vorgenommen worden – die AKP hält sich bei allen Personalbesetzungen an die Beschränkung der Amtszeit auf maximal drei Perioden –, doch es gab Überraschungen.

Bereits vor den Wahlen sickerte durch, dass Erdoğan mit dem ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister Mehmet Şimşek Gespräche führe. Zwar sah es zunächst nicht danach aus, aber jetzt ist Şimşek doch als Minister zurückgekehrt, was hohe Erwartungen ausgelöst hat. Fraglich ist jedoch, ob er an bessere Zeiten anschließen kann, oder ob nicht die wirtschaftlichen Probleme doch eine Nummer zu groß sind. Zumal unklar ist, ob Erdoğan Şimşek überhaupt den Spielraum lässt, die nötigen Reformen in Angriff zu nehmen, also in wesentlichen Punkten die Politik zu revidieren, an der Erdoğan lange Jahre festgehalten und damit die Krise massiv verschärft hat.

12. Ob die Opposition die Wahlen überhaupt gewinnen wollte, ist fraglich.

Eine gewagte These. Hypothetisch allerdings einmal angenommen, die Opposition hätte die Wahlen gewonnen: Welches Erbe hätte sie nach 21 Jahren AKP-Herrschaft jetzt übernommen? Ein gespaltenes Land, Dauerkrisen, schwerste Eingriffe in Freiheitsrechte, eine ausgehebelte Gewaltenteilung, dysfunktionale Institutionen, zerstörte Provinzen in den Erdbebengebieten, Wiederaufbau ungewiss. Dazu schwindende Devisenreserven der Zentralbank, Abwertung der Landeswährung, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit.

Dieses Erbe wiegt schwer und es bräuchte Jahre, um all die verschleppten und angehäuften Probleme zu lösen. In wenigen Monaten stehen Provinzwahlen an, viele bedeutende Metropolen sind in der Hand der Opposition. Gegen wen würde sich der Zorn richten, wäre die Opposition in der Rolle der Regierung in harte Austeritätspolitik übergegangen?

Erdoğans Zukunft wird sich in den nächsten Monaten und Jahren daran zu messen haben, ob er seine Wahlversprechen einlösen können wird, das Land wieder vorwärts zu bringen. Vieles spricht dagegen.

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