„Nein, eine politische Wende in der Türkei findet nicht statt. Nein, Recep Tayyip Erdogan ist nicht über Nacht zum Demokraten gereift. Die türkische Wahlkommission hat entschieden, die Kommunalwahl in Istanbul wiederholen zu lassen, und sich damit dem persönlichen Willen des Präsidenten gebeugt. Überraschen kann das nur, wer noch immer nicht begriffen hat, wie Erdogan tickt und an welchen Abgrund er sein Land gesteuert hat. Ein Mann, der sich von höherer Instanz als dem Willen des Volkes berufen sieht und sogar einen Putschversuch gegen ihn als Mittel zur Machtsicherung begreift – ein solcher Mann akzeptiert keine Niederlage. Er ist vielmehr bereit, auch noch das letzte Feigenblatt zu opfern, das die Türkei wie eine Demokratie aussehen ließ: die Möglichkeit eines gewaltlosen Machtwechsels durch Wahlen. (…)
Für den gewählten Bürgermeister Imamoglu und die türkische Opposition ist der 6. Mai ein bitterer Tag. Sicher, die Gegner des Präsidenten können sich nun mit Eifer auf den 23. Juni vorbereiten und auf einen neuen, vielleicht noch eindeutigeren Wahlsieg hoffen. Unter der Prämisse einer funktionierenden Demokratie lässt sich Erdogans Schachzug ja durchaus als Wagnis sehen: Seine Parteibasis könnte aufmucken, Wähler könnten sich abwenden, das Ende der Ära Erdogan wäre womöglich noch schneller eingeleitet. Eine solche Demokratie aber ist die Türkei schon lange nicht mehr. Sie ist wohl eher die Geisel eines Mannes, der sich um das Ansehen seines Landes nicht mehr schert und dem mittlerweile alles zuzutrauen ist. Ein Putsch gegen die Demokratie erst recht.“ (Daniel Steinvorth: „Ein neuer Putsch in der Türkei“)