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»Als ich über Gaza publizierte, wurde ich inhaftiert«

Straßenkunst in Akko
Straßenkunst in Akko, (Bild: Thomas v. der Osten-Sacken)

Im Jahr 2007 übernahm die Hamas gewaltsam die Macht im Gazastreifen; seit 2017 kam es vermehrt zu Protesten. Bernd Beier sprach mit der Journalistin Manar al-Sharif über ihr oppositionelles Leben in Gaza und ihr Projekt »Voices from Gaza«.

Bernd Beier (BB): Sie betreiben das Projekt Voices from Gaza. Wie sieht Ihr persönliches Verhältnis zu Gaza aus?

Manar al-Sharif (MS): Ich wurde in Syrien, in Damaskus, in eine muslimische palästinensische Familie geboren. 2013 mussten wir im Bürgerkrieg Syrien verlassen, zunächst zogen wir in eine andere syrische Region, aber wir dachten, solange wir Kinder in der Familie haben, funktioniert das nicht. Wir gingen nach Ägypten und ich besuchte dort weitere sechs Jahre die Schule. Danach wollte meine Familie, dass ich zum Studieren an einen konservativen Ort gehe, wo beim Studium Männer und Frauen nicht gemischt sind. Einer war Gaza, sie dachten, das sei ein super Platz zum studieren. Das war 2017.

BB: Wie alt waren Sie da?

MS: Etwa neunzehn. Ich hatte nicht viele Informationen über Gaza, nur aus den Nachrichten; ich ging dorthin an die Universität. Nach ein paar Monaten hörte ich auf. Ich dachte, es sei nicht die richtige Wahl, Journalismus zu studieren, und ich dachte, ich kann mir nicht die Freiheit nehmen, die ich haben möchte. Da gab es viele Regeln, zum Beispiel den Dresscode, und ich fühlte mich, als seien dauernd alle Augen auf mich gerichtet. Von dem Unterrichtsmaterial hatte ich den Eindruck, dass sie dir eher Propaganda beibringen und dass es nicht das Richtige für mich ist. Ich blieb aber weiter in Gaza, und viele Leute nahmen mich gastlich auf.

Unzufriedenheit

BB: Was haben Sie über die politischen Verhältnisse in Gaza erfahren?

MS:  Viele Leute beschwerten sich über die Hamas. Ich dachte zunächst, die Hamas sei von den Leuten gewählt worden, warum beschweren sie sich? Ich fragte nach, was passiert war. Nach und nach verstand ich die Geschichte besser. Die Hamas hatte die Macht in Gaza nicht demokratisch übernommen, sondern gewaltsam, in einer Auseinandersetzung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). 

Seither hat die Hamas viel geändert in Gaza, erzählten mir die Leute, zunächst, wie es dort aussieht, und dann, wie sie die Leute aussehen lassen wollen. Sie brannten ein großes Kino in Gaza nieder und schlossen Orte, an denen man Alkohol trinken konnte oder wo Konzerte stattfanden, alle, die mit Musik zu tun hatten. Und sie stellten neue Regeln für Männer und Frauen auf; die Frauen sollten ihr Haar bedecken und lange Kleidung tragen, um ihren Körper nicht zu zeigen. 

Sie versuchten auch, Regeln für Männer durchzusetzen, zum Beispiel wie sie sich rasieren sollten. Von da an waren die Leute eher verwirrt, wussten nicht genau, wie sie darauf reagieren sollten, und folgten eine Weile den neuen Regeln.

BB: Wie ging es danach weiter?

MS:  Die Hamas verbreitete immer mehr Propaganda und versuchte, die Leute von ihrer »Mission« zu überzeugen: Wir sind hier, um uns und unser Leben für diese Mission zu opfern. Im Lauf der Jahre und der Kriege zwischen Gaza und Israel versuchte die Hamas immer stärker, die Leute in ihre Organisation und ihre Ideologie einzubinden. Sie versprach den Leuten, dafür aufzukommen, wenn sie zum Beispiel ihr Haus verloren hatten.

Die Hamas erhielt immer mehr Gelder für den Wiederaufbau von Gaza. Aber viele Leute begannen zu erkennen, dass diese Gelder nicht direkt an sie gingen, sondern von der Hamas für sich und ihre Angehörigen genutzt wurde – um zu reisen, im Ausland zu studieren, ein gutes Leben zu führen. Immer mehr Leute bemerkten die Kluft zwischen dem, was die Hamas sagte, und dem, was sie tat.

Erste Proteste

BB: Was änderte sich sozial?

MS: Mit der Zeit wurde es immer schwieriger, Arbeit zu finden, es gab immer größere Probleme beispielsweise mit der Elektrizitätsversorgung. Anfangs nahmen die Leute die Verhältnisse unter der Hamas eher hin, aber das änderte sich im Lauf der Jahre. Seit 2017 kam es dann zu Demonstrationen, auf denen mehr Hilfe von der Hamas gefordert wurde, 2019 dann unter dem Motto »Wir wollen leben«. Leute wurden geschlagen, verhaftet, sie wurden traumatisiert, viele Leute wurden sauer auf die Hamas, teilweise wurden Sicherheitseinrichtungen angegriffen. Viele kamen in heikle Situationen; es war schwierig, offen zu reden. Viele meinten, niemand würde sie hören, niemand würde sie verstehen

In dieser Phase von 2017 bis 2020 war ich dort, das habe ich direkt mitgekriegt. Ich denke, die Leute gaben ihr Bestes, aber es ist grundsätzlich ziemlich schwierig für sie, Menschen in anderen Ländern mitzuteilen, was mit ihnen geschieht. Und ich denke, das gilt auch für Israel, es war schwierig für Israelis, ihre Botschaften zu erhalten, weil die Hamas die Medien kontrolliert und jeder, der über die tatsächliche Situation spricht, in eine finstere Lage gerät. Das passierte auch mir: Als ich darüber sprach und Artikel publizierte, wurde ich inhaftiert. Das war zu Beginn der COVID-19-Pandemie 2020, da war ich drei Monate im Gefängnis.

BB: Nachdem Sie sich am oppositionellen Gaza Youth Committee beteiligt hatten?

MS: Ja, aber das war eine andere Geschichte. Als ich das alles hörte und die Situation genauer mitbekam, dachte ich, ich muss mit mehreren Leuten etwas machen, und so traf ich das Gaza Youth Committee und begann, mich daran zu beteiligen. Ich versuchte, Menschen dafür zu sensibilisieren, wie man die Hamas umgehen kann und wie wir versuchen können, unsere Probleme selbst zu lösen. Ob man Wahlen erreichen könnte und eine neue Leitung (»leadership«) für die palästinensischen jungen Leute.

BB: Die Gruppe hat auch Kontakte nach Israel aufgebaut. Wie habt Ihr das gemacht? Ihr konntet ja nicht einfach über die Grenze?

MS: Das haben wir als Youth Committee versucht, als wir die Leute besser verstehen wollten. Tatsächlich hatten sie oft gar keinen Hass auf Israel und schätzten es beispielsweise, wenn sie eine Arbeitserlaubnis dort erhielten. 

Wir machten dann zunächst eine Aktion an der Grenze – natürlich nicht mit Feuerballons beispielsweise, um Menschen zu verletzen oder ihnen zu schaden, wie die Hamas es wollte; wir sind mit dreißig Leuten an die Grenze und haben zweihundert weiße Tauben als Botschaft über die Grenze fliegen lassen, das haben auch viele Medien aufgegriffen. Den Leuten jenseits der Grenze in Israel gefiel diese Botschaft, und seither hatte ich dann auch Kontakte zu ihnen. 

Außerdem stellten wir Verbindungen her zu Menschen in Gaza, die mit Israelis in Kontakt kommen wollten, und haben versucht zu ermöglichen, dass sie frei und direkt miteinander reden konnten; so bekamen Israelis auch mit, was in Gaza läuft. Das war eine gute Erfahrung für beide Seiten, jenseits des Einflusses von Medien und Regierungen beider Seiten.

Ausweisung und Exil

BB: Wie schätzen Sie diese Erfahrungen heute ein?

Ich denke, wir haben über die Jahre unter schwierigen Umständen tolle Arbeit geleistet, aber letztlich haben wir keinerlei Schutz gefunden, nicht einmal von Menschenrechtsorganisationen oder den Vereinten Nationen. Viele meiner Freunde wurden ins Gefängnis geworfen. Ich war bereits 2019 zwei Tage lang inhaftiert und wurde geschlagen. Ich habe kapiert, wie hart die Hamas-Leute sind und dass sie nicht einmal Erbarmen mit ihren eigenen Leuten aus Gaza haben. Letztlich wollen sie nur Vorteile für sich selbst, nicht für die palästinensische Sache oder die Bewohner Gazas. 

Ich denke, jetzt haben viele Menschen in Gaza erkannt, dass die Hamas sie ausnutzt, und nicht wenige beten zu Gott, dass Israel ihnen die Hamas vom Hals schafft.

BB: Sie sind nicht mehr im Gazastreifen, richtig?

»Als ich über Gaza publizierte, wurde ich inhaftiert«
Manar al Sharif (Bild: privat)

MS: Nein, im Herbst 2020 haben sie mich ausgewiesen; ich denke, sie hielten mich für gefährlich. Ich kam zunächst nach Kairo, wo ich weiterhin Stimmen aus Gaza Gehör verschaffte, und dann in die Vereinigten Arabischen Emirate. Aber es war schwierig, weil viele von uns inhaftiert wurden, und auch wenn du aus der Haft kommst, haben sie weiterhin ein Auge auf dich. Doch ich verfolge das Projekt weiterhin, irgendwie kriege ich die Originaltöne schon aus Gaza heraus, indem ich die Medien nutze, Messages verfolge und schreibe. Ich finde es immer noch wichtig, über das Leben in Gaza zu informieren. Ich mache einfach weiter.

Eine Kurzfassung dieses Interviews erschien in der Printausgabe 2024/05 der Jungle World. Mena-Watch wird sich künftig an Manar al-Sharifs Projekt Voices from Gaza beteiligen.

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