Erdogans Entscheidung, die Hagia Sophia in Istanbul wieder in eine Moschee umzuwandeln, war nicht von religiöser Leidenschaft motiviert, sondern ein kalkulierter politischer Akt.
Efrat Aviv, JNS
Die Hagia Sophia von Konstantinopel (der Name bedeutet übersetzt „heilige Weisheit“) wurde 537 n. Chr. vom byzantinischen Kaiser Justinian I. als Kathedrale erbaut. Sie ist ein architektonisches Wunderwerk mit drei Kuppeln, die von nicht-sichtbaren Säulen getragen werden.
Die Hagia Sophia war für die griechisch-orthodoxe Kirche in der byzantinischen Ära von enormer Bedeutung und ist es auch heute noch. Im Jahr 1453 eroberte Mehmet II. Konstantinopel und verwandelte die Kirche in einem symbolischen Akt in eine Moschee. Im Jahr 1934 wandelte die Regierung der türkischen Republik, die ein Jahrzehnt zuvor von Mustafa Kemal Atatürk gegründet worden war, die Moschee im Einklang mit ihrer säkularistischen Politik in ein Museum um.
Als solches diente die Hagia Sophia bis Juli 2020, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte, dass sie wieder in eine Moschee umgewandelt werden würde.
Langer Konflikt um ein religiöses Symbol
Der Konflikt um die Hagia Sophia ist keineswegs neu. Religiös-konservative Kreise in der Türkei lehnten die Umwandlung des Ortes in ein Museum schon zur Zeit der Eröffnung des Museums ab. Es dauerte jedoch eine Weile, bis sich der Widerstand gegen den Status des Ortes in einer Kraft bündeln konnte. Das geschah schließlich 1965, als die Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi) ins Amt gewählt wurde.
Der Vorstoß, die Hagia Sophia wieder in eine Moschee umzuwandeln, erlangte dank der religiösen Orientierung des Vorsitzenden der Gerechtigkeitspartei, Süleyman Demirel, im rechten/konservativen Journalismus der damaligen Zeit breite Publizität. Die Zunahme des Interesses spiegelte auch eine Verschiebung in der türkischen Außenpolitik und eine Vertiefung der Beziehungen zu arabischen Staaten in den 1960er Jahren wider.
Auch wegen des türkisch-griechischen Konflikts, der in diesem Jahrzehnt aufflammte, wurde die Diskussion über den Status der Hagia Sophia befeuert. Die Forderung, die Kathedrale wieder in den Status einer Moschee zu erheben, erhielt symbolisches Gewicht als eine Herausforderung des „hellenischen Feindes“, der Zypern übernommen hatte. Noch heute werden die angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland von vielen Türken und Griechen als irgendwie mit dem Hagia-Sophia-Konflikt verbunden empfunden.
So wie die Hagia-Sophia-Moschee ein religiöses Symbol für türkische Muslime ist, so ist die Hagia-Sophia-Kathedrale ein zutiefst bedeutungsvolles Symbol für griechisch-orthodoxe Christen.
Nach der christlichen Legende wird, wenn feindliche Truppen die Tore von Konstantinopel durchbrechen und alles verloren scheint, der Erzengel Gabriel mit einem Feuerschwert herabsteigen, um die Stadt zu retten. Eine andere christliche Legende beschreibt einen Priester, der sich in einer der Säulen vor den Osmanischen Eindringlingen verstecken konnte, um eines Tages wieder aus ihr herauszutreten, um die Liturgie zu beenden.
Innenpolitische Bedeutung
Am 11. Juli veröffentlichte Erdogan ein Video auf Twitter, in dem er erklärte, dass die Auferstehung der Hagia Sophia als Moschee für die gesamte muslimische Welt, von „Buchara bis Andalusien“, von Bedeutung sei und der „Befreiung“ der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem gleichkomme.
Mevlüt Çavuşoğlu, der türkische Außenminister, behauptet, Griechenland habe kein Recht, sich zu beklagen, da es der einzige Staat in Europa sei, dessen Hauptstadt, in der eine Viertelmillion Muslime leben, keine offizielle Moschee besitzt.
Das religiöse Element steht in direktem Zusammenhang mit der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Kultur der Türkei. Für Türken, die Erdoğan nicht unterstützen, stellt die Umwandlung des Hagia-Sophia-Museums in eine Moschee eine eklatante Zurückweisung Atatürks und seines säkularistischen Erbes dar.
Der türkische Journalist Cemal Göktaş schrieb etwa, dass während des ersten offiziellen Freitagsgebets in der Hagia Sophia zuoberst die Rezitation Fatiha-Sure (die am Ende der muslimischen Beerdigungszeremonie gelesen wird) für den Säkularismus in der Türkei stehen werde.
Erdogans Erklärung soll als nationaler Stimulus in einer Zeit dienen, in der sich die Türkei in einer äußerst prekären politischen und ökonomischen Lage befindet. Die türkische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise, was zum Teil auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist. Politisch hat die Türkei mit dem Kurdenproblem zu kämpfen, steckt im syrischen Sumpf fest, hat sich auf riskante Abenteuer in Libyen eingelassen und schürt Unruhe im östlichen Mittelmeerraum.
Die Hagia Sophia wieder in eine Moschee zu verwandeln, ist nach Ansicht von Erdoğan ein türkischer Sieg und eine Quelle des Nationalstolzes in einer Zeit großer Unruhen.
Türkische Hegemoniebestrebungen
Ein wichtiges Element, das es in dieser Frage zu berücksichtigen gilt, ist die Souveränität. Die Türkei braucht keine weitere Moschee. Sie hat bereits eine Vielzahl von Moscheen. Erst vor einem Jahr wurde die Çamlıca-Moschee von Erdogan auf der asiatischen Seite Istanbuls eingeweiht: ein riesiger Komplex, der mehr als 60.000 Gläubige pro Tag aufnehmen kann. Außerdem hätte die Hagia Sophia per Dekret für islamische Gläubige geöffnet werden können. Tatsächlich haben in dem Museum bereits offizielle muslimische Gebete stattgefunden.
Nicht alle religiösen Bewegungen in der Türkei unterstützen die Umwandlung des Museums in eine Moschee, was beweist, dass die Hagia Sophia mehr als eine religiöse Angelegenheit ist.
Einige Gruppen meinen, dass „das Recht auf Besitz durch das Schwert“ zwar die Legitimität verleiht, die Hagia Sophia in eine Moschee zu verwandeln, es im Gegenzug aber auch nicht-muslimischen Staaten erlaubt, ihre Besetzung muslimischer Heiligtümer zu legitimieren: Israel zum Beispiel könnte mit dieser Argumentation die al-Aqsa-Moschee in eine Synagoge verwandeln, so die Einwände. Andere religiöse Gruppen wiederum erklären, dass die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee das Christentum unnötigerweise herausfordere.
Die Hagia Sophia hat ein großes symbolisches Gewicht. Für das türkische Regime macht die Reetablierung der ehemaligen Kathedrale als Moschee das Rechte der Nation an Gebäuden auf ihrem Territorium geltend.
In der Auseinandersetzung geht es nicht nur um die Frage islamische versus christliche Hegemonie, sondern es geht auch um die islamische Welt selbst. Für Erdogan und Çavuşoğlu ist die Hagia Sophia ein Beweis für die türkisch-muslimische Hegemonie über die muslimische Welt. Ihre Umwandlung in eine Moschee bringt diese Position nachdrücklich zum Ausdruck.
Und auch der Zeitpunkt dieses Schrittes ist mit dem Jahrestag des gescheiterten Putsches vom Juli 2016 wohl keineswegs zufällig gewählt.
Dr. Efrat Aviv ist leitende Dozentin in der Abteilung für Nahost-Studien an der Bar-Ilan-Universität und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Begin-Sadat-Zentrum für strategische Studien. Sie ist die Autorin von “Antisemitismus und Antizionismus in der Türkei: Von der osmanischen Herrschaft zur AKP” (Routledge 2017).
Zuerst erschienen im Jewish News Syndicate unter dem Titel Erdoğan’s ‘holy wisdom’, übersetzt für Mena-Watch von Alexander Gruber.