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Ein arabischer Blick auf das Corona-Virus

In Beirut fordert ein Plakat die Menschen auf, wegen des Corona-Virus zu Hause zu bleiben. (imago images/ZUMA Press)
In Beirut fordert ein Plakat die Menschen auf, wegen des Corona-Virus zu Hause zu bleiben. (imago images/ZUMA Press)

Dem Vorgehen gegen die Corona-Pandemie stehen im Nahen Osten enorme Widerstände entgegen, nicht zuletzt zahlreiche religiöse Überzeugungen und Traditionen.

Obwohl das Corona-Virus mittlerweile ein weltweites Problem darstellt, spielen für die lokalen Verlaufsformen der Pandemie unterschiedliche kulturelle und religiöse Traditionen eine große Rolle. Hilal Kashan, Professor für Politikwissenschaft an der amerikanischen Universität von Beirut, bietet in einem Beitrag auf Geopolitical Futures einige interessante „Arabische Perspektiven auf das Corona-Virus“.

Im arabischen Nahen Osten haben Kashan zufolge lediglich die Golfstaaten rasche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus unternommen. Die restlichen Länder der Region hätten dagegen viel zu lange darauf gehofft, dass der Spuk irgendwie wieder von alleine verschwinden würde, bevor sie nachzogen und ihrerseits Maßnahmen beschlossen – deren Wirkung durch Inkompetenz sowie durch spezifische politische wie religiöse Einflussfaktoren geschmälert werden.

Der Libanon etwa habe sich im Februar geweigert, Flüge aus dem Iran zu unterbinden. Der aus Sicht der Virusbekämpfung notwendige Schritt sei, wie der Gesundheitsminister gegenüber der Presse einräumen musste, schlicht durch das Veto der wahren Macht im Lande verhindert worden: der vom iranischen Regime hochgerüsteten und kontrollierten Hisbollah. Statt also zu tun, was er hätte tun müssen, habe der Minister bar jeder Grundlage der Öffentlichkeit erklärt, der Libanon verfüge über einen Impfstoff gegen das Virus.

Im Gegensatz dazu habe das syrische Regime versucht, die Existenz des Virus eigenen Lande zu leugnen. Der Arzt, der in seinem Spital die erste COVID-19-Erkrankung diagnostiziert hatte, wurde von der Polizei abgeführt und dazu gezwungen, eine „Fehldiagnose“ einzugestehen. Das Gesundheitsministerium wies die Krankenhäuser an, COVID-19-Todesfälle als simple Lungenentzündungen oder Tuberkulosefälle zu verzeichnen.

Der religiöse Faktor

Besonderes Augenmerk widmet Kashan dem negativen Einfluss religiöser Überzeugungen und Traditionen. Viele muslimische Geistliche würden die Virus-Krise vor dem Hintergrund der islamischen Prädestinationslehre interpretieren, die lehrt, dass Allah allein über das Schicksal des menschlichen Lebens entscheidet.

Ohne auch nur einen Funken Verständnis über das Virus und dessen Übertragung zu haben, suchten vor allem sunnitische Geistliche in den Schriften aus der Frühzeit des Islam nach Anleitungen für den Umgang mit der Epidemie. „Leider leben sie in der Gegenwart mit einer Mentalität aus der Vergangenheit.“

Manche glauben, Krankheitsfälle seien Prüfungen des Glaubens. Da dessen Aufrechterhaltung, zu der das gemeinsame Gebet in der Moschee gehöre, wichtiger sei als Schutzmaßnahmen für das Leben Einzelner, sind sie gegen die Schließung von Gotteshäusern. Viele Gläubige sind darüber hinaus davon überzeugt, das Gebet sei spirituell umso bedeutender, je mehr Menschen daran teilnehmen.

Viele traditionelle Muslime verlassen sich voll und ganz auf den Schutz der Gläubigen durch Allah. Für sie ist die Moschee nicht nur ein Ort des Gebets, sondern auch einer der Heilung von Krankheiten, die durch ein sündhaftes Leben hervorgerufen würden. Und mehr noch: „Sie akzeptieren, dass man sich in einer Moschee anstecken kann. Aber wenn das passiert, dann weil Gott es so gewollt habe – und man nichts tun kann, um diesem Schicksal zu entgehen.“

Deswegen würden sie auch keinen Grund sehen, von üblichen Praktiken wie dem Händeschütteln oder von Umarmungen Abstand zu nehmen. Manche setzen sich einem noch größeren Ansteckungsrisiko aus, indem sie die Schreine bedeutender islamischer Persönlichkeiten der Vergangenheit küssen und sich von Klerikern in dem Glauben bestärken lassen, das würde gegen das Virus helfen.

Weit verbreitet sei eine Art religiöser Fatalismus, an dem auch Regierungskampagnen zum Einhalten von Schutzmaßnahmen ihre Grenzen finden würden: Der Glaube an Allah würde eine Immunisierung gegen eine Corona-Infektion bewirken, auch ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten.

Im Kampf gegen das Corona-Virus, so kann man Kashans Ausführungen zusammenfassen, werde einmal mehr deutlich: In der arabischen Welt ist der Islam, der im Gegensatz zum Christentum und zum Judentum noch keinen Reformprozess durchgemacht hat, schlecht aufgestellt, um die Herausforderungen der modernen Welt zu bewältigen.

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