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Der Anschlag in Halle. Protokoll eines Staatsversagens.

Synagoge in Halle (Quelle: Allexkoch, CC BY-SA 4.0)

Der Attentäter von Halle hat seine Morde gefilmt. Die 35 Minuten Video sind eine verstörende Dokumentation rechtsextremen Gedankenguts und polizeilichen bzw.  staatlichen Versagens.

„Hallo, mein Name ist Anon, und ich denke, der Holocaust ist nie passiert. Der Feminismus ist der Grund für die sinkenden Geburtenraten im Westen, die als Sündenbock für die Masseneinwanderung dienen, und die Wurzel für all das ist der Jude.“ Das ist das einleitende Statement zu einer Tat, die von Stephan B. als Massenmord an Juden geplant war. Sein Plan scheiterte nur an seinem eigenen Dilettantismus. Denn niemand war da, der ihn gestoppt hätte.

Er spricht diese Sätze auf Englisch. Auch später wechselt er immer wieder zwischen Deutsch und einem Englisch, wie es im Jargon der Gamer-Szene verbreitet ist. Mit ihnen eröffnet er gleichsam den „offiziellen“ Teil des Videos, vorher beschäftigt er sich vier Minuten lang – immer wieder fluchend – mit seiner Ausrüstung, mit der er offensichtlich nicht zurechtkommt. Dann lacht er, stellt Musik an, hantiert mit einer auf dem Beifahrersitz liegenden Schrotflinte, flucht wieder, parkt aus und fährt los. „Nobody expects the internet SS“, sagt er. Niemand rechnet mit der Internet SS.

Nach einer Minute Fahrzeit erreicht er eine Mauer, welche die Synagoge und den kleinen jüdischen Friedhof umgibt. Er flucht, weil er sieht, dass das Tor zur Synagoge nicht offensteht, und parkt am Straßenrand. Mit dem Gewehr in der Hand geht er die wenigen Meter zur Tür, bekommt sie nicht auf, schießt, die Tür hält stand. Ein Radfahrer fährt vorbei und schaut direkt in die Kamera. Stephan B. geht zurück zum Auto, kramt in den Waffen und selbst gebastelten Handgranaten herum. Eine Schrotflinte lehnt er an die Mauer. Er versucht, ein anderes Tor zu sprengen, auch dieses hält.

Eine Frau, die später als Jana Lange identifiziert werden wird, kommt vorbei. Sie sieht den Mann, der eine Waffe auf sie richtet, aber sie erfasst offensichtlich nicht, was hier vor sich geht. „Muss das sein, wenn ich hier langgehe? Mann, ey!“ Ruft sie ihm ärgerlich zu und geht ungerührt an ihm vorbei. Er schießt sie von hinten nieder. Vier Schüsse. Ihr Körper fällt leblos auf die Straße, unmittelbar neben das Auto ihres Mörders.

Er geht wieder zur Eingangstür zurück, seine Waffe klemmt. Er bekommt die Tür nicht auf, geht fluchend zurück zum Wagen zurück, feuert eine Salve auf den leblosen Körper. Er jammert, weil er dabei seinen eigenen Reifen zerschossen hat. Die Schrotflinte lehnt noch immer an der Mauer.

Über das Nachbarhaus gelangt er in einen Innenhof, doch die Mauer zum Grundstück der Jüdischen Gemeinde ist für ihn unüberwindbar. Er geht wieder zum Auto. Dort ist ein Mann aus seinem Lieferwagen ausgestiegen, blickt auf den Leichnam der Ermordeten, sagt offensichtlich irgendwas. „Wie bitte?“, brüllt Stephan B. ihn an und richtet die Waffe auf ihn. Man hört es klicken, offenbar rettet nur eine Ladehemmung dem Mann das Leben, der dann in seinen Lieferwagen steigt und davonfährt.

Stephan B. geht wieder zur Eingangstür der Synagoge, schießt mehrmals, tritt dagegen, sie hält noch immer. „Scheiße, Mann!“ Stephan B. gibt auf und verstaut fluchend seine Waffen im Wagen. Er braucht etwas Zeit, um einzusteigen, weil der Leichnam der Frau die Fahrertür blockiert. Schließlich schafft er es.

Wo bleibt die Polizei?

7 Minuten sind vergangen, seit der Radfahrer dem bewaffneten Attentäter ins Gesicht gesehen hat. Fünf Minuten, seit die Frau tot auf der Straße liegt. Fünf Minuten, in denen Autos und Radfahrer an ihr vorbeifahren, Passanten auf der anderen Straßenseite an ihr vorbeigehen.

Kein Polizist, keine Sirene, nichts. Der Attentäter, in Kampfmontur und schwer bewaffnet, bleibt völlig unbehelligt.

Die Fahrt zum Dönerladen dauert trotz eines kurzen Zwischenstopps wegen des zerschossenen Reifens nur eine Minute. Der Attentäter geht über eine vielbefahrene Straße, feuert Schüsse ab. Eine alte Frau am Stock blickt ihn verdutzt an. Er betritt den Laden. Die Live-Übertragung dauert jetzt schon 16 Minuten. Ein Mann flieht in hintere Räumlichkeiten, einer kauert in der Ecke, ein anderer versteckt sich hinter Getränkeautomaten und kann später ebenfalls in den hinteren Bereich fliehen. Man hört einen Mann um sein Leben flehen, vermutlich den, der in der Ecke kauert. Ein Schuss. Der Mann, der später als Kevin S. identifiziert werden wird, ist still.

Stephan B. geht im Laden herum und tritt auf die Straße. Wieder blickt ein Radfahrer direkt in die Kamera. Autos fahren vorbei. In voller Kampfmontur geht der Schwerbewaffnete zurück zum Auto, kramt in seinen Waffen. Ein Fußgänger sieht ihn an. Der Attentäter sitzt im Auto, flucht über seine Schrotflinte und greift zu einem anderen Gewehr. Dann biegt in die Straße ein, an der der Dönerladen liegt. Er wendet den Wagen, hält kurz vor dem Laden und geht dorthin zurück. Er schießt zweimal auf einen jungen Mann, der vor ihm davonläuft, verfehlt ihn. Zurück im Laden feuert er noch dreimal auf den Leichnam des Mannes, den er zuvor erschossen hat.

Als er wieder in sein Auto steigt, ist noch immer keine Polizei zu sehen. 8 Minuten, nachdem er den Laden betreten und seinen zweiten Mord begangen hat. 18 Minuten nach dem Beginn des Anschlags auf die Synagoge sieht Stephan B. den ersten Polizisten.

Deutschland hat ein Sicherheitsproblem

Deutschland ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, seine Bürger zu schützen. Nicht vor Terroranschlägen von Islamisten, nicht vor Terroranschlägen von Rechtsextremen, nicht vor Gewalttaten von Migranten vor allem gegen Frauen. Allen drei Tatgruppen ist gemeinsam, dass sich das Land zwar im Anlassfall in betroffenen Posen gefällt, aber nicht willens ist, mit aller Entschlossenheit von Polizei und Justiz dagegenzuhalten. Und sich scheut, die Dinge beim Namen zu nennen.

Eine Woche vor dem Anschlag in Halle versuchte ein Syrer unter ‚Allahu Akbar‘ und ‚Fuck Israel!‘ Rufen mit einem Kampfmesser in eine Berliner Synagoge einzudringen. Am nächsten Tag war er wieder auf freiem Fuß, es sei keine Gefahr im Verzug, meinte die Staatsanwaltschaft. Am Montag hat ein Islamist in Limburg mit einem Lkw neun Menschen verletzt. Die tagesschau bezeichnete den mutmaßlichen Terroranschlag als „LKW-Vorfall“.

Heute gleichen so manche Tweets und Posts von Rechten dem notorischen „das hat nichts mit dem Islam zu tun“ wie ein Ei dem anderen. Hier der „Einzeltäter“, dort der „psychisch Kranke“.

Ja, Stephan B. war nicht in einer Kampfeinheit organisiert. Aber auch Einzelgänger agieren nicht im luftleeren Raum. Die ideologischen Netzwerke von Rechtsextremen im Internet stehen denen von Jihadisten nicht nach. Stephan B. hat sich seine Wahnwelt nicht allein ausgedacht.

Der islamische Antisemitismus hat den rechten und linken Antisemitismus nicht ersetzt, er ist dazugekommen. ‚Jude‘ ist wieder ein Schimpfwort an deutschen Schulen. Die Diffamierung Israels ist auch in so genannten Qualitätsmedien und den öffentlich-rechtlichen Sendern an der Tagesordnung. Übergriffe gegen Juden werden als Israelkritik verharmlost.

Deutschland hat ein massives Sicherheitsproblem auf allen Ebenen. Bei fast allen Anschlägen, Morden und Übergriffen durch Islamisten und Migranten in der jüngeren Zeit waren die Täter amtsbekannt. Exzessive Gewalttaten von Neonazis, Skinheads und anderen Rechtsextremen kennen wir seit mehr als zwei Jahrzehnten. Die jüdische Gemeinde von Halle hat immer wieder um Schutz gebeten. Er wurde ihr verweigert.

So grauenvoll das Video des Mörders von Halle auch ist: Noch erschreckender ist die Tatsache, wie viel Zeit ein weniger dilettantischer Terrorist gehabt hätte, sein Werk ungestört zu vollenden. Dass man am helllichten Tag schwer bewaffnet und in Kampfmontur auf offener Straße um sich schießen kann, ohne einem Polizisten auch nur zu begegnen, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. Ein erfolgreicher Anschlag auf eine Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag wäre das größte Massaker an Juden auf deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen.

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