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Na klar, an Jeremy Corbyns Wahlniederlage sind die Juden schuld

Jeremy Corbyn (mi.) und der Filmregisseur Ken Loach (re.)
Jeremy Corbyn (mi.) und der Filmregisseur Ken Loach (re.) (© Imago Images / I images)

Während Kritiker in der Labour Party den Parteiführer für den Ausgang der Wahlen verantwortlich machen, haben Corbyn-Sympathisanten eine andere Erklärung parat.

Wer ist schuld daran, dass die britische Labourpartei bei den Unterhauswahlen so schlecht abgeschnitten hat wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Die meisten sagen: Parteiführer Jeremy Corbyn.

Dies erfuhr der Labour-Abgeordnete Neil Coyle während des Wahlkampfes in seinem Wahlkreis Bermondsey and Old Southwark im Raum London mit eigenen Ohren. Coyle und sein Team sprachen mit 10.000 Wahlberechtigten und machten über jedes Gespräch Notizen. „Die beiden Gründe, die von denen, die sich gegen Labour entschieden, am häufigsten genannt wurden, waren ihre Brexit-Politik und die Abneigung gegen ihren Vorsitzenden.

„Die Abneigung gegen Corbyn kam zuerst“, sagt Coyle, der seinen Sitz bei den Wahlen erfolgreich verteidigen konnte. Phil Wilson, ein Labour-Abgeordneter, der im ehemaligen Bergarbeiterbezirk Sedgefield im Nordosten Englands einen Sitz verlor, der seit Generationen von seiner Partei gehalten worden war, sagte:

„Wenn du an von Tür zu Tür gehst, und eine Person erwähnt den Brexit, während fünf andere Leute den Vorsitzenden der Labourpartei als Grund nennen, warum sie nicht für dich stimmen werden, dann muss sich etwas ändern. Ich denke, der Vorsitzende der Labourpartei sollte zurücktreten, er hätte schon vor langer Zeit zurücktreten sollen.“

Die Juden sind schuld

Doch wie bei allen historischen Ereignissen gibt es eine alternative Erklärung, die lautet: Die Juden sind schuld. So sehen es linksgerichtete Sympathisanten Corbyns wie etwa der frühere Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, der Filmregisseur Ken Loach, der Vorsitzende der französischen Partei La France Insoumise (LFI) und ein britischer Beiträger von Electronic Intifada.

Livingstone, der 2017 sagte, Hitler habe „den Zionismus unterstützt, ehe er verrückt wurde und sechs Millionen Juden tötete“, glaubt seit langem, die Belege für den Antisemitismus in der Labourpartei seien „Lügen und Schmutz“. Juden würden Labour angeblich nicht wählen, „weil sie reich sind“, behauptete er 2012. Im Frühjahr 2019 sagte er, es sei „nicht antisemitisch“, „die Juden Israels zu hassen“. Nun machte Livingstone seine Analyse der britischen Unterhauswahlen öffentlich: „Das jüdische Votum war nicht sehr hilfreich.“

Die Boulevardzeitung The Sun berichtete, Livingstones Kommentar habe zu „Empörung in den sozialen Medien” geführt, viele hätten ihn so verstanden, dass er „der jüdischen Gemeinde die Schuld an der vernichtenden Niederlage der britischen Labour Party gibt“. Es ist wohl schwierig, die Aussage anders zu verstehen.

Ken Loach: „Corbyn ist ein Mann des Friedens“

Viele jüdische, aber noch mehr nichtjüdische Labourmitglieder hatten vor der Wahl gesagt, dass Labour für sie wegen Corbyn unwählbar sei; eine Gruppe ehemaliger Labourabgeordneter hatte sogar in einer großflächigen Zeitungsanzeige vor der Wahl Corbyns gewarnt. Livingstone sieht den Grund der Wahlniederlage nicht darin, dass Corbyn bei der Mehrheit der Briten auf Ablehnung stößt, sondern in dem von ihm gemutmaßten Abstimmungsverhalten der 0,5 Prozent der Briten, die jüdisch sind.

Ähnlich sieht es der Filmregisseur Ken Loach, der sich in einem Interview mit dem Fernsehsender BBC über die Gründe der Wahlniederlage äußerte. Auf die Frage, wie er sich angesichts des Wahlergebnisses fühle, sagte Loach, er fühle „Wut darüber, dass Jeremy einen Strom von Beleidigungen erlebt hat – jeder Labour-Führer wird beleidigt, aber nicht in diesem Ausmaß.”

Corbyn sei „ein Mann des Friedens, der als ‚Terrorist’ bezeichnet wird“. Es habe eine „Kampagne“ der „Antisemitismus-Anschuldigungen“ gegeben, die „unabhängig davon, was er getan hat, immer weiter gehen wird“. Zwar gebe es Antisemitismus in der Labourpartei „so wie in anderen Parteien und der Gesellschaft“, aber er sei in einer konzertierten „Kampagne“ als „Waffe“ benutzt worden – das sähen angeblich auch Juden so.

Eine jüdische Pro-Corbyn-Splittergruppe

Auf den Einwand der Interviewerin, dass die jüdische Parteiorganisation Jewish Labour das nicht so sieht, erwiderte Loach, er beziehe sich auf Jewish Voice for Labour (JVL). JVL ist eine Pro-Corbyn-Splittergruppe, deren hauptsächlicher Existenzzweck es ist, Antisemiten in der Partei Rückendeckung zu geben und die These zu verbreiten, es sei ein „Mythos“, dass Antisemitismus in der Labourpartei verbreitet sei. Bei einer Anti-Israel-Demonstration im April 2018 sagte JVL-Generalsekretär Glyn Secker in seiner Rede:

„Hier ist eine Warnung an die jüdische Führung. Indem ihr eure Kampagne der Vorwürfe des Antisemitismus gegen Corbyn und die Linke vorantreibt, um Israels Kritiker zum Schweigen zu bringen, während ihr Monat für Monat, Jahr für Jahr in der Labour-Partei ‚Wolf’ ruft und blind bleibt für die explosionsartige Ausbreitung des Rechtsradikalismus und der Islamophobie, seid ihr nicht Teil der Lösung – ihr seid Teil des Problems.“

Im Hinblick auf die von ihm unterstellte Allianz von Juden und Rechtsradikalen fragte Secker unter dem Beifall der Anti-Israel-Demonstranten: „Was um alles in der Welt tun Juden in der Gosse?“

JVL sei „nicht repräsentativ für die jüdische Gemeinde als ganze“, hielt die BBC-Moderatorin Ken Loach vor, woraufhin dieser erwiderte: „Es sind Leute in der Labour-Partei, die jüdisch sind.“

Als die BBC im Juli eine „Panorama“-Dokumentation über den Antisemitismus in der Labour-Partei ausstrahlte, in der zahlreiche Labour-Mitglieder zu Wort kamen – darunter einfache Parteimitglieder, aber auch Abgeordnete und langjährige Mitglieder der Streitschlichtungskommission – sprach Loach von „Propaganda“, die von Leuten „gekauft“ sei, „die Corbyn zerstören wollen“.

Auch Mélenchon bezichtigt Juden

Auch Jean-Luc Mélenchon, der Vorsitzende der französischen Partei La France Insoumise, machte die Juden für Corbyns Wahlniederlage verantwortlich – und zwar auch Juden in Frankreich. Die deutsche Wochenzeitung Jüdische Allgemeine berichtet:

„Der Vorsitzende der linken Bewegung La France insoumise (LFI), Jean-Luc Mélenchon, hat Labour-Chef Jeremy Corbyns Niederlage bei den britischen Unterhauswahlen vergangene Woche unter anderem damit erklärt, dass dieser sich nicht gegen den ‚grotesken Vorwurf’ des Antisemitismus verteidigt habe, sondern sich stattdessen trotz der ‚diversen Einflussnetzwerke des Likud’ auch noch entschuldigt habe. Ihm (Mélenchon) sei wichtig, dass man angesichts ‚der Arroganz und der Zarenerlasse der kommunaristischen Organisationen wie dem CRIF’ nicht einfach in den Staub falle.’

Der CRIF (Conseil représentatif des institutions juives de France) ist der Dachverband der jüdischen Organisationen Frankreichs. Dessen Präsident Francis Kalifat nannte Mélenchons Äußerung ‚inakzeptabel’. Sie seien ‚Teil einer sowohl schockierenden als auch erstaunlichen Vermischung: Welche Verbindung besteht zwischen CRIF und den britischen Wahlen?’ Mélenchons Worte sagten viel ‚über die Entwicklung seines Denkens’.

Electronic Intifada: “Hexenjagd” gegen Corbyn und Bernie Sanders

Auch in einem Kommentar für den der Terrororganisation PFLP nahestehenden Blog Electronic Intifada schreibt der Autor Asa Winstanley, seit Corbyns Wahl zum Parteivorsitzenden vor vier Jahren sei „Corbyns neue Labourpartei“ einer „beispiellosen Schmierenkampagne“ ausgesetzt gewesen.

Winstanley ist selbst ein suspendiertes Labour-Mitglied und hatte Jewish Labour im März „Sabotage“ der Partei vorgeworfen, weil die Organisation die Gleichheits- und Menschenrechtskommission (EHC) mit einem Dossier unterstützt. Wegen des Antisemitismus in der Labour-Partei hat die EHC, die eine staatliche Behörde ist, eine Untersuchung eingeleitet. Winstanley fährt fort:

„Ja, natürlich, in einer Massenbewegung mit einer halben Million Menschen gibt es unvermeidlich ein paar mit reaktionären Ansichten. Doch die Idee, dass Corbyns Labour-Partei ein einzigartiges Problem mit Antisemitismus habe, war immer eine absichtliche Schmierenkampagne. Es gibt einfach keine Beweise dafür.“

Das sagt er, obwohl niemand anderer als Corbyn selbst im Juli 2019 zugeben musste: „Die Beweise sind klar genug.“ Unter den „schlimmsten Fällen von Antisemitismus“ in der Partei, so Corbyn, seien„Holocaustleugnung, krude Stereotypen über jüdische Bankiers, Verschwörungstheorien, die Israel für 9/11 oder die Rothschild-Familie für jeden Krieg verantwortlich machen und sogar ein Mitglied, das zu glauben schien, Hitler sei missverstanden worden.“

Dessen ungeachtet warnt Winstanley, eine solche „Hexenjagd“ – hinter der er u.a. britische und israelische Geheimdienste vermutet – könne sich in den USA wiederholen. Die Überschrift seines Artikels lautet: „Lasst die Verleumder, die Corbyn versenkt haben, nicht auch Bernie Sanders zugrunde richten.“

Die Denkungsart von Loach, Livingstone, Mélenchon und Winstanley ist: Wenn jemand wie Corbyn eine Wahl gewinnt, zeigt dies, dass er die überwältigende Unterstützung des Volkes und der Arbeiterklasse hat; verliert er, haben Juden gegen ihn intrigiert. Auf Twitter teilte Winstanley mit seinen 26.000 Followern ein Video, das Livingstone, offenbar in dessen Wohnzimmer, vor einem geschmückten Weihnachtsbaum zeigt. Livingstone sagt darin:

„Von all meinen jüdischen Freunden, die in der Labour-Partei sind, kann sich kein einziger daran erinnern, dass es in seiner gesamten Zeit der Parteimitgliedschaft jemals einen antisemitischen Vorfall gegeben hätte.“

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