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Türkei: Noch 243 schlaflose Nächte für Erdoğan

Nach momentanem Stand der Dinge würde Erdogan die Wahl verlieren
Nach momentanem Stand der Dinge würde Erdogan die Wahl verlieren (© Imago Images / ZUMA Wire)

Dem türkischen Präsidenten stehen bis zu den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unruhige Zeiten bevor, denn seine Wiederwahl ist alles andere als gewiss.

Burak Bekdil

Recep Tayyip Erdoğan, der islamistische Präsident der Türkei, ist unbesiegbar, seit er vor drei Jahrzehnten die politische Bühne betreten hat. Im Jahr 1994 wurde er zum Bürgermeister von Istanbul, der größten Stadt der Türkei, 2002 zum Premierminister und 2014 zum Präsidenten der Türkei gewählt. Seit 2002 hat er keine einzige Parlaments-, Kommunal- oder Präsidentschaftswahl verloren. Die Traumgeschichte könnte jedoch im Juni 2023 zu Ende sein, wenn die Türken bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen doppelt abstimmen.

Die Türken leiden. Nach den Ergebnissen des Meinungsforschungsinstituts Optimar sind 76,6 Prozent der Türken der Meinung, dass Inflation und Arbeitslosigkeit ihre größten Probleme sind. Das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von seinem Höchststand im Jahr 2013 von 958 Mrd. auf 815 Mrd. Dollar im Jahr 2021 gesunken, wodurch das BIP pro Kopf von 12.615 auf 9.587 Dollar gesunken ist. Die offizielle jährliche Inflationsrate kletterte im August auf ein neues 24-Jahres-Hoch von achtzig Prozent, obwohl ENAG, ein unabhängiges Forschungsinstitut, die tatsächliche jährliche Inflationsrate für denselben Zeitraum auf 181 Prozent schätzt.

Momentan keine Mehrheit für Erdogan

Jüngste Untersuchungen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Yöneylem Sosyal Araştırmalar Merkezi haben ergeben, dass der drastische wirtschaftliche Abschwung, der eine direkte Folge von Erdoğans Missmanagement und außenpolitischen Fehlern ist, welche die Türkei isoliert haben, möglicherweise das bewirkt, was seinen politischen Gegnern bisher nicht gelungen ist.

Die Umfrage ergab, dass, würde morgen gewählt werden, Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) landesweit 29,5 Prozent der Stimmen erhalten würde und damit zum ersten Mal hinter der größten Oppositionspartei Republikanische Volkspartei (CHP) läge, die 29,7 Prozent erhalten würde. Erdoğans politischer Verbündeter, die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), erhielte lediglich 6,4 Prozent der Stimmen, womit sich die Unterstützung für das Regierungsbündnis auf 35,9 Prozent erhöhen würde. Der Hauptverbündete der CHP, die Partei der Guten (IYI), erhielte 13,5 Prozent, womit die Oppositionspartei auf 43,2 Prozent käme.

Die Yöneylem-Umfrage ergab außerdem, dass 63 Prozent der Befragten der Meinung sind, die Türkei werde »schlecht regiert«; 58,7 Prozent sagen, sie würden »niemals für Erdoğan stimmen«. Nur 33,3 Prozent der Befragten gaben an, für Erdoğan zu stimmen, während 55,6 Prozent für den Kandidaten der Opposition stimmen würden. Die Zahlen sagen einen leichten Sieg für die Opposition und eine historische Niederlage für Erdoğan voraus. Es ist klar, dass 2023 die erste Wahl seit 2022 sein wird, bei der Erdoğan nicht der klare Favorit ist. Eine reibungslose, demokratische Machtübergabe ist jedoch unwahrscheinlich.

Sechs Oppositionsparteien, CHP, IYI und vier kleine Gruppierungen mit unterschiedlichen Ideologien, haben sich zusammengeschlossen, um einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten gegen Erdoğan aufzustellen. Der wahrscheinlichste Kandidat wird der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu, ein Sozialdemokrat, sein, obwohl der Oppositionsblock noch keinen Kandidaten bekannt gegeben hat. Verschiedene Meinungsumfragen sehen Kılıçdaroğlus Zustimmungswerte weit unter jenen von Erdoğan. Obwohl der Oppositionsblock geeinter zu sein scheint als jemals zuvor unter Erdoğans Herrschaft, zeigt das Bündnis auch Anzeichen von Fragilität. Zwei Parteien in der Opposition sind ehemalige enge Verbündete von Erdoğan, ein ehemaliger Premierminister und ein stellvertretender Premierminister. Ein Verbündeter ist ideologisch islamistisch geprägt.

In diesem komplexen Bild wird die kurdische Minderheit der Türkei, die elf bis dreizehn Prozent der nationalen Wählerschaft stellt, wahrscheinlich der Königsmacher sein. Erdoğans ultranationalistische (und antikurdische) Politik hat die kurdischen Wähler von seiner AKP entfernt, obwohl islamistische Kurden immer noch dazu neigen, für ihn zu stimmen.

Erdoğan wird nicht kampflos untergehen. Und dieser »Kampf« kann viele unangenehme Szenarien beinhalten. Einige kleine Hit-and-Run-Operationen gegen kurdische Ziele in Nordsyrien können von den von Erdoğan kontrollierten Medien, das sind neunzig Prozent aller Medien, als heroische Militärgeschichten dargestellt werden. Viel Gebell, aber kein wirkliches Beißen über der Ägäis könnte türkische Schlagzeilen machen und nationalistische Türken dazu bringen, auf ihren Präsidenten stolz zu sein. Eine neue Spirale von Terroranschlägen könnte den Türken das Gefühl geben, sich hinter ihren Präsidenten stellen zu müssen. Milliarden von Dollar, die inoffiziell aus befreundeten Ländern wie Katar und Russland in die türkische Wirtschaft fließen, könnten den hungernden Türken das Gefühl geben, dass es ihnen bald besser gehen wird.

Andererseits könnte Erdoğan versucht sein, die Wahlergebnisse zu manipulieren, was er bei den kritischen Kommunalwahlen 2019 getan hat, als ein Oppositionskandidat das Bürgermeisterrennen in Istanbul mit einem Vorsprung von 13.000 Stimmen gewann. Erdoğan erklärte das Wahlergebnis für ungültig und ordnete eine Wiederholung der Wahl an, bei der Oppositionskandidat Ekrem Imamoğlu mit einem Vorsprung von 800.000 Stimmen gewann.

Einige Annahmen

Was wird in der Türkei nach Juni 2023 geschehen? Es ist zu früh, das zu sagen. Aber ein paar sicher scheinende, unschuldige Überlegungen können nicht schaden.

Erdoğan ist als politische Marke viel stärker als seine Partei, die AKP. Gäbe es morgen Wahlen, würden AKP und MHP ihre parlamentarische Mehrheit höchstwahrscheinlich an die Oppositionsparteien verlieren. Die entscheidende Frage ist: Was passiert, wenn Erdoğan die Präsidentschaftswahlen gewinnt, die AKP und ihre Verbündeten aber ihre Mehrheit im Parlament verlieren? Die Antwort ist: Chaos. Erdoğan wäre nicht in der Lage, im Parlament Gesetze zu verabschieden. Er kann versuchen zu regieren, indem er Dekrete erlässt, was aber nicht von Dauer sein wird. Er würde zu Neuwahlen gezwungen werden.

Eine noch kritischere Frage: Was passiert, wenn Erdoğan die Präsidentschaftswahlen knapp verliert und AKP und MHP ihre parlamentarische Mehrheit verlieren – ein totales Ende der Ära Erdoğan, mit anderen Worten? Ein Beinahe-Bürgerkrieg?

Erdoğans gewalttätige Loyalisten werden die Niederlage auf ein ausländisches Komplott schieben und CIA, Mossad und andere beschuldigen. Sie werden auf die Straße gehen und den Feind – säkulare, gegen Erdoğan eingestellte Türken – angreifen. Die AKP verfügt über Millionen militanter Parteimitglieder im ganzen Land, die unter institutionellen Namen wie den Osmanischen Herden organisiert sind. Sie ist auch eng mit dem militärischen Auftragsunternehmen SADAT verbunden, das von pensionierten islamistischen Offizieren gegründet wurde. SADAT wird häufig beschuldigt, paramilitärische Gruppen in Syrien und Libyen auszubilden.

Erdoğan bereitet sich schon lange auf das Weltuntergangsszenario vor. Im Oktober 2016 erließ das türkische Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) ein Rundschreiben zur Bildung von »Jugendabteilungen«, die zunächst in 1.500 Moscheen gegründet und später den Zehntausenden Moscheen des Landes angeschlossen werden sollten. Der Plan sieht vor, dass bis zum Jahr 2021 20.000 und schließlich 45.000 Moscheen über solche Jugendabteilungen verfügen. Säkulare Türken befürchteten, die Jugendverbände könnten sich zu Erdoğans »Moschee-Miliz« entwickeln, ähnlich wie die Hitlerjugend in Nazideutschland.

Wie auch immer, in jedem Szenario nach dem Juni 2023 sieht die Türkei wie ein langsam sinkendes Schiff aus.

Burak Bekdil, einer der führenden türkischen Journalisten, ist nach 29 Jahren von der renommiertesten Zeitung des Landes entlassen worden, da er kritisch über die türkische Entwicklung unter Präsident Erdogan berichtete. Er ist Fellow beim Middle East Forum. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Gatestone Institute. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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