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„Die Öffnung Marokkos ist noch nicht überall in der Gesellschaft angekommen“

Eine internationale Veranstaltung in Essaouira widmete sich der Geschichte des jüdischen Rechts in Marokko. (© Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.)
Eine internationale Veranstaltung in Essaouira widmete sich der Geschichte des jüdischen Rechts in Marokko. (© Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.)

Eine Veranstaltung in Essaouira zeigt: In Marokko finden Veränderungen statt, die aber mancherorts noch auf Widerstand stoßen.

Marokko besinnt sich seiner jüdischen Geschichte und Gegenwart. Nachdem im Dezember bekannt geworden war, dass die jüdische Geschichte Marokkos ab dem nächsten Schuljahr Thema marokkanischer Schulbücher für Schüler der 4. Klasse sein wird, fand vom 11. bis zum 14. Februar im marokkanischen Essaouira eine Veranstaltung zur Geschichte des jüdischen Rechts in Marokko statt. Essaouira, die „weiße Stadt am Atlantik“, hat 85.000 Einwohner und ist vor allem für seine malerische Altstadt, die Medina, berühmt. Schirmherr der Veranstaltung war André Azoulay, ein jüdisch-marokkanischer Berater von König Mohammed VI.

Vorgestellt wurde ein Buch mit dem Titel Wenn Marokko seiner Vielfalt Bedeutung verleiht: Die Singularität des hebräischen Rechts in Marokko. Es enthält neben wissenschaftlichen Beiträgen auch Auszüge aus Reden und Botschaften von König Mohammed VI., etwa seine Rede vor der Unesco-Veranstaltung gegen Rassismus und Antisemitismus, die im September 2018 in New York stattfand und die von Audrey Azoulay, der Tochter von André Azoulay, geleitet wurde. In der von Marokkos Ministerpräsident Saad Eddine El Othman verlesenen Ansprache an die versammelten Vertreter der Staaten sagte der König damals, Antisemitismus sei die „Antithese zur Meinungsfreiheit“. Er enthalte eine „Verneinung des Anderen“, sei ein „Eingeständnis des Scheiterns, ein Armutszeugnis und eine Unfähigkeit zur Koexistenz“ und impliziere „eine anachronistische Rückkehr in eine mystisch verklärte Vergangenheit.“

Mehrtausendjährige Geschichte

Die jüdische Geschichte im Gebiet des heutigen Marokko reicht über 2.500 Jahre bis in die Zeit der Römer und Karthager zurück. Noch 1948, dem Jahr der israelischen Staatsgründung, lebten schätzungsweise 250.000 bis 300.000 Juden in Marokko. Heute sind es noch rund 2.000. Die nach Israel ausgewanderten marokkanischen Juden haben aber eine enge Verbindung zu ihrem Herkunftsland, viele besuchen es im Urlaub oder zu den jüdischen Feiertagen.

Marokko ist das einzige Land der Welt, das innerhalb seines Rechtssystems jüdische Familiengerichte zulässt, die sich mit Angelegenheiten wie Eheschließungen, Scheidungen, Testamenten, Schenkungen und Erbschaften befassen. Die Gerichte wurden in der Zeit des französischen Protektorats geschaffen, haben aber Vorläufer in rabbinischen Gerichten zur Zeit des Sultanats.

Die Veranstaltung in Essaouira fand im Bayt Dakira (Haus der Erinnerung) statt, einem im Dezember 2019 in einer alten Synagoge in der Medina eröffneten Museum für jüdisch-marokkanische Geschichte und Kultur. Organisiert wurde sie gemeinsam vom Bayt Dakira, dem Studien- und Forschungszentrum für hebräisches Recht in Marokko (Centre d’études et de recherches sur le droit hébraïque au Maroc), dem regionalen Kulturförderungsverband Association Essaouira-Mogador und der marokkanischen Vertretung der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).

Zu den Vorträgern gehörten Abdellah Ouzitane, der Gründungspräsident des erwähnten Studien- und Forschungszentrums; Mohammed Rhachi, der Präsident der Mohammed-V.- Universität von Rabat; Farid El Bacha, der Dekan der juristischen Fakultät von Rabat-Agdal, sowie der Landesbeauftragte Marokko der Konrad-Adenauer-Stiftung, Steffen Krüger.

Unter den geltenden Corona-Regeln waren zu der Veranstaltung 20 Teilnehmer zugelassen, die anderen Interessenten konnten sie über einen Livestream verfolgen.

Schüler für Toleranz

Im Publikum vor Ort: Schüler des örtlichen Gymnasiums Lycée qualifiant Akensous d’Essaouira, die Mitglieder des landesweiten Clubs für Toleranz und Koexistenz in Vielfalt sind, der Anfang dieses Jahres in Marokko gegründet wurde. Der Club in Essaouira sei einer von landesweit schon 107 dieser Art, betonte André Azoulay in seiner Rede.

Thema der Veranstaltung in Essaouira war, „wie man jüdische Geschichte und Kultur in Marokko integrieren kann“, sagte Steffen Krüger in einem Telefoninterview mit Mena-Watch. Veranstaltungen wie diese trügen dazu bei, dass die jüdische Geschichte und Kultur Marokkos „sukzessive rezipiert werden“. Krüger weist darauf hin, dass viele marokkanische Israelis eine doppelte israelisch-marokkanische Staatsbürgerschaft besitzen und es auch im israelischen Regierungskabinett zahlreiche marokkanischstämmige Juden gibt (fast jeder dritte israelische Minister hat marokkanische Vorfahren). Auch in der marokkanischen Wirtschaft seien jüdischstämmige Israelis engagiert; als Beispiel nennt Krüger den Restaurantsektor.

„Bindungen der Auslandsmarokkaner jüdischer Religion existieren nach wie vor und sind sehr stark“, so Krüger. „Das sah man auch während unserer Veranstaltungen, die vor Corona stattfanden und darum viel stärker besucht waren. Da kamen auch viele marokkanischstämmige Amerikaner, die Interesse an der jüdischen Geschichte in Marokko haben.“

Über die jüngste Veranstaltung, an der eigentlich auch der marokkanische Erziehungsminister hatte teilnehmen wollen (der aber kurzfristig absagen musste), sei in der marokkanischen Presse ausführlich berichtet worden, so Krüger. Sie habe den ganzen Freitag und den halben Samstag gedauert. Es gab sieben Redner, von denen drei per Video zugeschaltet waren. Die Schüler des Lycée, die im Publikum saßen, seien allesamt Muslime gewesen, sagt Krüger. Jüdische Schüler habe man in Essaouira leider nicht finden können. Drei ältere Juden aus der Stadt seien aber gekommen.

Die Schüler des Clubs für Toleranz und Koexistenz – im Alter zwischen 12 und 17 Jahre – hatten in ihrer Schule ein Projekt veranstaltet, berichtet Krüger, bei dem sie Forschungen über die jüdische Bevölkerung in Essaouira anstellten. Darüber sei in den örtlichen Medien „sehr positiv“ berichtet worden. Auch einen Kunstwettbewerb zum Thema religiöse Toleranz gab es.

Gibt es in Marokko eine Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte und Kultur, frage ich Krüger. „Jein“, sagt er. „Der König ist jemand, der liberal auftritt und das auch fördert. Und André Azoulay ist eine wichtige Person bei dem Thema. Er ist der Vermittler und jemand, der das in der Öffentlichkeit sehr gut repräsentiert.“ Auf der anderen Seite stehe ein „großer Teil der Bevölkerung dem skeptisch gegenüber“, und mit der PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) sei eine islamistische Partei in der Regierung.

Der „Trump-Deal“ wiederum sei in Marokko ein „großes Ereignis“ gewesen, so Krüger. „Da merkte man, dass den meisten Marokkanern die Westsahara nähersteht als Palästina, und darum wurde der allgemein recht positiv aufgenommen.“ Kann man in Marokko als Jude Sympathien für Israel zeigen, oder ist das nach wie vor gefährlich? „Jemand wie Herr Azoulay kann das machen, denn er ist eine herausragende Figur“, sagt Krüger, „Ansonsten aber halten sich die Leute bedeckt.“ Es gebe viele neue Entwicklungen in den Beziehungen der beiden Staaten, wie etwa die direkte Flugverbindung zwischen Tel Aviv und Casablanca. Auch die Politiker tauschten sich aus. Es gebe touristische Projekte, auch auf dem Gebiet der Landwirtschaft wollten Marokko und Israel kooperieren.

Man könnte mit den Worten Krügers also sagen: „Es gibt eine Öffnung, aber die ist noch nicht überall in der marokkanischen Gesellschaft angekommen.“

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