Mansour Abbas’ Partei Ra’am kommt eine Schlüsselrolle bei den in Israel anstehenden Entscheidungen zu. Eine arabische Partei in einer solchen Position ist für das Land ein Novum. Die Implikationen werden umso hitziger diskutiert, als die Partei die Islamische Bewegung repräsentiert.
Seit gut zehn Tagen rechnen Israelis. Sie addieren die Mandate der möglichen Koalitionskonstellationen. Doch egal wie sie zusammengewürfelt werden, eine Mehrheit von 61 Mandaten will einfach nicht herauskommen.
Weder der Anti-Netanjahu-Block noch der Netanjahu-Block scheint um Mansour Abbas’ Vereinigte Arabische Liste (Ra’am) herumzukommen. Wer glaubt, mit Ra’ams vier Mandaten einer ersehnten Mehrheit näherzukommen, stellt jedoch fest: Wie gewonnen, so zerronnen. Diese arabische Partei lässt andere potenzielle Partner zurückrudern.
Auch Abbas trägt dazu bei, dass bislang lediglich klar ist, dass nichts klar ist. Nach der Wahl sagte er, keine Tür zuzuschlagen, und ging, die Rolle seiner Partei sichtlich genießend, auf Tuchfühlung zu fast dem gesamten politischen Spektrum.
Medienspektakel
Dass die vom Ra’am-Chef in Nazareth am Donnerstag angesetzte Presseerklärung von den israelischen Medien zur Hauptsendezeit live übertragen wurde, unterstreicht die Rolle der Partei. Sowohl die jüdische als auch die arabische Gesellschaft lauschte, welche Nachricht aus Israels größter arabischer Stadt kommt.
Als die Berichterstatter vor Ort auf Sendung gingen, verkündete das omnipräsente Grün eine eindeutige Botschaft: Ein Mann der Islamischen Bewegung tritt vor die Kameras.
Botschaften eines neuen Weges
Mansour Abbas machte kein Statement bezüglich seiner Empfehlung zur Regierungsbildung. Dafür übermittelte er mit den präzise gewählten Worten seiner auf Hebräisch gehaltenen Ansprache, während der er lediglich aus dem Koran zitierend ins Arabische wechselte, direkte wie indirekte Botschaften: Koexistenz einer Zivilgesellschaft basierend auf Respekt und Gleichberechtigung „in diesem heiligen Land, das von drei Religionen und zwei Völkern gesegnet ist.“ Seine Partei, so betonte er, stehe ein für „Respekt einer jeden Person, heiligt das Leben und verabscheut Gewalt aus politischen, nationalen wie religiösen Gründen.“
Er räumte ein, dass man sich nicht immer einig sein werde, „doch wenn wir keinen Weg finden, Ignoranz und Rassismus zu besiegen, werden wir der kommenden Generation eine komplexe und gefährliche Realität vermachen.“ Somit appellierte er an Links wie Rechts, „nach vorne zu schauen und die Realität zu ändern.“
Angriffsflächen
Hehre Werte einer pluralistischen Gesellschaft, nicht wahr? Und doch ausgesprochen von einem Mann, der in der Knesset für ein Gesetz stimmte, das Israel die Zwangstherapie von Angehörigen der LGBT-Gemeinschaft gebracht hätte.
Erhabene Worte „unserer Schaffung aus Mann und Frau“ und der zu respektierenden „gemeinsamen Menschlichkeit“ aus dem Mund des Vorsitzenden einer Partei, die von Strömungen des ultraorthodoxen Judentum wegen ihres erzkonservativen Ansatzes in Sachen „Religion und Familie“ zum „glatt-koscheren“ Koalitionspartner erklärt wurde, und die mit Taleb Abu Arar jemanden in die Knesset brachte, der in gesetzwidriger Polygamie lebt.
Ausführungen zu einer gewaltfreien Gesellschaft von einem Mann, der in seiner Studentenzeit zum Gründer der Islamischen Bewegung in Israel sowie der Untergrundorganisation Usrat al-Jihad (Familie des Jihad) engen Kontakt pflegte und auch 40 Jahre später noch das Banner der Muslimbruderschaft schwingt.
Die Tücken seines Weges in der eigenen Gesellschaft
Nicht nur der jüdischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch den Arabern des Landes fällt es schwer, das zu verdauen, was Abbas vorschlägt. Es lässt viele vorsichtig auf Distanz gehen. Nach seiner Rede suchten einige Parteigetreue das Weite, was schlussfolgern lässt: Abbas ist mit seiner Ansprache „an die jüdische Nation auf Hebräisch“ zu schnell einen Schritt zu weit gegangen.
Dass sein Ansatz nicht für die Mehrheit der Araber des Landes spricht, zeigen Reaktionen der Arabischen Liste, aus der sich Ra’am vor der Wahl löste. Trotz Mandatsverlust, errang sie weiterhin mehr Sitze als ihr Ex-Bündnispartner. Aus diesen Kreisen hörte man ähnliche Statements wie aus den Reihen der Palästinensischen Autonomiebehörde: Abbas verrate die „Sache seines Volkes“ des schnöden Mammons wegen.
Abbas’ Appell, zur Lösung der Nöte seiner Gemeinschaft einen neuen Weg einzuschlagen, können dennoch viele etwas abgewinnen. Das zeigen die von Ra’am letztlich errungenen Mandate, auch wenn man Anzeichen einer Angst vor der eigenen Courage erkennen kann. Kein Wunder, versucht er doch gleich mehrere Tabus auszuhebeln: nicht nur eine Abkehr vom kategorischen Nein einer arabischen Beteiligung an einer das jüdische/zionistische Narrativ repräsentierenden Regierung, sondern überdies ein Liebäugeln mit dem rechtskonservativen Spektrum.
Verspricht Tacheles Akzeptanz?
Obwohl Mansour Abbas geflissentlich heikelste Themen umschiffte – darunter Siedlungen, die Zwei-Staaten-Lösung und das Nationalstaatsgesetz –, ging Israels Rechtsaußenflanke nach der Pressekonferenz endgültig auf die Barrikaden. Daran ändert auch nichts, dass sie in Sachen Homophobie Abbas’ beste Freunde sind, mehr noch: Der Ra’am-Vorsitzende hätte nicht das geringste Problem, sich ihrer Forderung nach der Aufhebung der israelischen Annahme von UN-Resolution 1325 zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ anzuschließen.
Allerdings sind Israels Rechtsaußen-Politiker mit ihrem Nein nicht allein, auch andere zeigen Scheu und Misstrauen. Israels Rechte wie Linke kramte alte Geschichten über Verbindungen zur Hamas aus. Spätestens während des Wahlkampfes wurden Verschwörungstheorien geschürt, so z. B., dass hinter Ra’am eigentlich die Hamas stecke, um Netanjahu „als Garant ihrer Gewaltherrschaft im Gazastreifen“ an der Macht zu halten.
Zu Recht hegt das jüdische Israel sicherheitspolitische Bedenken. Und doch: Man sollte nicht über einen Kamm scheren, wie Ayoub Kara anmerkte. Der Knesset-Abgeordnete kann als Druse wie auch als Likudnik wahrlich ein Lied von dem Implikationen von Schubladendenken singen.
In diesem Zusammenhang sollte man zu Abbas’ Antrittsrede als Knesset-Mitglied im Mai 2019 zurückblicken: „Der Islam steht heute vor schwierigen Herausforderungen, Extremismus zu überwinden und den Charakter seiner Werte ebenso wie Mäßigkeit zu wahren.“ Natürlich, Worte und Taten sind zwei verschiedene Schuhe, erst recht, wenn sie aus dem Mund eines Politikers kommen. Dennoch sollte man im Kopf behalten, dass Abbas zwar zur Islamischen Bewegung gehört, jedoch zum ungleich gemäßigteren Ableger Süd, der in keiner Weise mit dem seit 2015 in Israel verbotenen radikaleren Ableger Nord gleichzusetzen ist.
Die Islamische Bewegung Süd repräsentiert überdies eine soziökonomisch arg ringende arabisch-beduinische Bevölkerung, die zu hohen Prozentsätzen für Ra’am stimmte, weil man den neuen Weg austesten möchte.
Das nimmt das jüdische Israel, verwirrt und aufgeschreckt wie es gegenwärtig zu sein scheint, kaum wahr. Das gilt auch für Abbas’ Versuch, schon eine ganze Weile Zeichen zu setzen, wie man sich respektvoll an das Narrativ einer anderen Gesellschaft herantasten kann. Nicht nur seine Knesset-Rede zum Shoa-Gedenktag 2020 verhallte im jüdischen Israel weitestgehend ungehört.
Quo vadis, Mansour?
Mansour Abbas und seine Partei vertreten bezüglich Frauen, Gleichstellung, Familie und sexuell anders Orientierten Werte und Normen, die einer westlich geprägten Demokratie wie Israel nicht gut zu Gesicht stehen. Dass es sich hierbei zudem um eine religiös-fundamentalistische Bewegung handelt, die in Israel einen Feind sieht, ist zweifelsohne nicht nur im schlimmsten Fall der Fälle – im Kriegsfall – bedenklich.
Und doch: Der Staat Israel kennt keine Trennung von Staat und Religion und gewährt der Ultraorthodoxie das Monopol über viele Lebensbereiche. Schon seit Jahrzehnten hat sich Israel damit genauso arrangiert wie mit dem deklarierten Anti-Zionismus dieser Kreise. Anzumerken ist auch: Es war Netanjahu, der auf zwei Hochzeiten tanzte. Er umwarb einerseits die arabische Bevölkerung und andererseits deklarierte Anhänger des Rassismus des früheren Knesset-Abgeordneten Meir Kahane. Das Schlamassel, sich angesichts eines schwachen Likud-Wahlergebnisses mit beiden arrangieren zu müssen, kann nicht Abbas in die Schuhe geschoben werden.
Ob Mansour Abbas’ Rede den Auftakt eines Schwanengesangs in seiner Gesellschaft markieren wird, ist zu bezweifeln, auch wenn es nicht ausschließlich voran gehen, sondern auch Rückschritte geben wird. Ob eine religiös-fundamentalistisch orientierte Partei eine früchtebringende Realpolitik umsetzen kann, wird in nicht geringem Maß von Abbas’ Entscheidung für den einen oder den anderen Block abhängen.
Viele sehen Anzeichen, dass er den eingeschlagenen Weg gradlinig weitergehen könnte, denn nach einer Legitimierung durch Rechtskonservative fällt es noch schwerer, sich ein Zurückfallen auf den Status quo ante vorzustellen.