Israel übernimmt für Europa die Rolle des kollektiven Juden: Es ist das Opfer, an dessen Ablehnung sich die außenpolitische Identität der EU bildet.
Clemens Wergin, Die Welt
Die Worthülsen, die die Europäer für den Nahostkonflikt benutzen, haben sich seit Jahrzehnten nicht geändert. Schließlich hat es einst großer Kraftanstrengung bedurft, gemeinsame Formulierungen zu finden. Die gibt man nicht so einfach auf, selbst wenn sich die Lage vor Ort inzwischen dramatisch geändert hat und der Nahostkonflikt schon lange nicht mehr das Kernproblem der Region ist, wie so viele Europäer noch immer gerne behaupten.
Schaut man sich die lange Geschichte der europäischen Nahostpolitik an, dann wird deutlich, dass Israel zum Opfer der außenpolitischen Identitätsfindung Europas wurde. Wie die Kennzeichnungspflicht für Produkte aus den besetzten Gebieten zeigt, legt die EU dabei einen doppelten Standard an Israel an, der sonst für kein Land in vergleichbarer Lage gilt. Das gilt übrigens auch für die Rechtspositionen europäischer und internationaler Institutionen hinsichtlich des Siedlungsbaus, die so ebenfalls auf keinen anderen Territorialkonflikt angewandt werden, wie Eugene Kontorovich, Professor für Internationales Recht an der George Mason University, in einer Vergleichsstudie nachgewiesen hat. (…)
Ja, es gibt einen israelbezogenen Antisemitismus, den erkennt man gemeinhin an den drei D: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelter Standard gegenüber Israel. Mindestens zwei dieser Kriterien treffen auf die EU und viele ihrer Mitgliedsländer zu. Europa ist zu einem Kontinent geworden, der in Sachen Israel mit den Wölfen heult. Über Jahrhunderte hinweg haben europäische Gesellschaften jüdische Bürger ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt. Deshalb ist es nun doppelt schändlich, wenn Europa sich an der Ausgrenzung des jüdischen Staates auf der internationalen Bühne beteiligt.