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Israel am Schnittpunkt moderner Staatlichkeit und Mythologie

Israel: Errichtung der jüdischen Heimat. Plakat des Palästinensischen Wiederaufbau-Fonds
Israel: Errichtung der jüdischen Heimat. Plakat des Palästinensischen Wiederaufbau-Fonds (Quelle: Public Domain)

Wie der Staat Israel die Beziehung zwischen seiner modernen Realität und den tiefen historischen Wurzeln seiner Mythologie handhabt.

Daniel Schuster

Als Demokratie, die im 20. Jahrhundert im Herzen des Nahen Ostens entstanden ist, ist Israel ein Zeugnis für das Nebeneinander von Antike und Moderne. Ähnlich wie der Olivenbaum – unverwüstlich, tief im Land verwurzelt und doch zum Himmel emporstrebend –, ist Israels moderne Existenz mit seiner mythischen Vergangenheit verwoben. Diese einzigartige Verflechtung prägt das nationale Ethos, die Politik und das kollektive Gedächtnis Israels.

Die Gründung Israels im Jahr 1948 war die Verwirklichung eines zwei Jahrtausende alten Traums. Die Gründung der Nation war nicht nur ein politischer Akt, sondern auch eine symbolische Rückkehr in das Heimatland, das sich durch Geschichten, Rituale und die gemeinsame Geschichte in das jüdische Bewusstsein eingeprägt hatte. Diese Vision der Heimkehr prägt nach wie vor Israels Selbstverständnis und seine Staatlichkeit, indem sie dem Staat die Rolle des »gelobten Landes« zuweist, das an seine rechtmäßigen Erben zurückkehrt.

Jerusalem, die Hauptstadt, ist die physische Manifestation dieser Symbiose. Jerusalem ist nicht nur eine Stadt, sondern auch ein Symbol, das von historischer und religiöser Bedeutung ist. Die vom Zahn der Zeit gezeichneten Steine und der Widerhall alter Erzählungen koexistieren mit dem Flair einer blühenden, modernen Stadt. Die geschäftigen Tech-Start-ups, die lebendige Kulturszene und die demokratischen Institutionen spiegeln eine moderne Vitalität wider, die sich vor dem Hintergrund der alten Geschichte abspielt.

Vergangenheit verknüpft mit Gegenwart

Die Judaistin Yael Zerubavel schreibt in ihrem Buch Recovered roots: collective memory and the making of Israeli national tradition über das kollektive Gedächtnis und seine Bilder: »Die Macht des kollektiven Gedächtnisses liegt nicht in der genauen, systematischen oder ausgefeilten Darstellung der Vergangenheit, sondern in der Schaffung grundlegender Bilder, die eine bestimmte ideologische Haltung zum Ausdruck bringen und verstärken.« Unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung haben sich die israelischen Regierungen diese Synthese aus Mythologie und Moderne als verbindendes Element zunutze gemacht. Die Erzählungen der biblischen Ära, insbesondere die von Figuren wie König David und Josua, werden als Zeugnis der historischen Verbindung des jüdischen Volkes mit dem Land beschworen. 

Die israelische Historikerin Anita Shapira schreibt in ihrem Werk Israel. A History»Seit der ersten zionistischen Siedlung in Palästina war die Bibel eine kulturelle und pädagogische Ressource, die sich in Belletristik, Poesie, Redewendungen und Bibelversen widerspiegelte, die in die gesprochene Sprache eingingen und sie bereicherten. Historische Romane auf der Grundlage biblischer Geschichten, die bereits in der Jischuw-Zeit populär waren, machten die biblische Vergangenheit real.«

Der Staat kultiviert diese Erzählungen aktiv, indem er sie in den nationalen Lehrplan und den öffentlichen Diskurs einfließen lässt und die Kämpfe und Triumphe der Vergangenheit mit den Herausforderungen und Bestrebungen der Gegenwart verknüpft. 

Bereits David Ben-Gurion pflegte diese Gewohnheit und sah den pragmatischen Nutzen für seine Rolle als Premierminister, wie Shapira hervorhebt: »Nach der Staatsgründung wurde die Vergegenwärtigung der biblischen Vergangenheit noch wichtiger. Die Gründung des Staates, der Krieg, die Masseneinwanderung und die Eroberung großer Teile des Landes wurden mit Begriffen aus der Bibel beschrieben: die Einsammlung der Verbannten, die Generation in der Wüste, die Eroberung des Landes zur Zeit Josuas, David und Goliath. Ben-Gurion, der vor der Staatsgründung die Bibel kaum erwähnt hatte, begann nun, sie ausgiebig zu zitieren.«

Die Wiederauferstehung der hebräischen Sprache ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Mythologie und Geschichte in das Gefüge des modernen israelischen Staates integriert wurden. Das Hebräische, einst eine liturgische Sprache, wurde wiederbelebt und in eine dynamische, lebendige Sprache verwandelt. Diese sprachliche Wiedergeburt ist nicht nur eine Frage der praktischen Kommunikation, sondern ein symbolischer Akt, der die Kluft zwischen der alten Geschichte und der Gegenwart überbrückt und eine greifbare Verbindung zwischen den vergangenen Generationen und den modernen Israelis herstellt.

Nicht ohne Spannungen

Auch Israels nationale Feiertage und Gedenkpraktiken spiegeln das Zusammenspiel von Moderne und Mythologie wider. Feiertage wie Pessach, an dem der Auszug aus Ägypten gefeiert wird, oder Yom Ha’atzmaut (Unabhängigkeitstag), an dem die Gründung des modernen Israels geehrt wird, bilden einen Zyklus des nationalen Gedächtnisses, der die Verbindung zwischen alten Überlieferungen und der heutigen Staatlichkeit verstärkt. Durch diese Praktiken webt der Staat die Fäden der Geschichte und Mythologie in das soziale Gefüge ein und schafft so eine gemeinsame Identität, die über die Vielfalt der israelischen Gesellschaft hinausgeht.

Ebenso spielt die Archäologie für die Symbiotik zwischen dem modernen Staat und der antiken Welt eine wichtige Rolle. Anita Shapira schreibt dazu: »Die zentrale Bedeutung der Archäologie bestand jedoch darin, dass sie die Vergangenheit in die Gegenwart verlegte und die historische Kontinuität der Juden im Land Israel bestätigte.« 

Und nicht nur biblische Archäologie war von Relevanz. »Die Begeisterung für die Archäologie beschränkte sich nicht auf Funde, die der Zeit des Ersten Tempels zugeschrieben wurden. Die Ausgrabungen in Masada, welche die Geschichten des Josephus [Flavius] über die gegen die römischen Legionen kämpfenden Rebellen bestätigten, lösten große Begeisterung aus und wurden zu einer Pilgerstätte. Die Entdeckung der Bar-Kokhba-Briefe und der Überreste seiner Soldaten in der judäischen Wüste im Jahr 1960 war ein Ereignis von nationaler Bedeutung.«

Diese Harmonisierung ist jedoch nicht ohne Spannungen und Widersprüche. Der Versuch, historische Erzählungen und religiöse Traditionen mit den Werten einer modernen, demokratischen und vielfältigen Gesellschaft in Einklang zu bringen, führt häufig zu Konflikten, wovon auch die Proteste in Israel der vergangenen Monaten ein Ausdruck sind. Diese Spannungen manifestieren sich in Debatten über das Wesen des Staates, seine Gesetze und seine öffentlichen Institutionen. Sie zeigen sich im Kampf zwischen säkularen und religiösen Gemeinschaften über die Rolle der Religion im öffentlichen Leben und die Interpretation historischer Erzählungen.

Mit der Vergangenheit für die Zukunft

Trotz dieser Herausforderungen bleibt die Schnittstelle zwischen Mythologie und Modernität eine treibende Kraft im nationalen Leben Israels. Es handelt sich dabei nicht um ein statisches Phänomen, sondern um einen dynamischen, fortlaufenden Prozess. Während Israel sich weiterentwickelt und sich neuen Herausforderungen stellt, wird es auch weiterhin dieses empfindliche Gleichgewicht ausbalancieren. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinen Mythen und seiner Geschichte, die Neuinterpretation dieser Narrative im Lichte der zeitgenössischen Realitäten wird ein zentraler Bestandteil des nationalen Diskurses bleiben.

Im Wesentlichen bietet die Beziehung zwischen dem modernen Israel und seiner Mythologie einen einzigartigen Einblick in die Identität und Psyche der jüdischen Nation. Die gemeinsame Geschichte und die mythischen Erzählungen, die in die Strukturen und die Politik des modernen Staates integriert sind, dienen als schöpferische Kraft, die Einheit und Kontinuität in einer sich schnell verändernden Welt fördert. 

Diese einzigartige Verschmelzung untermauert die Widerstandsfähigkeit der israelischen Gesellschaft und prägt ihre Antworten auf die Herausforderungen und Chancen, mit denen sie konfrontiert ist, und zeichnet ein facettenreiches Bild einer Nation, die ebenso sehr ein Produkt ihrer alten Geschichte ist wie ein Gestalter ihres modernen Schicksals.

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