Von Thomas von der Osten-Sacken
Der türkische Präsident propagiert ihn und unzählige Menschen in Europa glauben, er fände längst und ungebremst statt: der sogenannte Geburten-Jihad. Muslimische Frauen bekämen einfach mehr Kinder als nichtmuslimische, in wenigen Jahrzehnten gäbe es deshalb, so nicht massiv interveniert werde, in vielen europäischen Ländern eine muslimische Mehrheit.
Die kinderreiche muslimische Familie, wer kennt diese Bilder aus den Medien nicht, und ein Blick auf das Durchschnittsalter in arabischen Ländern scheint jedem Recht zu geben: Mit Ausnahme Tunesiens liegt das Durchschnittsalter überall in der Region irgendwo um 23, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist jünger als dreißig Jahre. Nur: Erdogans Aufrufe an seine Anhänger, doch bitte mindestens drei Kinder zu gebären, sind in Wirklichkeit Ausdruck einer gewissen Verzweiflung, denn seit Jahren gehen die Geburtenraten in der Westtürkei zurück, während sie im Osten des Landes, in den kurdischen Gebieten gleichbleibend hoch sind.
Auch im Iran leidet das Regime unter den sinkenden Geburtenraten, wie eine Statistik der Weltbank eindringlich zeigt. Bekam im Durschnitt eine iranische Frau im Jahr 1960 noch sieben Kinder, sind es heute 1,68, das heißt, offiziell ist der Iran längst dem Club der schrumpfenden Länder beigetreten.
Sind die Westtürkei und der Iran nur Ausnahmen? Bekommen Muslime nicht trotzdem mehr Kinder als Angehörige anderer Religionen? Dieser Frage nun ging eine Studie der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Europa nach und kam zu dem Schluss, dass diese Behauptung sich statistisch nicht belegen lässt:
„Von den … als ‚Muslimische Staaten‘ aufgelisteten 53 Ländern haben 15 eine Fertilitätsrate unter dem Weltdurchschnitt, sowie 9 von ihnen eine Fertilitätsrate an der Grenze der Bestanderhaltung oder darunter. Diese 15 Länder unterhalb des Weltdurchschnitts stellen rund 610 Mio. der 1,8 Mrd. Muslime, also ein Drittel (34 Prozent) aller Muslime. Dabei zeigen sich, stellvertretend für die 53 Länder, vier Tendenzen: erstens die bereits genannten 15 Länder unterhalb des Weltdurchschnitts, zweitens 15 Länder mit deutlich sinkenden Raten (auf unter 4), drittens 11 Länder mit langsam sinkenden Raten (unter 5) sowie viertens 12 Länder mit kaum sinkenden Raten.“
Vielmehr spielten andere Faktoren ein wichtige Rolle und – mit Ausnahme Afghanistans – befänden sich all diese Länder mit signifikant weiter steigenden Geburtenraten in Afrika, wo die Geburtenrate generell sehr hoch seien:
„Je besser die sozio-ökomische Entwicklung eines Landes ist (dazu gehört u. a. das Einkommen, der Lebensstandard, die Bildung, die Erwerbstätigkeit von Frauen, die geringe Kindersterblichkeit, u. a. m.), desto geringer sind die Geburtenziffern. Nach den Angaben der UN zu den Fertilitätsraten kann auch eine Tabelle erstellt werden, die sich auf die Anteile von Muslimen in den Staaten mit den höchsten Geburtenraten und ihren Anteilen von Muslimen, sowie die Raten der Alphabetisierung von Männern und Frauen, dem Human Development Index (HDI) bezieht. Im HDI werden drei Dimensionen erfasst: Lebenserwartung/Gesundheit, Bildung sowie Lebensstandard. Ein Gesamtwert von unter 0,550 gilt als niedrig.
Sortiert nach den Anteilen der Muslime in der Bevölkerung, zeigt sich, dass es keine 1 zu 1 Zuordnungen gibt, aber die Tendenz, dass von den 16 Ländern mit einer muslimischen Mehrheit (mehr als 50 Prozent) sieben einen Alphabetisierungsanteil der Frauen von unter einem Drittel haben, 12 einen HDI-Wert von unter 0,400 haben – sie gehören also zu den ärmeren Ländern. Aber das ist eben kein ‚Alleinstellungsmerkmal‘ der Länder mit mehrheitlich Muslimen in der Bevölkerung.“
Während sich also die Behauptung, dass Muslime insgesamt mehr Kinder bekämen als Nichtmuslime, nicht belegen lässt, stimmt auch unter Muslimen, dass sehr religiöse Paare mehr Kinder bekommen als weniger religiöse. Diese Aussage aber trifft auf alle Weltreligionen zu und mit ihr hat sich Michael Blume, Autor des sehr lesenswerten Buches „Islam in der Krise: Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ befasst. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt er:
DF: Geburtenrückgang in der islamischen Welt. Das scheint nicht mit unserer Alltagserfahrung zusammenzupassen.
Blume: Ja, es ist tatsächlich so, dass religiöse Menschen im Durchschnitt mehr Kinder haben. Das gilt quer durch alle Religionen. Also zum Beispiel fromme Christen oder fromme Juden haben im Durschnitt deutlich größere Familien als säkulare. Die größten, die kinderreichsten Gemeinschaften sind zum Beispiel die Amish in den USA, das sind Christen, oder die ultraorthodoxen Haredim vor allem in Israel. Und natürlich ist es so: Wir nehmen dann diese Kinderreichen wahr; und wenn dann zum Beispiel Leute sehen, da ist eine Muslimin mit Kopftuch und die hat drei Kinder, dann wird das verallgemeinert.
Wir nehmen nicht wahr: die Muslimin, die schon gar kein Kopftuch mehr trägt, sich vielleicht nicht mehr als Muslimin versteht und gar keine Kinder mehr hat, und das hat tatsächlich massiv zugenommen. Auch in der Familie meiner Frau zum Beispiel kann ich das deutlich sehen. Die Großelterngeneration hatte da noch acht Kinder, die Eltern dann noch drei bis vier und jetzt sind es null bis zwei. Ein massiver Geburtenrückgang. (…) Es ist tatsächlich so, dass sich Familienstrukturen dann durchsetzen, wenn sie kinderreich sind. Das wird dann weitergegeben, über die Generation hinweg. Aber die Gesellschaft verändert sich. Also beispielsweise können sie mit einer Alleinverdiener-Ehe, wo nur der Mann verdient und die Frau zuhause bleibt, in einer Großstadt nicht einmal mehr die Miete bezahlen. Das bedeutet, Familienstrukturen müssen sich auch immer wieder ändern. Wenn sie das nicht tun, entsteht die sogenannte Traditionalismusfalle. Das heißt, dann brechen die Geburtenraten ein. Das ist der Grund, warum auch in Europa sehr traditionelle Gesellschaften wie Polen, Italien oder Griechenland deutlich weniger Kinder haben als zum Beispiel Frankreich oder Schweden. Denn die haben ihre Familienpolitik und ihre Familien modernisiert.
Mit dem Geburten-Jihad, so scheint es zumindest, wird es eher nichts werden. Und schon gar nicht in Europa, wo sich, wie jüngst Studien zeigten, die Mehrheit der Migranten vergleichsweise schnell auf die Herausforderungen ihrer neuen Umgebung einstellt und im Durchschnitt Geburtenraten sinken. Nur, und da sind die Forscher der Studie mit Michael Blume einig: Es ist unbestreitbar, dass überall auf der Welt religiöse Menschen mehr Kinder in die Welt setzten als nichtreligiöse, was heißt, dass generell die Zahl von Kindern religiöser Eltern zunehmen wird. Ebenso wird der Islam weiter die am schnellsten wachsende Religion der Welt bleiben.