Algerien: „Lieder für die Freiheit“

„Lieder für die Freiheit“: Internetkonzert für inhaftierte Mitgleider der algerischen Protestbewegung
„Lieder für die Freiheit“: Internetkonzert für inhaftierte Mitgleider der algerischen Protestbewegung (Screenshot YouTube)

Zum Ausklang des Ramadan fand in Algerien ein „Live“-Konzert für inhaftierte Anhänger der Protestbewegung „Hirak“ statt.

Am Samstagabend, zeitgleich mit dem Beginn des muslimischen Festes Eid al-Fitr am Ende des Fastenmonats Ramadan, wurde auf Facebook und anderen Websites ein fast zweistündiges Konzert unter dem Titel „Lieder für Freiheit“ ausgestrahlt.

Es bestand aus Videos, die mehr als zwanzig algerische Amateurmusiker – hauptsächlich aus der Diaspora – zuvor in ihren Wohnzimmern aufgenommen hatten, und wurde laut der französischen Nachrichtenagentur AFP von Free Algeria organisiert, einer Koordination von Diaspora-Kollektiven aus Frankreich, den USA, der Schweiz, Belgien, Italien und Österreich.

Einige der Musiker begleiteten sich selbst auf der Gitarre oder der Mandoline, andere spielten und sangen zu zweit, manche mit Schlagzeug oder elektronischer Begleitung.

Protestsongs gegen Internetzensur und Repression

„Vorgetragen auf Arabisch, Amazigh (der Sprache der Berber), Französisch oder Spanisch, waren die Rock-, Folk- oder Châabi-Lieder Aufrufe zur Veränderung in der Tradition des chanson engagée“, berichtete AFP.

Der nationale Gesundheitsnotstand im Zuge der Covid-19-Pandemie hatte den Straßenprotesten der im Februar 2019 geborenen Protestbewegung „Hirak“, die seither wöchentlich gegen Korruption und für demokratische Reformen demonstriert hatte, ein jähes Ende bereitet. Doch statt sich nun in Sicherheit zu wähnen, fürchtet sich das Regime jetzt vor Protesten im Internet und ließ zahlreiche Websites, Facebookseiten und Internetradiosender sperren: Ohne Verwendung einer VPN-App – einem Tunneldienst, der den Standort und die IP-Adresse eines Internetnutzers verschleiert – können Internetnutzer in Algerien nicht mehr darauf zugreifen.

Während letztes Jahr Dutzende Algerier ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie auf der Straße demonstriert hatten, stehen nun Facebooknutzer wegen verbotener Meinungsäußerungen vor Gericht. Wie die französische Tageszeitung Le Monde berichtet, wurden in Algerien seit dem 19. Mai fünfzehn Regimegegner zu Haftstrafen verurteilt, darunter drei wegen ihrer Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken.

Laut dem Nationalkomitee für die Freilassung von Häftlingen (CNLD), einer Vereinigung zur Unterstützung von Gefangenen, sei der Aktivist Soheib Debaghi in Algier zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, wegen „Anstiftung zu Versammlungen, Verachtung von Verfassungsorganen und Facebook-Veröffentlichungen, die das nationale Interesse schädigen könnten“.

Zwei weitere Aktivisten der Hirak-Bewegung, Larbi Tahar und Boussif Mohamed Boudiaf, seien nach Angaben der CNLD und des algerischen Zweigs von Amnesty International wegen Facebook-Veröffentlichungen zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ihre Strafe sei von einem Gericht in El Bayadh, südwestlich von Algier, während einer Anhörung per Videokonferenz verhängt worden; die Staatsanwaltschaft habe laut der CNLD drei Jahre Haft gefordert, berichtet Le Monde.

Laut seinem Anwalt, Abdelghani Badi, sei Larbi Tahar der „Verachtung des Präsidenten der Republik” angeklagt, weil er den amtierenden Präsidenten Abdelmadjid Tebboune im Internet als “illegitimen Präsidenten” bezeichnet habe.

In der 180.000-Einwohnerstadt Chlef an der Mittelmeerküste seien zwölf weitere Hirak-Aktivisten zu Haftstrafen zwischen 6 und 18 Monaten verurteilt worden, teilte die CNLD mit. Sie würden strafrechtlich verfolgt, weil sie „die nationale Integrität und Einheit untergraben” und zu „unbewaffneten Versammlungen angestachelt“ – d.h. zu Demonstrationen aufgerufen – hätten.

Ein Staatsanwalt in Aïn Temouchent, einer ebenfalls am Mittelmeer gelegenen Stadt mit 75.000 Einwohnern, habe am Mittwoch vergangener Woche neun Jahre Gefängnis gegen einen anderen Hirakisten, Hicham Sahraoui, gefordert, der insbesondere der „Verachtung von Verfassungsorganen und des Angriffs auf die Person des Präsidenten der Republik” beschuldigt worden sei.

Ein junger Hirak-Anhänger, Walid Kechida, befinde sich seit dem 27. April in der Stadt Sétif ím Nordosten des Landes in Haft, weil er über soziale Netzwerke sogenannte Memes – komische oder satirische Internetbilder – veröffentlicht haben soll, auf denen die Behörden und die Religion verspottet worden sein sollen. Wegen „Verachtung der Verfassungsorgane”, „Beleidigung des Präsidenten der Republik” und Verstoßes gegen „die Vorschriften des Islam” drohen ihm bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Erst Mitte April hatte das algerische Parlament die Zensurgesetze des Landes verschärft.

Aus für Satire-Website

Ein prominentes Internetorgan des Protests in Algerien hat unterdessen kapituliert. Die satirische Website El Manchar (Die Säge), die mehrere Hunderttausend Leser hatte, hat Mitte Mai den Betrieb eingestellt.

El Manchar war 2013 von dem damals 28-jährigen Apotheker Nazim Baya zunächst als Facebookseite gegründet worden und veröffentlichte Cartoons sowie satirische Texte im Stile echter Pressemeldungen.

Nun sind nicht einmal alte Artikel mehr auf der Website abrufbar, dort steht nur noch der kurze Text:

„El Manchar, das ist vorbei. Wir werden uns bald in einem besseren Algerien wiederfinden. Oder nicht.“

„Wir wurden von den Behörden nicht zensiert oder blockiert”, teilte die Redaktion von El Manchar kurz darauf auf ihrer Facebookseite mit, so die französische Tageszeitung Le Figaro (die Facebookseite selbst existiert ebenfalls nicht mehr).

„Das Klima der Unterdrückung der Freiheiten und die Inhaftierung von Bürgern wegen ihrer Aktivitäten in sozialen Netzwerken haben uns veranlasst, über die Risiken nachzudenken, die wir eingehen.”

In Anspielung auf das „neue Algerien“, das Präsident Abdelmadjid Tebboune im Dezember 2019 ausgerufen hat, sagte Nazim Baya laut Le Figaro:

„Ich denke bereits darüber nach, El Manchar El Djadid (Die neue Säge) auf den Markt zu bringen. Es wird wie im neuen Algerien sein, das heißt ähnlich dem alten, nur schlimmer.“

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